Rezension von: Löwenfeld, L[eopold] ›Die psychischen Zwangserscheinungen‹ 1904-203/1904
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    190 REFERATE. Journal f. Psychologie und Neurologie.

    REFERATE ÜBER BÜCHER UND AUFSÄTZE.

    Löwenfeld. Die psychischen Zwangs-
    erscheinungen.
    J. F. Bergmann, 1904.

    Das vorliegende Werk von Löwenfeld,
    das unter dem Titel „Die psychischen Zwangs-
    erscheinungen“ einen ansehnlichen Ausschnitt
    aus der Klinik und Symptomatologie der
    Neurosen behandelt, vereinigt von neuem
    alle die Vorzüge, durch welche die zu-
    sammenfassenden Darstellungen des Münche-
    ner Neuropathologen allen Fachgenossen
    wertvoll, ja unentbehrlich geworden sind.
    Die ganz außerordentliche Beherrschung der
    Literatur des Gegenstandes, der Reichtum
    an eigenen Beobachtungen, die Klarheit des
    Stils sollen aber den Leser nicht vergessen
    lassen, daß der Hauptwert des Buches nicht
    in diesen Eigenschaften des Kompilators,
    sondern in der unparteiisch besonnenen
    Kritik und in der durchaus selbständigen
    Auffassung des Autors gelegen ist. Als be-
    sonders dankenswert erscheint mir, daß
    Löwenfeld nicht seine Arbeitskraft an die
    Darstellung eines schon ungezählte Male
    behandelten Gegenstandes gewandt, sondern
    ein noch wenig erforschtes Gebiet ordnend
    und sichtend in Angriff genommen hat.

    Die Schwierigkeiten, die sich unter
    solchen Umständen dem Bearbeiter entgegen-
    stellen, sind von nicht gewöhnlicher Art.
    Alle Definitionen sind schwankend, über die
    Abgrenzungen ist Einigkeit noch nicht erzielt
    worden. Was Löwenfeld als „psychischen
    Zwang“ behandelt, geht weit über den Um-
    fang der sog. Zwangsvorstellungskrankheit
    hinaus und schließt noch die Phobien, einen
    Teil der Abulien und sämtliche neurotische
    Angstzustände, auch die Anfälle von „in-
    haltsloser“ Angst, mit ein. Für den Leser
    des Buches ergibt sich so ein unerwarteter
    Gewinn, für den Autor aber stellt sich die
    Unmöglichkeit her, über Mechanismus, Ätio-
    logie und Verlauf der „psychischen Zwangs-
    erscheinungen“ etwas allgemein Zutreffendes
    auszusagen, da die in ihrem Wesen dispa-
    raten Affektionen sich auch in all diesen
    Momenten weit von einander entfernen.

    Löwenfeld hält seine, nach des Ref.
    Meinung künstliche, Einheit durch die De-
    finition des psychischen Zwanges zusammen,
    als dessen Grundcharakter er die „Immobi-
    lität“, den Mangel der Verdrängbarkeit durch
    Willenseinflüsse betrachtet. Aber er aner-
    kennt auch — gewiß mit Recht — Zwangs-
    empfindungen und Zwangsaffekte, während
    wir gewohnt sind, von unserer normalen
    Willenstätigkeit nur die Verdrängung von
    Vorstellungen und Vorstellungskomplexen,
    nicht auch die Aufhebung von Empfindungen
    oder Gefühlen zu fordern. Wer an einem
    Angstanfall leidet, pflegt zu klagen, daß er
    sich so schlecht fühlt, nicht aber sich zu
    verwundern, daß er einen „Zwang“ nicht
    beseitigen kann. Bei konsequenter Anwen-
    dung seines Kriteriums hätte der Autor
    übrigens auch ein gutes Stück der hysteri-
    schen Symptomatologie mitbehandeln müssen,
    welchem der Charakter der Immobilität, der
    Unverdrängbarkeit durch Willenseinflüsse in
    ausgeprägtester Weise zukommt.

    Es war daher vielleicht nicht zweck-
    mäßig, den Begriff „Zwang“ in seinem logi-
    schen Sinne zur Abgrenzung zu benützen. Es
    ist aber schwierig, derzeit etwas Besseres an
    die Stelle zu setzen. In Wirklichkeit ist die
    innere Verschiedenheit der vom Autor zu-
    sammengefaßten Affektionen leichter zu
    ahnen und aus gewissen Anzeichen zu er-
    raten als klarzulegen. Die richtigen Unter-
    scheidungen dürften sich erst angeben lassen,
    wenn der psychologische Mechanismus der
    einzelnen Formen genauer bekannt ge-
    worden ist. Im Mittelpunkte aller auf die
    Auffassung der Zwangsphänomene bezüg-
    lichen Fragen steht das Problem der neuro-
    tischen Angst. Mit der Aufklärung, woher
    diese Angst stammt, und unter welchen Be-
    dingungen sie auftritt, wäre der Schüssel
    zum Verständnis der Psychoneurosen ge-
    wonnen. Ref. kann nur bedauern, daß der
    Autor auch diesmal der von ihm [Ref.] auf-
    gestellten Formel nicht beigetreten ist, welche
    aussagt, daß die neurotische Angst somati-
    scher Herkunft ist, aus dem Sexualleben
    stammt und einer verwandelten Libido ent-
    spricht. Die Richtigkeit oder wenigstens
    den heuristischen Wert dieser Aufstellung
    versuchte Ref. seinerzeit [1895] an dem Bei-
    spiel seiner „Angstneurose“ zu erweisen.
    Löwenfeld wendet gegen diese Ableitung
    der Angst ein, daß sich sexuelle Schädlich-
    keiten nicht in der Ätiologie aller Fälle von
    Angstneurose, sondern nur bei etwa 75%

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    nachweisen lassen. Ref. akzeptiert diese
    Zahl; er möchte sich aber gegen den nahe-
    liegenden Vorwurf verwahren, daß er einer
    Theorie zuliebe gegen die Beobachtung ver-
    blendet wurde. Ref. hat die Fälle von Angst-
    neurose ohne sexuelle Ätiologie bereits 1895
    gekannt und gewürdigt, denn er sagt aus-
    drücklich in dem erwähnten Aufsatz über
    die Angstneurose: „Die letzte der anzu-
    führenden ätiologischen Bedingungen scheint
    zunächst überhaupt nicht sexueller Natur zu
    sein. Die Angstneurose entsteht, und zwar
    bei beiden Geschlechtern, auch durch das
    Moment der Überarbeitung, erschöpfender
    Anstrengung z. B. nach Nachtwachen, Kranken-
    pflegen und selbst nach schweren Krank-
    heiten.“ Diese Stelle pflegen Kritiker im
    Interesse der Vereinfachung zu übersehen.

    Wenn die Theorie des Ref. trotzdem die
    neurotische Angst ganz allgemein [also auch
    in diesen Fällen] von der Libido ableitet,
    so scheint entweder eine Inkonsequenz des
    Ref. oder ein Mißverständnis seiner Kritiker
    unausweichlich. Es ist nicht schwer, das
    letztere aufzuzeigen. Ref. hat Ätiologie und
    Mechanismus begrifflich scharf geschieden,
    was seine Kritiker nicht tun. Er meint, bei
    der Angstneurose sei die Ätiologie des
    Krankheitsfalles nicht durchwegs eine sexu-
    elle Schädlichkeit, wohl aber betreffe der
    Mechanismus der Störung regelmäßig die
    Sexualität. Diese Unterscheidung läuft auf
    die gewiß nicht unwahrscheinliche Annahme
    hinaus, daß die organisch-sexuellen Vor-
    gänge ebensowohl durch Schädlichkeiten
    aus dem Sexualleben selbst wie auch durch
    tiefgreifende allgemeine Noxen eine Störung
    erfahren können, ähnlich wie z. B. die Vor-
    gänge der Verdauungstätigkeit einerseits von
    den Ingesten aus, andererseits durch allge-
    meine toxische Erkrankungen, Kachexien
    und Blutveränderungen krankhaft verändert
    werden können.

    Ref. kennt auch die von Löwenfeld
    gegen ihn angeführten Fälle von Angst-
    neurose mit erheblicher Steigerung anstatt
    einer Abnahme der Libido; er weiß aber,
    daß bei diesen nichts anderes als ein
    Oszillieren zwischen libidinöser und in Angst
    (teilweise) verwandelter Erregung vorliegt.

    Unter den Ursachen der Angstneurose
    hebt Löwenfeld ferner Schrecken und
    andere emotionelle Noxen hervor. Ref. muß
    nach seinen Untersuchungsergebnissen viel-
    mehr behaupten, daß diese sehr häufig vor
    kommenden Fälle durchwegs die Reaktionen
    der Hysterie ergeben, also dieser Neurose
    zuzurechnen sind.

    Es ist unmöglich im Rahmen eines Re-
    ferates auszuführen, welche Fülle von Mit-
    teilungen und Anregungen das Buch von
    Löwenfeld über die psychischen Zwangs-
    erscheinungen enthält. Wir dürfen hoffen,
    daß seine Veröffentlichung eine außer-
    ordentliche Steigerung des Interesses für
    diese merkwürdigen und praktisch bedeut-
    samen Erkrankungsformen zur Folge haben
    wird. Sigm. Freud (Wien).

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    JOURNAL

    FÜR

    PSYCHOLOGIE UND NEUROLOGIE

    BAND III

    ZUGLEICH
    ZEITSCHRIFT FÜR HYPNOTISMUS, BAND XIII

    HERAUSGEGEBEN VON

    AUGUST FOREL UND OSKAR VOGT

    REDIGIERT VON
    K. BRODMANN

    MIT 15 TAFELN

    LEIPZIG
    VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH
    1904