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248 Centralblatt für Kinderheilkunde. Nr. 12.
L. Unger. Ueber multiple inselformige Sklerose des Centralnervensystems
im Kindesalter (Wien, Toeplitz & Deuticke, 1887, 2.50 Mark).
Verf. hat Gelegenheit gehabt, eine Erkrankung bei einem 6jährigen
Knaben zu beobachten, die er als multiple cerebrospinale Sklerose
diagnostierte, und hat die Mittheilung dieses Falles zum Anlass ge-
nommen, die in der Literatur niedergelegten Beobachtungen desselben
Zustandes zu sammeln und kritisch zu besprechen, um so ein Gesammt-
bild der Erkrankung im Kindesalter zu entwerfen. Diese Dankeswerthe
Bemühung hat allerdings gezeigt, dass der multiplen Sklerose im
Kindesalter keine besonderen Charakterzüge zukommen, welche etwa
ein Licht auf die Natur der Erkrankung überhaupt werfen könnten.
Im Gegentheile, die Neuropathologen befinden sich der multiplen Sklerose
der Kinder gegenüber in ungünstigerer Lage als bei derselben Erkrankung
der Erwachsenen, da unter den 19 Kinderfällen, die U. zusammenstellt,
nur einer mit Sectionsbefund enthalten ist. Die Beziehung des klinischen
Bildes zum pathologischen Befund ist aber gerade bei der multiplen
Herdsklerose eine unsichere. Ich citire hier den witzigen Ausspruch
eines grossen Wiener Neuropathologen, „dass die multiple Sklerose
eine Krankheit ist, von welcher die Kranken durch den Tod in mehr
als einem Sinne befreit werden.“ Es ist gar nicht so selten vorgekommen,
dass den classischsten von Charcot mit solcher Meisterschaft gezeich-
neten Krankheitsbildern gar kein anatomischer Befund (Westphal) oder
ein anderer als der von multiplen sklerotischen Herden entsprach.
Die eigene Beobachtung U.'s bezieht sich auf ein 6jähriges Kind,
welches von beiden Erzeugern der Neuropathisch belastet ist. Die Er-
krankung begann im dritten Lebensjahre ohne bekannte Veranlassung
mit Allgemeinübelbefinden, Kopfschmerz und Schwindel, kurze Zeit
darauf tritt schwankender Gang auf, dabei unmotivierte psychische Ver-
stimmung. Im fünften Lebensjahre wird Tremor bemerkt. Zur Zeit der
Untersuchung conjugirter horizontaler Nystagmus der Augen, deutlich
stockende Sprache, Intentionstremor der Arme, Kopfzittern bei allen
Aufrichten aus horizontaler Lage, Rigidität der Muskeln an den unterenS.
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Extremitäten, ausgesprochen spastischer Gang, Reflexsteigerung an
Armen und Beinen, Intactheit der Sensibilität, der Blase und des
Mastdarms.
Aus der Analyse der einzelnen Symptome, welche der Verf. auf
Grund von 19 Krankengeschichten gibt, heben wir hervor, dass der
eigenthümliche Tremor nur in einem dieser Fälle vermisst wurde.
U. ist geneigt, ihn von einer Läsion des Pyramidenbündels im Gebiet
des Stielkranzes abhängig zu machen. Psychische Störungen wurden
in etwa der Hälfte der Fälle angetroffen, bestanden in unmotivierter
Stimmungswechsel, unmüssigem Lachen oder Weinen oder in Intelligenz-
stumpfheit. Apoplektiforme Anfälle werden in einem Drittel der Fälle
berichtet. In drei Fällen (Barthez und Sanné, Charcot-Marie,
Wilson) ist Ausgang der Erkrankung in Heilung oder erhebliche
Besserung beobachtet worden. Freud (Wien).
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