Rezension von: Moebius, G. J. ›Die Migräne‹ 1895-204/1895
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    Kritische Besprechungen und literarische Anzeigen.

    Die Migräne. Von G. J. Moebius. (Aus dem XII. Band der
    Speciellen Pathologie und Therapie. Herausgegeben von
    H. Nothnagel. Verlag von Alfred Hölder. Wien 1894.)

    Die Reihe der neurologischen Beiträge, die zu dem im Erscheinen
    begriffenen grossen Handbuch der inneren Medicin von Noth-
    nagel hat Herr Moebius mit einem 7 Bogen starken Büchlein
    über die Migräne eröffnet, welches weit über den Kreis der Neuro-
    logen hinaus Interesse erwecken und Anerkennung finden dürfte.
    Die Arbeiten des Herrn Moebius gehören zu jenen, die gleich-
    zeitig ein Bild von der Persönlichkeit des Autors geben, und die
    von dieser Persönlichkeit in der Vorstellung des Lesers nicht zu
    trennen sind. So bezeugt auch die vorliegende Schrift alle die
    Eigenschaften, die man von Herrn Moebius schätzen gelernt hat,
    den Muth in der Beobachtung seinen eigenen Augen zu trauen,
    die kritische Lust einen Schein zu zerstören, die Folgerichtigkeit
    des Denkens, der es im Streit nicht vermeidet, auf die letzten Gründe
    des Erkennens und des Zweifelns zurückzugehen. Zu dieser Cha-
    rakteristik füge man noch hinzu, dass die Darstellung unseres Autors
    alle Lücken und Widersprüche eines Wissensgebietes mit unerbit-
    tlicher Aufrichtigkeit klarlegt, sowie, dass er sorgfältig darauf achtet,
    ob auch bei der Auffassung der Krankheitssymptome und bei der
    Werthschätzung der Therapie dem neu in der Medicin zur Geltung
    gelangten psychischen Factor sein Recht widerfährt.
    Dieses Büchlein ist nicht blos instructiv, es ist auch fesselnd
    vom Anfang bis zum Ende. Es ist in einem correcten und vor-
    nehmen Styl geschrieben, während doch so viele medicinische
    Autoren vergessen, dass Fachbildung nicht von allgemeiner Bildung
    dispensirt und nicht die Anforderungen aufhebt, welche eine Nation
    an die in ihrer Sprache schriftstellernden Personen stellen darf.
    Es bringt kritische Sätze und Gedanken von weittragender Bedeutung
    oft in der glücklichsten und eindrucksvollsten Einkleidung. Ich führe
    einige Sätze an, in denen Moebius sein Urtheil über die «vaso-
    motorische Theorie» der Migräne niederlegt (p. 105). «Ich bin der
    Ueberzeugung, dass die vasomotorische Theorie todt sei, dass sie
    nur vermöge der **vis inertiae** noch gelehrt werde, und mir fehlt
    daher der Muth, ausführlich auf die Bestreitung des nicht mehr
    Lebendigen einzugehen. Nur kurz seien die wichtigsten Punkte her-
    vorgehoben. Allüberall, im physiologischen wie im Pathologischen
    sind die Vorgänge in den Parenchymzellen das primäre, die Aende-

    rungen der örtlichen Circulation sind Folgeerscheinungen; das
    Parenchym ist der Herr, die Circulation der Diener.»
    Es wäre verlockend, dem reichen Inhalt dieses Buches im
    Einzelnen nachzugehen, allein ich lehne es ab, denn ich möchte
    hier weder eine blosse Inhaltsangabe, noch eine Sammlung kleiner
    Ausstellungen bringen. Dafür sei es mir gestattet, zwei Punkte,
    gleichsam in Ergänzung der Ausführungen **Moebius'** einzulegen,
    zu behandeln, von denen ich meine, sie müssten in einer nächsten
    Darstellung der Migräne einen breiteren Raum einnehmen. Zunächst möchte ich die Aufmerksamkeit auf die «hemikranischen
    Aequivalente» lenken, Zustände von Anfällen, die sich aus
    anderen Symptomen zusammensetzen als der Migräne, die aber
    nach allen Verhältnissen von Auftreten und Verlauf, und besonders
    wegen ihrer Vertretbarkeit durch Migräne, mit letzterer identisch
    werden müssen. Es ist klar, dass dieser Migräne-Aequivalenten ein
    hohes diagnostisches und theoretisches Interesse innewohnt. **Moebius**
    versäumt es auch nicht, dieselben zu erwähnen und klagt, dass
    man noch recht wenig über sie wisse.
    Ich kenne aus eigener Erfahrung, die gewiss jeder Leser
    bestätigen kann, drei Formen der Migräne-Aequivalente, die Magen-,
    Rücken- und Herzmigräne. Die Magenmigräne ist eine allbekannte,
    rudimentäre Kopfmigräne, von der allein die Magenerscheinungen
    übrig geblieben sind. Ich erinnere mich an die Patientin, bei der
    ich sie zuerst diagnostizirte, eine junge Dame, deren Magenleiden
    von ihrem Arzt noch heute nicht als Migräne anerkannt ist. Das
    Magenleiden besteht in Anfällen von Unwohlsein, die in wiederholte
    Erbrechen ausziehen, und die bis 24 Stunden anhalten, die kurze
    Zeit nach der Pubertät aufgetreten sind, zuerst seltener, jetzt
    häufiger vorkommen und die Pausen von mehreren Wochen an
    lassen pflegen. Ein leiser Stirndruck und ausgesprochene Empfind-
    lichkeit gegen Licht und Schall, die während des Anfalles bestehen,
    ermöglichen die **Agnoscirung** dieses «nervösen Magenleidens» als
    Migräne.
    Wie man sieht ist die Magenmigräne nichts, was das Bild
    der Migräne um einen **Zufuss** bereichern würde. Dies ist aber der
    Fall bei der «Rückenmigräne», die ich bemerkenswerther Weise
    bei der Schwester der vorher erwähnten Kranken zuerst kennen
    gelernt habe. Diese Dame hatte durch ihre ganze Jugend bis zu
    einer bestimmten Epoche an gemeinen nicht allzu schweren Migränen
    gelitten. Reine **Aequivalente** traten als sich bei ihr eine an **Neurosen-**
    **genese** entwickelte (Hystero-Neurasthenie). Von da
    an litt sie an Anfällen von Rückenschmerzen, die in der Wirbelsäule
    lebten und anfangs den Leib umgriffen. Der Rücken zeigte (auch
    interanfällig) eine hysterische Anästhesie. Die Deutung als Migräne
    stammt von der Kranken selbst, welche die Schmerzen für wie
    doch als absolut identisch erklärte, die sie hatte, sagte sie, Migräne
    im Rücken; es gab bei ihr zeitweilig eine, die sich mit **Moebius**
    flosse: als **Aequivalent** deutete, diese Rückenschmerzen auf or-
    ganische Erkrankung lernte, ich in vieljähriger Beobachtung aus-
    schliessen. Mit der Besserung der Neurose traten die Kopfmigränen
    wieder auf in den letzten zwei Jahren hat die Dame bei leidlicher
    Gesundheit die Abwechslung zwischen ihren alten und ihren modi-
    fizirten Migräneanfällen, die übrigens beide nur vereinzelt kommen.
    Die Rückenmigräne kommt bei ihr auf dieselben Anlässe wie die
    anderen, dauernd über der Regel, etwa 2 Tage. Unter den Anlässen
    ist nur der **Coitus interruptus**, der auch bei der Entstehung der
    Neurose seine Rolle gespielt, unzweifelhaft. Magen-Symptome waren
    in diesem Fall kaum anzudeuten. Ich habe die Rückenmigräne seit-
    her wiederholt angetroffen. Zuletzt bei einem Mädchen, das durch
    nicht während einer Misur von sonstigen Zwangsvorstellungen geheilt
    wurde. Diese Kranke hatte lange Zeit an gemeinen Migränen ge-
    litten, zu deren Bild sowohl Uebelkeiten als Schmerzen im Genick und
    Schultern gehören. Während einer durch Zwangsvorstellungen her-
    vorgebrochenen Verschlimmerung ihres Zustandes klagte sie in ihren
    Migräneanfällen über die heftigen Schmerzen längs des ganzen
    Rückens, neben welchen die Kopfschmerzen in den Hintergrund
    traten. Im Verlauf der **Misur** sah ich an ihr einen Anfall, an
    dem sich Kopf- und Rückenschmerzen in gleicher Weise betheiligten
    und zwei weitere Anfälle, in Pausen von je 4 Wochen, die
    wiederum reine Kopfmigräne waren. Wie man sieht, hatte in diesem
    Falle die Rückenmigräne sich überhaupt nicht völlig von der «Kopf-

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    migräne» abgelöst. Auch hier entsprach übrigens wie im vorer-
    wähnten Falle die Rückenmigräne einer Zeit von Verschlimmerung
    und trat mit der Besserung des Allgemeinzustandes zurück. In
    beiden Fällen war ferner eine sehr gut kenntliche Spinalneurasthenie
    vorhanden, welche durch die Behandlung nahezu behoben wurde.
    Die dritte Form des Migräneäquivalents, die Herzmigräne,
    kenne ich nur in wenigen Beispielen; ich meine aber, sie müsse
    anderen häufiger untergekommen sein. Als typisches Vorbild be-
    schreibe ich den Fall eines etwa 50jährigen Collegen, der in seiner
    Jugend an gemeiner Migräne gelitten hat. Dieser Arzt, der nach
    seinen Leistungen zu urtheilen über ein sufficientes Herz verfügte,
    wird in Pausen und auf Anlässe hin, wie sie der Migräne ent-
    sprechen, von Arrhythmie mit leicht peinlicher Beklemmung befallen,
    die 3–6 Stunden anhält und von leisem Druck in beiden Schläfen
    begleitet ist. Die Anlässe sind eine gestörte Nachtruhe, ein Aerger
    oder schwere Sorge im Beruf; die Häufigkeit der Anfälle variirt
    zwischen zweimal in der Woche und einmal in 3 Wochen. Ich halte
    diese Anfälle für hemikranische Aequivalente, will aber gerne zu-
    geben, dass in der Reihe von solchen Anfällen bis zur gemeinen
    Hemikranie noch Zwischenglieder mangeln. Im Uebrigen meine ich
    nicht, dass mit diesen Zusätzen zur gemeinen und zur Augenmigräne
    die Mannigfaltigkeit der Migräneformen erschöpft ist.
    Des Weiteren möchte ich eine Beziehung der Migräne her-
    vorheben, gegen die sich auch **Moebius** nicht ablehnend verhält,
    die Beziehung dieses Zustandes zur **Nase**. Ich habe absichtlich
    nicht zu den Krankheiten der Nase – ich habe zwei, zu-
    nächst nun subjectiv wirksame Gründe, mich hierfür einzusetzen:
    erstens, die am eigenen Leib gemachte Erfahrung, dass häufige und
    schwere Migräne durch Behandlung hypertrophischer Schwellkörper
    in seltene und leichte verwandelt werden können, und zweitens, die
    genaue Bekanntschaft mit den Arbeiten und überraschenden Heil-
    erfolgen eines den Lesern dieses Blattes wohlbekannten Forschers,
    Des Dr. W. Fliess in Berlin. Nach Fliess, der vor seinem Vor-
    gänger Hack das Cocain als diagnostisches Hilfsmittel, die kühne
    Technik der modernen Therapie und Gesichtspunkte von allgemeiner
    Bedeutung voraus hat, wäre der Nase eine Rolle in der Pathogenese
    der Kopfschmerzen überhaupt sowie der Migräne nicht nur aus-
    nahmsweise, sondern eher als Regel zuzugestehen. Lässt sich dies
    bestätigen, so werden wir die Beziehung der «symptomatischen
    Migräneanfälle» zur «Krankheit Migräne» (p. 69) wohl besser ver-
    stehen können als heute. Auch würde es dann leichter fallen, die
    Einwände gegen die nicht ansprechende Definition der Migräne bei
    Moebius zu formuliren, der in diesem so überaus häufigen und
    leicht erwerbbaren Leiden eine «Form der ererbten Entartung»
    sieht.
    Sigm. Freud.