S.
122 Centralblatt für Kinderheilkunde. Nr. 6.
ob beim Zustandekommen derselben nicht beide Momente, die Carotis-
unterbindung und die Diphtherie, mitgespielt haben.
Lunin (Petersburg).Stephen Mackenzie. Report on Chorea (British Medical Journal.
26. Februar 1887, S. 425).Die Sammelforschung über Chorea, deren Ergebnisse hier vorliegt
begann im September 1882 und wurde im October 1885 abgeschlossen.
Es kamen Berichte über 439 Fälle der Erkrankung zusammen, alle in
den vereinigten Königreichen beobachtet. Die Punkte, auf welche in
den Fragebogen des Comités Rücksicht genommen war, sind folgende:
1. Geschlecht, 2. Alter, 3. Stand, 4. Ernährungszustand, 5. Körper-
kunft, 6. Geistes- und Haarfarbe, 7. frühere Geistesnzustand, 8. Ent-
wickelung, 9. Geschlechtsfunction (bei den weiblichen Kranken), 10. Art
der Nahrung, 11. Anzahl der Anfälle, 12. vorhergehende Krankheiten,
13. Anlässe und Krankheitspausen, 14. Charakter der Anfälle, 15. Zu-
stand des Herzens vor, während und nach dem Anfalle, 16. Rheu-
matismus während und nach dem Anfalle, 17. andere Complicationen,
18. Allgemeinbeschwerden, 19. Familiengeschichte, 20. Behandlung,
21. Folgekrankheiten, 22. Wohnort, 23. Name des Beobachters.
1. Geschlecht: Das beobachtete Verhältniss: 1 männlicher auf
2'8 weibliche Kranke, entspricht durchaus der alltäglichen Erfahrung.
2. Alter: Die Vertheilung der Chorea auf die einzelnen Alters-
stufen ergibt sich am besten aus folgender, nach Hemidekaden mit-
getheilter Tabelle:
Erste Hemidekade (unter 5 Jahren) 6 Fälle oder 1'36 Procent.
Zweite (5–10 ) 149 33'96 " Dritte (11–15 ) 191 43'50 " Vierte (16–20 ) 71 16'18 " Fünfte (21–25 ) 10 2'29 " Sechste (26–30 ) 2 0'45 " Siebente (31–35 ) 1 0'23 " Achte (36–40 ) 1 0'23 " Darüber (über 40 ) 6 1'36 " Die grösste Anzahl der Erkrankungen an Chorea fällt also in die
Jahre zwischen 6 und 15.
Die Beobachtungen von Chorea in vorgerücktem Alter werden
einzeln mitgetheilt.
3. Stand: 70'46 Procent fallen den niedrigen Gesellschaftsclassen
zu, 26'74 der Mittelclasse und 2'79 den oberen.
7. Vorheriger Geisteszustand: Insofern die Beobachter
unter diesem Fragepunkt die Intelligenz des Kranken verstanden, ergab
sich: Normale Intelligenz in 67'88 Procent, ungewöhnlich gute in 13'21
Procent und verringerte nur in 6'48 Procent der Fälle.
8. Entwickelung. Sie war eine rasche in 36'21 Procent, eine
langsame in 11'16 Procent und eine mittlere in 43'38 Procent.
9. Geschlechtsfunction bei den weiblichen Kranken. Bei
einem guten Theil der Kranken war die Menstruation noch nicht auf-
getreten. Sieben der erkrankten Frauen befanden sich in der
Schwangerschaft, eine war säugend.S.
Nr. 6. Centralblatt für Kinderheilkunde. 123
11. Anzahl der Anfälle. In 69 Procent war es der erste Anfall
der Krankheit, der zur Beobachtung kam, bei 80 Kranken war es der
zweite, bei 18 der dritte Anfall. In 13 Fällen sollen die Kranken zu
wiederholtenmalen an Chorea gelitten haben.
12. Vorhergehende Krankheiten. Die häufiger erwähnten
Krankheiten sind in folgender Tabelle zusammengestellt.
Summe männlich weiblich Rheumatismus mit deutlicher Gelenks- affection und Fieber . . . . . . . . . . . . 116 32 84 Unbestimmte rheumatische Schmerzen 62 15 47 Chronischer Rheumatismus . . . . . . . . . 1 – 1 Scharlach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 32 97 Masern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 30 86 Scharlach und Masern . . . . . . . . . . . . 34 9 25 Keuchhusten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 8 35 Darmkatarrh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2 12 Varicellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1 7 Anämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 26 66 Ikterus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1 1 Asthma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2 2 Pneumonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2 3 Keine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 11 27 Acute oder subacute Anfälle von Rheumatismus waren der Chorea
also in 26 Procent der Fälle vorhergegangen. Von den unzweifelhaft
rheumatischen Fällen würden jene streng geschieden, welche nur vage
Schmerzen aufweisen. Rechnet man diese Fälle zu den ersteren hinzu,
so ergibt sich ein Procentz von 32 für die Folge der Chorea nach
Rheumatismus. In 26 Fällen (9 männlich, 17 weiblich) war ausserdem
Rheumatismus während und nach der Chorea vorhanden. In 50 Pro-
cent der Fälle mit vorhergehendem Rheumatismus war deut-
liche Herzaffection vorhanden.
Bemerkenswerth ist das häufige Vorkommen von Scharlach in der
obenstehenden Tabelle (29 Procent). Doch war Scharlach blos in 27
von den 129 Fällen allein angeführt, in den anderen Fällen ist
Scharlach mit anderen infectiösen Krankheiten gleichzeitig angegeben.
In 10 Fällen von den 27 sind auch eine deutliche Herzaffection. Es
scheint ausserdem, dass das Vorhergehen von Scharlach für das Auf-
treten einer Herzaffection während des Choreanfalles prädisponirte.
In 9 Fällen waren Masern als einzige vorhergehende Erkrankung
angegeben und in allen diesen Fällen war eine Herzaffection während
des Choreanfalles vorhanden, während das Herz vor dem Chorea-
anfalle sich normal verhalten hatte.
13. Anlässe der Erkrankung und Latenzzeit derselben:
In 222 Fällen oder in 50 Procent der Beobachtungen sind direct oder
indirect nervöse Ursachen für den Ausbruch der Chorea angegeben.
Als solche sind aufzuführen:
Summe männlich weiblich Schreck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 24 74 Geistige Ueberanstrengung . . . . . . . . 71 15 56 Schock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3 14 S.
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Summe männlich weiblich Nachahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3 10 Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 – 4 Aufregung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 – 2 Gemüthsbewegung . . . . . . . . . . . . . . 1 – 1 Enttäuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 – 1 Traumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 3 2 Sonnenstich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 – Würmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2 7 Für die Latenzzeit zwischen dem Schreck und dem Ausbruch der
Chorea finden sich folgende Angaben:
Soforter Ausbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . in 6 Fällen.
Innerhalb einer Woche . . . . . . . . . . . . . . . . „ 44 „
Zwischen 1 und 2 Wochen . . . . . . . . . . . . . „ 8 „
Zwei Wochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „ 8 „
Längere Zeiträume bis zu einem Jahre . . . . „ 22 „
Die Beziehung geistiger Ueberanstrengung zum Ausbruch der
Chorea wird in folgender kleiner Tabelle dargestellt:
Summe 6–10 J. 11–15 J. 16–21 J. Männlich . . . . . . . . 15 6 7 2 Weiblich . . . . . . . . . 56 21 29 6 71 27 36 8 14. Charakter der Anfälle: Die choreatischen Bewegungen
waren bei 30 Kranken (8 männlichen, 22 weiblichen) vorwiegend
oder ausschliesslich auf eine Körperseite beschränkt, in zwei Fällen
betrafen sie blos das Gesicht.
Die Dauer der Anfälle ist in folgender Tabelle zusammengestellt:
1 2 3 4 bis 2 bis 3 bis 4 bis 6 über 6 Woche Woch. Woch. Woch. Monate Monate Monate Monate Monate Männlich. . . . 1 2 6 11 36 23 9 6 8 Weiblich. . . . 3 11 16 21 97 69 35 26 15 4 13 22 32 133 95 44 32 23 Neun von den beobachteten Fällen (2 Procent) gingen mit Tod aus:
1. Frau von 78 Jahren mit chronischem Rheumatismus behaftet,
schwere fieberhafte Chorea von vierzigtägiger Dauer.
2. 81/2jähriges Mädchen, zweiter Anfall, Mitralinsufficienz.
3. 24jähriges Frau im siebenten Monate der Schwangerschaft:
Herz normal, zweiter Anfall der Chorea von 51/2monatlicher Dauer,
Tod zwei Tage nach der Entbindung.
4. 31/2jähriger Knabe, Chorea nach Masern, Tod an Endokarditis.
5. 6jähriges Mädchen, erster Anfall in Folge von Schreck,
Sonnenblindismus.
6. 7jähriges Mädchen, erster Anfall nach Schreck, Herzsymptome.
7. 17jähriges Mädchen, zweiter Anfall, beim ersten Rheumatismus
und Perikarditis. Beim zweiten Anfall Fieber, Gelenkserkrankung,
Tod an Lungenaffection. Bei der Section Gehirn normal, Herzbeutel
mit dem Herzen verwachsen, Endokarditis.S.
Nr. 6. Centralblatt für Kinderheilkunde. 125
8. 7jähriger Knabe, erster Fall, acuter Gelenkrheumatismus,
Perikarditis, systolisches Herzgeräusch, Tod an Embolie.
9. 9jähriger Knabe, zweiter Anfall, acuter Rheumatismus, Tod an
Anasarca.
Temperatursteigerung ist nur in 12 Procent der Fälle berichtet.
15. Zustand des Herzens vor, während und nach dem
Anfall: Deutliche Herzaffection findet sich in 141 Fällen oder in
32 Procent. Ausserdem sind in 73 Fällen oder in 16 Procent Functionsstö-
rungen und Symptome, welche wahrscheinlich nicht auf eine
organische Herzaffection zu beziehen sind, angegeben. Mitralaffection
war ungleich häufiger als Aortenaffection — 116 Fälle gegen 6. Mit
Bezug auf die Wiederholung der Anfälle vertheilten sich die deutlich
erkennbaren Herzaffectionen folgendermassen: Beim ersten Anfall: 95,
beim zweiten 27, beim dritten 5, und so weiter. 80 Procent der zum
erstenmal an Chorea Erkrankten zeigten deutliche Herzaffection.
Ausser diesen Fällen, bei welchen eine deutlichere, wenn auch
nicht nothwendig organische Herzaffection vorlag, sind in 73 Fällen
andere Abweichungen der Herzthätigkeit von der Norm verzeichnet,
und zwar: Unregelmässigkeit, Beschleunigung, Reizbarkeit der Herz-
affection, Palpitationen, Schwäche, verlängerter erster Ton, schwacher
erster Ton, Spaltung des ersten Tones und Blutgeräusche.
Zusammentreffen von Herzaffection mit Rheumatismus.
Von den 141 Fällen mit deutlicher Herzaffection waren 71
(50 Procent) mit acutem oder subacutem Rheumatismus, und 18 (12 Pro-
cent) mit Schmerzen vergesellschaftet.
16. Vorkommen von Rheumatismus während oder un-
mittelbar nach dem Choreanfall: Von den 439 beobachteten
Choreakranken, litten 245 während oder unmittelbar nach dem An-
fall an Rheumatismus (an acutem 15, an subacutem 40); ausserdem
11 Kranke an Schmerzen, welche als rheumatische aufzufassen sind.
Von den erwähnten 56 Kranken hatten 29 vorher an deutlichem
Rheumatismus, 10 an Schmerzen gelitten, was zu Gunsten der Zu-
sammenfassung dieser Schmerzen mit dem (acuten und subacutem)
Rheumatismus spricht. In 7 Fällen fanden sich bei den Chorea-
kranken rheumatische Knoten.
17. Andere Complicationen. Unter den verschiedenartigen hier
angeführten Leiden und Erkrankungen heben wir hervor: Pneumonie
(zweimal), unvollständige Lähmung eines Armes (einmal), Convulsionen
während des Anfalls (zweimal), Urticaria (fand sich in vier Fällen,
Erythema nodosum in einem, Erythema multiforme in einem; beide
letztere Kranke hatten vorher an Rheumatismus gelitten.
18. Allgemeinbeschwerden: Etwa 26 Procent der von Chorea
Befallenen litten an habituell verschiedenartigen nervösen Beschwerden,
unter welchen Kopfschmerz (18 Procent der Fälle) den ersten
Rang einnimmt. Besonders häufig war Kopfschmerz bei jenen Chorea-
kranken, in deren Aetiologie geistige Ueberanstrengung bemerkt war.
19. Familiengeschichte: Hier war hauptsächlich auf zwei
Punkte Gewicht gelegt: das Vorkommen von Nervenleiden und von
Rheumatismus in der Familie der Erkrankten. Nervenerkrankungen
irgend welcher Art waren berichtet bei 46 Procent der Gesammtzahl.S.
126 Centralblatt für Kinderheilkunde. Nr. 6.
Dieselben vertheilten sich auf die verschiedenen Familienmitglieder
in folgender Weise:
Summe männlich weiblich Grosseltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 12 18 Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 29 93 Onkeln und Tanten . . . . . . . . . . . . . 34 7 27 Geschwister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 19 46 Geschwisterkinder . . . . . . . . . . . . . . 7 2 5 Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 – Was die Natur der nervösen Erkrankung betrifft, so ist zuerst
hervorzuheben, dass Chorea selbst in 63 Familien oder in 14 Procent
beobachtet wurde. Die an Chorea leidenden Familienmitglieder waren
in 9 Familien die Eltern, in 37 die Geschwister (darunter in 8 Familien
mehrere Geschwister), in 17 Familien andere Verwandte. Ausserdem
in 17 Familien (4 Procent) Wahnsinn (mit Einschluss von Blödsinn
und Idiotie); in 35 Familien (8 Procent) Epilepsie und Convulsionen,
in 33 Familien (7'5 Procent) Hysterie; Trunksucht bei den Eltern in
11 Familien; Nervosität und Aufgeregtheit in 54 Familien; Kopf-
schmerz und Migräne in 6 Familien; Asthma in 4, Somnambulismus
in 2, Tuberculöse Meningitis, Somnalismus beim Vater, Diabetes, M.
Basedowii, Ischias in je einer Familie.
Rheumatismus in der Familie des Kranken fand sich:
Bei männlichen Kranken in 69 Fällen oder 60 Procent,
„ weiblichen . . . . . . . . . . . . „ 129 „ „ 40 „
Im Ganzen in 45 Procent der Gesammtzahl.
Auch hier waren es am häufigsten die Eltern der Kranken, bei
denen Rheumatismus nachweisbar war; in 10 Fällen litten mehrere
Mitglieder derselben Familie an Rheumatismus. In den Fällen der
Beobachtung, bei welchen der Choreanfall eine Beziehung zu einer
rheumatischen Erkrankung bot, liess sich häufiger als in den anderen
eine Familiendisposition für Rheumatismus erkennen. Die Häufigkeit
der Herzaffection bei Choreakranken dagegen schien nicht mit einer
familiären rheumatischen Disposition zusammen zu stimmen.
20. Behandlung. In einigen Fällen wurde nichts Anderes als
„full diet“ (reichliche Ernährung) angewendet. Die Dauer solcher Fälle
betrug 10 Wochen, was die durchschnittliche Dauer eines Chorea-
anfalls überhaupt ist. Was die medicamentöse Behandlung betrifft, so
scheint kein einziges Mittel eine verlässliche specifische Wirkung zu
besitzen. Arsen und Eisen wurden am häufigsten angewendet, ersteres
mitunter mit augenfälliger, andereemale ohne merkliche Wirkung.
Eisen war nur in wenigen Fällen das einzig verabreichte Medicament.
Bemerkenswerth ist der in vielen Fällen unverkennbare günstige Ein-
fluss der Salicylpräparate auf den Choreanfall. Das hier gekürzt
wiedergegebene Bericht ist in allen Einzelheiten interessant.
Freud (Wien).Wollner (Fürth). Ein Fall von Chorea minor mit Antipyrin behandelt
(Münch. med. W. 1887, Nr. 5, S. 80).
Sechszehnjähriges Mädchen, Gelenkrheumatismus, starke Chorea, Bromkali,
Propylamin ohne Erfolg gegeben, Natr. salicyl. ausgebrochen. Am siebenten
Krankheitstage Antipyrin drei Pulver täglich zu einem Gramm. Sofort trat der bisher
schlechte Schlaf ein, nach fünf Tagen vollkommene Heilung (vgl. G. Eich,
Die antirheumatische Wirkung des Antipyrins, Inang. Diss. 1887).
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