Sigmund Freud an Wilhelm Fliess: Zwei Briefe und zwei Gegenbriefe 1906-072/1906

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  • S.

    Freunde. Weiningers Buch hat, wie wir gleich hören
    werden, vor seiner Veröffentlichung Freud vorgelegen.
    Damals wäre es an der Zeit gewesen, sowohl Weininger als
    Fliess zu warnen; aber erst ein volles Jahr nach seinem Er-
    scheinen ist Fliess darauf aufmerksam gemacht worden, frei-
    lich nicht durch Freud. Zunächst hatte er noch kein Arg:
    als er aber, anlässlich einer Reise nach Wien, sich über den
    Sachverhalt orientiert hatte, wandte er sich in folgendem Briefe
    an Freud, der sich damals ausserhalb Wiens befand, um Aus-
    kunft. (Nur dem Umstande, dass er wegen starker Durch-
    streichungen die erste Niederschrift zurückbehielt, verdanke ich
    die Möglichkeit der Reproduktion::
     

    Wien, 20, Juli 1904,
     

    Lieber Sigmund.
     

    ein Werk von Weininger ist mir zur Kenntnis gekommen. in
    dessen erstem biologischen Teil ich zu meiner Verblüffung die Ans
    führung von meinen Ideen über Bisexualität und die daraus folgende
    Art der sexnellen Anzielung weibliche Manner ziehen männliche
    Frauen an, und vice versa beschrieben finde.
     

    Ich ersche aus einem
     

    Zitat dort, dass Weininger Swoboda Deinen Schuler gekannt hat
    (vor der Veröffentlichung von dessen Buch) und höre hier, dass die
    beiden Manner Intimi waren. Ich habe keinen Zweifel, dass Weininger
    Gber Dich zur Kenntnis meiner Ideen gekommen ist, und dass von
    seiner Seite ein Missbrauch mit fremdem Gut getrieben wurde. Was
    weisst Du daraher? Ich bitte Dich herzlich um ein offenes Wort (an)
    meine Berliner Adresse, da ich am 23. Abemis selon von hier abreise),
    Mit herzlichem Gruss
     

    Dein
     

    Wilhelm.
     

    Hierauf traf folgende Antwort ein:
     

    Villa Sonnenfels, 23. 7. 04.
     

    Lieber Wilhelm-
     

    Auch ich glaube, dass der selige Weininger ein Einbrecher,
    war mit einem gefundenen Schlüssel
     

    Hier alles, was ich darüber weiss. Swoboda, der sein intimer.
    Freund war und bei mir von der Bisexualität gehört hat,
    die in jeder Kur zur Sprache kommt, hat ihm, wie er er-
    zählt, das Wort Bisexualität hingeworfen, als er ihn mit.
    sexuellen Problemen beschäftigt fand. W. schlug sich
    darauf auf die Stirne und lief nach Hause, sein Buch nieder.
    zuschreiben Ob dieser Bericht reell ist, bleibt freilich meiner Be-
    urteilung entzogen.
     

    26
     

  • S.

    Im übrigen meine ich, W., der sich angeblich den Tod ans Furcht
    vor seiner Verbrechernatur gegeben hat, hitte die Idee der Bisexualitat
    anch anders woher bekommen können, da diese in der Literatur bereits
    längere Zeit eine Rolle spielt. Die Detailübereinstimmungen wird man
    sich wohl so erklären müssen, dass er, einmal auf die Idee gebracht.
    einen Teil der Folgerungen richtig einen grisseren wohl falsch
    erraten hat. Denn Sw will ihm keine weiteren Aufschlüsse gegehen
    haben, hatte auch keine zu vergeben, da er von mir nichts weiter er
    fahren hat, als was in der Kur vorkommt, dass bei jedem Neurotiker.
    eine starke homosexuelle Strömung zu finden ist. Sw. ist nicht, wie
    Du schreibst, mein Schüler. Er ist als Schwerkranker zu mir ge
    kominen, hat dieselbe Hilfeleistung gefunden und dieselben Dinge von
    mir erfahren wie jeder andere; an seiner Entdeckung. die viel
    mehr Deine Ideen anfgreift, bin ich ganz beteiligt. sein Buch
    habe ich vor der Publikation nicht gelesen
     

    Mit herzl, Gruss
     

    Dein
     

    Sigmund,
     

    Schon dieser Brief ist unschätzbar: er hestätigt unsere
    Schlüsse und gibt uns, was wir suchen, nämlich authentische
    Auskunft über die Art der Vermittelung des Fliessschen Ge-
    dankenguts an Weininger. Mit besonderem Vergnügen akzep
    tieren wir die treffende Charakterisierung des letzteren als eines
    Einbrechers mit gefundenem Schlüssel. Ob die Art, wie er durch
    seinen Freund Swoboda auf die Bisexualität hingewiesen sein
    soll was ja handgreiflich unwahrscheinlich ist - genau
    der Wahrheit entspricht, darauf kommt ja nichts an. Das
    Wesentliche ist eben, dass diese Vermittelung auf Swoboda
    zurückgeht. Wie gut dieser nun Fliess und seinen Gedanken-
    kreis kennt, werden wir ja weiter unten zur Genüge sehen:
    hier erfahren wir nun noch ausdrücklich, dass er schon in
    seiner Eigenschaft als Patient Freuds mit dem Gesichtspunkt
    der Bisexualität innig vertraut geworden war, da Freud sie
    ständig in seiner psychoanalytischen Kur verwendete!
     

    In welcher Weise sich Freud diese Anschauung zu eigen
    gemacht hatte, dafür ist ja höchst charakteristisch die Tatsache,
    dass er sie sogar ihrem Urheber selbst gegenüber als Original-
    idee in Anspruch nehmen wollte. Vgl. Zur Psychopathologie des
    Alltagslebens", Berlin 1904, S. 43 (zuerst erschienen 1901 in der.
    Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neurologie. Bd. 10: Im Sommer.
     

    27
     

  • S.

    dieses Jahres erklärte ich einmal meinem Freunde Fliess), mit
    dem ich in regem Gedankenaustausch über wissenschaftliche
    Fragen stehe: Diese neurotischen Probleme sind nur dann za
    lösen, wenn wir uns ganz und voll auf den Boden der Annahme
    einer ursprünglichen Bisexualität des Individuums stellen. Ich
    erhielt zur Antwort: Das habe ich Dir schon vor 2 Jahren
    in Breslau gesagt, als wir jenen Abendspaziergang machten.
    Du wolltest damals nichts davon hören. Es ist nun schmerzlich,
    so zum Aufgeben seiner Originalität aufgefordert zu werden.
    Ich konnte mich an ein solches Gespräch und an diese Er-
    öffnung meines Freundes nicht erinnern. Einer von uns beiden
    musste sich da täuschen; nach dem Prinzip der Frage cui
    prodest? musste ich das sein. Ich habe im Laufe der nächsten
    Wochen in der Tat alles so erinnert, wie mein Fremst es in
    mir erwecken wollte; ich weiss selbst, was ich damals zur
    Antwort gab: dabei halte ich noch nicht, ich will mich darauf
    nicht einlassen ..."
     

    Die hier angedeutete Zusammenkunft in Breslau fand
    Weilmachten 1897 statt; in Wirklichkeit aber hatte ihm Fliess
    diese Idee schon Ostern desselben Jahres in Nürnberg ent
    wickelt.
     

    Diese Feststellung verfolgt natürlicherweise nicht den Zweck.
    Fliess die Priorität vor der vermeintlichen Weiningersehen Ent-1
    deckung von 1901 zu sichern, denn hier handelt es sich.
    um Plagiats, nicht um Prioritätsfragen; zudem hatte,
    wie wir des öfteren schon hervorgehoben haben. Fliess die
    Bisexualität deutlich genug schon in seinem Ende 1896 heraus-
    gekommenen Buche betont: vielmehr soll sie nur zur Erläuterung
    des Folgenden dienen. Fliess hatte von seinem Schwager.
    Dr. Oskar Rie, dem Arzt und Freund des Freudschen Hanses.
    erfahren, dass Freud sogar Weiningers Manuskript vor dessen
    Veröffentlichung gesehen hatte. Gleich nach seiner Rückkehr
    schrieb er ihm alsdann einen zweiten Brief, wovon er diesmal
    aber mit gutem Bedacht eine Kopie zurückbehielt:
     

    Berlin, 26, VII. 04.
     

    Lieber Sigmund,
     

    also war es irrtümlich, was scar Rie in aller Harmlosigkeit er
     

    zählte, als ich auf Weininger zu sprechen kam: Weininger sei mit
     

    28
     

  • S.

    seinem Mannskript hei Dir gewesen, und Du habest ihm nach Einsicht
    von der Veröffentlichung abgeraten, weil der Inhalt Unsinn wäre. Jeh
    hatte gemeint, Du hättest in diesem Falle ilm und mich auf den Ein-
    bruch aufmerksam machen müssen. Weininger hat offenbar nicht
    wie Du
    geglaubt, dass er den Gedanken dauernder und notwendiger.
    Bisexualität aller Lebewesen nicht bloss bisexueller Anlage von
    anderswoher beziehen konnte, denn er erklart auf S. 10 den Gedanken
    in dieser Form für durchaus neu. Du wirst mich zu Dank verpflichten,
    wenn Du mir die anderen Quellen, von denen Du schreibst Krafft-
    Ebing. Kiernan, Chevalier ete.) so bezeichnen möchtest, dass ich sie
    leicht einsehen kann. Denn ich bin in der Literatur so wenig bewandert.
    Auch dass die lebendige Substanz in allen Lebewesen mannlich
    und weiblich ist wie ich aus dem steten Varkommen von 28 and 29
    bei Mann und Weil schliessen musste). hat Welninger in seinem
    Arrheno- und Thelyplasma gestolilen.
     

    Bis heute wusste ich nicht, was ich erst ams Deinem Brief er
    fahren habe, dass Du in der Kur von der damernden Bisexualität Gel
    branch machst Zuerst war zwischen uns in Nümberg davom die Rede.
    während ich mich in Bett lag und Du mir die Krankengeschichte von
    einer mit Träumen von riesigen Schlangen erzähltest.
     

    Damals warst
    Du von dem Gedanken, dass Unterströmungen bei einem Weibe ans
    dem mannlichen Teil ihrer Psyche stammen könnten, sehr betroffen.
    Um so mehr hat mich dann Dein Widerstand in Breslau gegen die An-
    nahme der Bisexualität in der Psyche gewundert. In Breslau hatte
    ich Dir auch davon gesprochen, dass in meiner Bekanntschaft so viel
    linkshändige Ehegatten existierten, und aus ler Theorie der Links
    handigkeit herans habe ich Dir eine Erklärung entwickelt, die mit der
    Weiningerschen (der von Linkshändigkeit nichts weiss) bis in die Einzel-
    heiten übereinstiment. Die Linkshändigkeit selbst hast Du freilich ab-
    gelehnt, und unser Lisexuelles Gespräch, wie Du selber freimütig be
    kannt hast, eine Zeitlang vergessen.
     

    Weil ich aber nicht wusste, dass in der Kur die Erwähnung der
    Bisexualität notwendig ist, abute ich nicht, dass Weiningers Intimms
    Dr. Swoboda Dein Patient war, und das um so weniger, als Du
    hinzufügst: ich glaube
     

    dass ich
     

    über besseres
     

    Material an Schülern zu verfügen beginne."
     

    Wir hätten uns wohl beide einen besseren Anlass zur Korrespondenz
    gewünscht, als die Verhandlung über einen Räuber. Mag ihn uns die
    Zukunft bringen.
     

    Mit herzlichem Grüsse
     

    Wilhelmi
     

    Auf diese drängende Mahnung erfolgte nun umgehend
    folgende höchst merkwürdige und bezeichnende Antwort vom
    27. 7, 01:
     

    29
     

  • S.

    Lieber Wilhelm.
     

    Ich sehe, dass ich Dir mehr Recht lassen muss, als
    ich ursprünglich wollte, denn es frappiert mich selbst, dass
    ich vergessen, wie sehr ich mich über den Schüler Swoboda.
    beklagt, dass ich den Besuch Ws bei mir übergangen, den
     

    ich doch nicht vergessen. Letzteres Faktum ist ganz so,
    wie Rie es Dir erzählt hat: das mir vorliegende Manuskript hatte
    zwar ganz anderen Wortlaut als das heute gedruckte Buch: ich habe
    mich auch wesentlich über das Kapitel Hysterie geschreckt, das al
    captandam henevolentiam meam geschrieben war, aber der durche
    gehende Gesichtspunkt der Bisexualität war natürlich zu erkennen,
    und mir dürfte damals leid getan haben, dass ich durch Sw., Was
    ich schon wusste, Deine Idee ihm ausgeliefert hatte. Im
    Zusammenwirken mit meinem eigenen Versuch. Dir diese
    Originalitat zu entwenden. verstehe ich dann mein Be
    nehmen gegen W. und mein weiteres Vergessen.
     

    Ich glaube indes nicht, dass ich damals hatte schreien sollen.
    Haltet den Diel! Vor allem hätte es nichts genutzt, denn der Diel
    kann ebensowohl behaupten, es sei sein eigener Einfall: aach lassen
    sich Ideen nicht patentieren. Man kann sie zurückhalten
    und tut sehr gut daran, wenn man and seine Priorität Wert
    legt. Hat man sie von sich gelassen, so gehen sie ihren
    eigenen Weg. Ferner war ich damals schon mit den Angaben der
    Literatur bekannt, in denen die Idee der Bisexualität zur Erklärung
    der Hysterie herangezogen wird. Du wirst zugeben, dass ein findiger
    Kopf leicht auch von selbst den Schritt tin kann, die bisexuelle. And
    Jage von einigen auf alle auszudelmen, wenngleich dieser Schritt. Dein
    Novum ist. Für mich persönlich warst Du stets (seit 1901) der Autor
    der Idee der Bisexualität, ich fürchte, Du wirst bei Durchsicht der
    Literatur finden, dass viele wenigstens in Deine Nähe gekommen sind,
    Die Dir mitgeteilten Namen finde ich in meinem Manuskript, Bücher.
    habe ich nicht mitgebracht, um Dir die näheren Nachweise zu geben,
    Du wirst sie gewiss in der Psychopathia sexualis von Krafft-Ebing
     

    finden.
     

    Ferner war ich sicher und bin es noch, dass ich Sw. keine Details
    aus Deinen Mitteilungen angegeben habe. Die Allgemeinheit der
    bisexuellen Anlage ist alles, was in der Kur vorkommt und was ich
    dort brauche. Seit der Erfahrung, die im Alltagsleben freimütig mit-
    geteilt ist, habe ich die Almung bekommen, dass für einen von uns
    die Rene über unseren seinerzeit unbeschränkten Gedanken-
    austausch kommen könnte und habe mich mit Erfolg he-
    nht, die Details Deiner Mitteilungen zu vergessen.
     

    Dass
     

    In Wirklichkeit seit Frühjahr 1807! (s, oben)
    Tendenzirrtum Frends zugunsten Weiningers vor.
     

    Es liegt ein
     

    30
     

  • S.

    meine Freigebigkeit oder Unvorsichtigkeit mit einem
    Eigentum geschaltet hat, habe ich mir offenbar damals
    dunkel zum Vorwurf gemacht wie heute in voller Klarheit.
    Ich darf nur annehmen, dass die Schädigung, die Du von Was Seite
    erfahren hast, sehr gering ist, denn so ein Machwerk wird niemand
    ernst nehmen und Du kannst, wenn es Dir der Mühe wert ist, den
    Sachverhalt klarstellen. Das Stellen ist nicht so leicht, wie W
    sich's vorgestellt hat, damit tröste ich mich und möchte auch Dich
    getristet wissen
     

    Dass dieser Vorfall, bei dem Du mir Vorwürfe machst, eine lange
    eingeschlafene Korrespondenz wieder erwerkt hat, hedamerst nicht. Du
    allein, sondern auch ich. Es ist aber nicht meine Schmild, wenn Du
    Zeit und Lust zum Briefverkehr mit mir erst bei so kleinlichem
    Anlass wieder findest.
     

    Mit herzlichem Gruss
     

    Sign.
     

    Diesem Briefe einen Kommentar hinzufügen, hiesse
    seinen geradezu einzigen Eindruck abschwächen. Es ist hier
    auch nicht unsere Aufgabe, auf eine Kritik der Art und Weise
    einzugehen, wie Herr Professor Freud seine Freundschaft für
    Fliess betätigt hat. Genug, dass er nach anfänglichem Be-
    streiten der Schülerschaft Swobodas und geflissentlichem Ver-
    schweigen der Hauptsache, nämlich seiner Kenntnis der
    Weiningerschen Schrift vor ihrer Veröffentlichung, zu einem
    Geständnis sich herbeiläisst, dessen Offenheit zynisch genannt.
    werden muss. Der erste Teil unserer Aufgabe ist gelöst.
    Weininger ist durch innere Gründe und äussere Zeug-
    nisse bezüglich der Idee der Bisexualität des Plagiats
    an Fliess überführt.
     

    Zum Schluss noch ein Wort über diese Idee hei Fliess
    und in der übrigen Literatur. Was Weininger entwendet hat,
    ist keine Kleinigkeit, und Freud täuscht sich nicht wenig.
    wenn er wirklich meint, jener hätte dies zur Not auch anders-
    woher entnehmen können. In der Tat hat er auf die
    wiederholten Fragen seines Freundes, wo sich denn in der
    Literatur der Gedanke der dauernden Doppelgeschlechtigkeit
    aller Lebewesen ausgesprochen und entwickelt finde, immer
    nur den Hinweis auf Krafft-Ebings Psychopathia und ähnliche
    Werke entgegenzusetzen. Diese Berufung aber, das soll
    mit allem Nachdruck hervorgehoben werden, ist gänzlich
     

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