[Schlußwort] 1910-061/1910.2
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    Uber den Selbstmord. 59

    wieder herzustellen, Natürlich kann nicht darin, dass er seiner Autorität
    etwas vergibt und von berechtigtem Tadel etwas zurticknimmt, das
    Heilmittel liegen, sondern nur darin, dass er persönliche Anteilnahme
    am Schicksal des Schülers durchblicken lässt.

    Der Lehrer, der sich gewöhnt, seine Schüler aufmerksam zu
    beobachten, wird auch den Typus bald herausfinden, der nach Dr. Adler
    besonders gefährdet ist. Unbeholfenheit, Schüchternheit, leichtes Errôten
    sind die Merkmale, die zuerst bei ihnen auffallen, Die scheinbar wider-
    spruchsvolle Verbindung stark betonter Indolenz und Gleichgültigkeit
    mit tibergrosser Empfindlichkeit ist ein besonders charakteristischer Zug.
    Hier wird eine eingehende, nicht auf die Lernerfolge beschränkte, sondern
    den Charakter berücksichtigende Besprechung mit den Eltern oft sehr
    viel Gutes stiften können ; sie ist schon deshalb notwendig, weil solche
    Schüler oft zu Hause ein ganz anderes Bild bieten als in der Schule.
    So könnte psychologisch geschulter Blick des berufsmübigen Erziehers
    auch die häusliche Behandlung günstig beeinflussen,

    Ich bin mir bewusst, dass dieser bescheidene Versuch, Erkenntnisse,
    die mit Hilfe der Psychoanalyse gewonnen wurden, pädagogisch zu
    verwerten, diejenigen nicht befriedigen wird, die wollen, dass die Rede
    der Wissenschaft ja, ja, nein, nein sei, Denn eine Universalprophylaxe
    gegen Schülerselbstmorde gibt es nicht. Wer aber eingesehen hat, dass
    der Vereinfachung unserer Erkenntnisse ihre Vertiefung vorhergehen
    muss, der wird, glaube ich — nicht aus meinen Ausführungen, aber
    aus dem Verlauf der ganzen Diskussion — den Eindruck gewinnen,
    dass von der psychoanalytischen Forschung aus manche belebende Welle
    in den oft ach so trägen Strom unserer wissenschaftlichen Pädagogik
    dringen kann. Gegenüber der Gefahr der Veräusserlichung und
    Mechanisierung, die die experimentelle Methode — an ihrem Orte von
    unbestrittenem Verdienst — mit sich bringt, finden wir hier ein Gegen-
    gewicht: die Möglichkeit, ja den Zwang zu immer weiterer Vertiefung.

    IX.

    Prof. Freud:

    Meine Herren, ich habe den Eindruck, dass wir trotz all des
    wertvollen Materials, das hier vorgebracht wurde, zu einer Entscheidung
    über das uns interessierende Problem nicht gelangt sind. Wir wollten
    vor allem wissen, wie es moglich wird, den so ausserordentlich starken
    Lebenstrieb zu überwinden, ob dies nur mit Hilfe der enttüuschten
    Libido gelingen kann, oder ob es einen Verzicht des Ichs auf seine
    Behauptung aus eigenen Ichmotiven gibt. Die Beantwortung dieser

  • S.

    60 „Wiener psychoanalytische Diskussionen“. Uber den Selbstmord,

    psychologischen Frage konnte uns vielleicht darum nicht gelingen, weil
    wir keinen guten Zugang zu ihr haben. Ich meine, man kann hier
    nur von dem klinisch bekannten Zustand der Melancholie und von deren
    Vergleich mit dem Affekt der Trauer ausgehen. Nun sind uns aber
    die Affektvorginge bei der Melancholie, die Schicksale der Libido in
    diesem Zustande, völlig unbekannt, und auch der Daueraffekt des
    'Trauerns ist psychoanalytisch noch nicht verständlich gemacht worden.

    Verzógern wir also unser Urteil, bis die Erfahrung diese Aufgabe
    gelöst hat.

  • S.

    Diskussionen

    Wiener psychoanalytischen Vereins.

    Herausgegeben
    von der Vereinsleitung.

    EV I. Heft - — ‏ב‎

    Über den Selbstmord

    insbesondere den

    Schüler-Selbstmord.

    Beiträge von:
    h ら

    Dr, Alfred Adler, Professor S, Freud, Dr. J. К. Friedjung, Dr. Karl Molitor,
    Dr, В. Reitler, Dr. J. Sadger, Dr. W. Stekel, Unus multorum.

    Wiesbaden.
    Verlag von J. F. Bergmann.

    1910.