S.
Freunde. Weiningers Buch hat, wie wir gleich hören
werden, vor seiner Veröffentlichung Freud vorgelegen.
Damals wäre es an der Zeit gewesen, sowohl Weininger als
Fliess zu warnen; aber erst ein volles Jahr nach seinem Er-
scheinen ist Fliess darauf aufmerksam gemacht worden, frei-
lich nicht durch Freud. Zunächst hatte er noch kein Arg:
als er aber, anlässlich einer Reise nach Wien, sich über den
Sachverhalt orientiert hatte, wandte er sich in folgendem Briefe
an Freud, der sich damals ausserhalb Wiens befand, um Aus-
kunft. (Nur dem Umstande, dass er wegen starker Durch-
streichungen die erste Niederschrift zurückbehielt, verdanke ich
die Möglichkeit der Reproduktion::
Wien, 20, Juli 1904,
Lieber Sigmund.
ein Werk von Weininger ist mir zur Kenntnis gekommen. in
dessen erstem biologischen Teil ich zu meiner Verblüffung die Ans
führung von meinen Ideen über Bisexualität und die daraus folgende
Art der sexnellen Anzielung weibliche Manner ziehen männliche
Frauen an, und vice versa beschrieben finde.
Ich ersche aus einem
Zitat dort, dass Weininger Swoboda Deinen Schuler gekannt hat
(vor der Veröffentlichung von dessen Buch) und höre hier, dass die
beiden Manner Intimi waren. Ich habe keinen Zweifel, dass Weininger
Gber Dich zur Kenntnis meiner Ideen gekommen ist, und dass von
seiner Seite ein Missbrauch mit fremdem Gut getrieben wurde. Was
weisst Du daraher? Ich bitte Dich herzlich um ein offenes Wort (an)
meine Berliner Adresse, da ich am 23. Abemis selon von hier abreise),
Mit herzlichem Gruss
Dein
Wilhelm.
Hierauf traf folgende Antwort ein:
Villa Sonnenfels, 23. 7. 04.
Lieber Wilhelm-
Auch ich glaube, dass der selige Weininger ein Einbrecher,
war mit einem gefundenen Schlüssel
Hier alles, was ich darüber weiss. Swoboda, der sein intimer.
Freund war und bei mir von der Bisexualität gehört hat,
die in jeder Kur zur Sprache kommt, hat ihm, wie er er-
zählt, das Wort Bisexualität hingeworfen, als er ihn mit.
sexuellen Problemen beschäftigt fand. W. schlug sich
darauf auf die Stirne und lief nach Hause, sein Buch nieder.
zuschreiben Ob dieser Bericht reell ist, bleibt freilich meiner Be-
urteilung entzogen.
26
S.
Im übrigen meine ich, W., der sich angeblich den Tod ans Furcht
vor seiner Verbrechernatur gegeben hat, hitte die Idee der Bisexualitat
anch anders woher bekommen können, da diese in der Literatur bereits
längere Zeit eine Rolle spielt. Die Detailübereinstimmungen wird man
sich wohl so erklären müssen, dass er, einmal auf die Idee gebracht.
einen Teil der Folgerungen richtig einen grisseren wohl falsch
erraten hat. Denn Sw will ihm keine weiteren Aufschlüsse gegehen
haben, hatte auch keine zu vergeben, da er von mir nichts weiter er
fahren hat, als was in der Kur vorkommt, dass bei jedem Neurotiker.
eine starke homosexuelle Strömung zu finden ist. Sw. ist nicht, wie
Du schreibst, mein Schüler. Er ist als Schwerkranker zu mir ge
kominen, hat dieselbe Hilfeleistung gefunden und dieselben Dinge von
mir erfahren wie jeder andere; an seiner Entdeckung. die viel
mehr Deine Ideen anfgreift, bin ich ganz beteiligt. sein Buch
habe ich vor der Publikation nicht gelesen
Mit herzl, Gruss
Dein
Sigmund,
Schon dieser Brief ist unschätzbar: er hestätigt unsere
Schlüsse und gibt uns, was wir suchen, nämlich authentische
Auskunft über die Art der Vermittelung des Fliessschen Ge-
dankenguts an Weininger. Mit besonderem Vergnügen akzep
tieren wir die treffende Charakterisierung des letzteren als eines
Einbrechers mit gefundenem Schlüssel. Ob die Art, wie er durch
seinen Freund Swoboda auf die Bisexualität hingewiesen sein
soll was ja handgreiflich unwahrscheinlich ist - genau
der Wahrheit entspricht, darauf kommt ja nichts an. Das
Wesentliche ist eben, dass diese Vermittelung auf Swoboda
zurückgeht. Wie gut dieser nun Fliess und seinen Gedanken-
kreis kennt, werden wir ja weiter unten zur Genüge sehen:
hier erfahren wir nun noch ausdrücklich, dass er schon in
seiner Eigenschaft als Patient Freuds mit dem Gesichtspunkt
der Bisexualität innig vertraut geworden war, da Freud sie
ständig in seiner psychoanalytischen Kur verwendete!
In welcher Weise sich Freud diese Anschauung zu eigen
gemacht hatte, dafür ist ja höchst charakteristisch die Tatsache,
dass er sie sogar ihrem Urheber selbst gegenüber als Original-
idee in Anspruch nehmen wollte. Vgl. Zur Psychopathologie des
Alltagslebens", Berlin 1904, S. 43 (zuerst erschienen 1901 in der.
Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neurologie. Bd. 10: Im Sommer.
27
S.
dieses Jahres erklärte ich einmal meinem Freunde Fliess), mit
dem ich in regem Gedankenaustausch über wissenschaftliche
Fragen stehe: Diese neurotischen Probleme sind nur dann za
lösen, wenn wir uns ganz und voll auf den Boden der Annahme
einer ursprünglichen Bisexualität des Individuums stellen. Ich
erhielt zur Antwort: Das habe ich Dir schon vor 2 Jahren
in Breslau gesagt, als wir jenen Abendspaziergang machten.
Du wolltest damals nichts davon hören. Es ist nun schmerzlich,
so zum Aufgeben seiner Originalität aufgefordert zu werden.
Ich konnte mich an ein solches Gespräch und an diese Er-
öffnung meines Freundes nicht erinnern. Einer von uns beiden
musste sich da täuschen; nach dem Prinzip der Frage cui
prodest? musste ich das sein. Ich habe im Laufe der nächsten
Wochen in der Tat alles so erinnert, wie mein Fremst es in
mir erwecken wollte; ich weiss selbst, was ich damals zur
Antwort gab: dabei halte ich noch nicht, ich will mich darauf
nicht einlassen ..."
Die hier angedeutete Zusammenkunft in Breslau fand
Weilmachten 1897 statt; in Wirklichkeit aber hatte ihm Fliess
diese Idee schon Ostern desselben Jahres in Nürnberg ent
wickelt.
Diese Feststellung verfolgt natürlicherweise nicht den Zweck.
Fliess die Priorität vor der vermeintlichen Weiningersehen Ent-1
deckung von 1901 zu sichern, denn hier handelt es sich.
um Plagiats, nicht um Prioritätsfragen; zudem hatte,
wie wir des öfteren schon hervorgehoben haben. Fliess die
Bisexualität deutlich genug schon in seinem Ende 1896 heraus-
gekommenen Buche betont: vielmehr soll sie nur zur Erläuterung
des Folgenden dienen. Fliess hatte von seinem Schwager.
Dr. Oskar Rie, dem Arzt und Freund des Freudschen Hanses.
erfahren, dass Freud sogar Weiningers Manuskript vor dessen
Veröffentlichung gesehen hatte. Gleich nach seiner Rückkehr
schrieb er ihm alsdann einen zweiten Brief, wovon er diesmal
aber mit gutem Bedacht eine Kopie zurückbehielt:
Berlin, 26, VII. 04.
Lieber Sigmund,
also war es irrtümlich, was scar Rie in aller Harmlosigkeit er
zählte, als ich auf Weininger zu sprechen kam: Weininger sei mit
28
S.
seinem Mannskript hei Dir gewesen, und Du habest ihm nach Einsicht
von der Veröffentlichung abgeraten, weil der Inhalt Unsinn wäre. Jeh
hatte gemeint, Du hättest in diesem Falle ilm und mich auf den Ein-
bruch aufmerksam machen müssen. Weininger hat offenbar nicht
wie Du
geglaubt, dass er den Gedanken dauernder und notwendiger.
Bisexualität aller Lebewesen nicht bloss bisexueller Anlage von
anderswoher beziehen konnte, denn er erklart auf S. 10 den Gedanken
in dieser Form für durchaus neu. Du wirst mich zu Dank verpflichten,
wenn Du mir die anderen Quellen, von denen Du schreibst Krafft-
Ebing. Kiernan, Chevalier ete.) so bezeichnen möchtest, dass ich sie
leicht einsehen kann. Denn ich bin in der Literatur so wenig bewandert.
Auch dass die lebendige Substanz in allen Lebewesen mannlich
und weiblich ist wie ich aus dem steten Varkommen von 28 and 29
bei Mann und Weil schliessen musste). hat Welninger in seinem
Arrheno- und Thelyplasma gestolilen.
Bis heute wusste ich nicht, was ich erst ams Deinem Brief er
fahren habe, dass Du in der Kur von der damernden Bisexualität Gel
branch machst Zuerst war zwischen uns in Nümberg davom die Rede.
während ich mich in Bett lag und Du mir die Krankengeschichte von
einer mit Träumen von riesigen Schlangen erzähltest.
Damals warst
Du von dem Gedanken, dass Unterströmungen bei einem Weibe ans
dem mannlichen Teil ihrer Psyche stammen könnten, sehr betroffen.
Um so mehr hat mich dann Dein Widerstand in Breslau gegen die An-
nahme der Bisexualität in der Psyche gewundert. In Breslau hatte
ich Dir auch davon gesprochen, dass in meiner Bekanntschaft so viel
linkshändige Ehegatten existierten, und aus ler Theorie der Links
handigkeit herans habe ich Dir eine Erklärung entwickelt, die mit der
Weiningerschen (der von Linkshändigkeit nichts weiss) bis in die Einzel-
heiten übereinstiment. Die Linkshändigkeit selbst hast Du freilich ab-
gelehnt, und unser Lisexuelles Gespräch, wie Du selber freimütig be
kannt hast, eine Zeitlang vergessen.
Weil ich aber nicht wusste, dass in der Kur die Erwähnung der
Bisexualität notwendig ist, abute ich nicht, dass Weiningers Intimms
Dr. Swoboda Dein Patient war, und das um so weniger, als Du
hinzufügst: ich glaube
dass ich
über besseres
Material an Schülern zu verfügen beginne."
Wir hätten uns wohl beide einen besseren Anlass zur Korrespondenz
gewünscht, als die Verhandlung über einen Räuber. Mag ihn uns die
Zukunft bringen.
Mit herzlichem Grüsse
Wilhelmi
Auf diese drängende Mahnung erfolgte nun umgehend
folgende höchst merkwürdige und bezeichnende Antwort vom
27. 7, 01:
29
S.
Lieber Wilhelm.
Ich sehe, dass ich Dir mehr Recht lassen muss, als
ich ursprünglich wollte, denn es frappiert mich selbst, dass
ich vergessen, wie sehr ich mich über den Schüler Swoboda.
beklagt, dass ich den Besuch Ws bei mir übergangen, den
ich doch nicht vergessen. Letzteres Faktum ist ganz so,
wie Rie es Dir erzählt hat: das mir vorliegende Manuskript hatte
zwar ganz anderen Wortlaut als das heute gedruckte Buch: ich habe
mich auch wesentlich über das Kapitel Hysterie geschreckt, das al
captandam henevolentiam meam geschrieben war, aber der durche
gehende Gesichtspunkt der Bisexualität war natürlich zu erkennen,
und mir dürfte damals leid getan haben, dass ich durch Sw., Was
ich schon wusste, Deine Idee ihm ausgeliefert hatte. Im
Zusammenwirken mit meinem eigenen Versuch. Dir diese
Originalitat zu entwenden. verstehe ich dann mein Be
nehmen gegen W. und mein weiteres Vergessen.
Ich glaube indes nicht, dass ich damals hatte schreien sollen.
Haltet den Diel! Vor allem hätte es nichts genutzt, denn der Diel
kann ebensowohl behaupten, es sei sein eigener Einfall: aach lassen
sich Ideen nicht patentieren. Man kann sie zurückhalten
und tut sehr gut daran, wenn man and seine Priorität Wert
legt. Hat man sie von sich gelassen, so gehen sie ihren
eigenen Weg. Ferner war ich damals schon mit den Angaben der
Literatur bekannt, in denen die Idee der Bisexualität zur Erklärung
der Hysterie herangezogen wird. Du wirst zugeben, dass ein findiger
Kopf leicht auch von selbst den Schritt tin kann, die bisexuelle. And
Jage von einigen auf alle auszudelmen, wenngleich dieser Schritt. Dein
Novum ist. Für mich persönlich warst Du stets (seit 1901) der Autor
der Idee der Bisexualität, ich fürchte, Du wirst bei Durchsicht der
Literatur finden, dass viele wenigstens in Deine Nähe gekommen sind,
Die Dir mitgeteilten Namen finde ich in meinem Manuskript, Bücher.
habe ich nicht mitgebracht, um Dir die näheren Nachweise zu geben,
Du wirst sie gewiss in der Psychopathia sexualis von Krafft-Ebing
finden.
Ferner war ich sicher und bin es noch, dass ich Sw. keine Details
aus Deinen Mitteilungen angegeben habe. Die Allgemeinheit der
bisexuellen Anlage ist alles, was in der Kur vorkommt und was ich
dort brauche. Seit der Erfahrung, die im Alltagsleben freimütig mit-
geteilt ist, habe ich die Almung bekommen, dass für einen von uns
die Rene über unseren seinerzeit unbeschränkten Gedanken-
austausch kommen könnte und habe mich mit Erfolg he-
nht, die Details Deiner Mitteilungen zu vergessen.
Dass
In Wirklichkeit seit Frühjahr 1807! (s, oben)
Tendenzirrtum Frends zugunsten Weiningers vor.
Es liegt ein
30
S.
meine Freigebigkeit oder Unvorsichtigkeit mit einem
Eigentum geschaltet hat, habe ich mir offenbar damals
dunkel zum Vorwurf gemacht wie heute in voller Klarheit.
Ich darf nur annehmen, dass die Schädigung, die Du von Was Seite
erfahren hast, sehr gering ist, denn so ein Machwerk wird niemand
ernst nehmen und Du kannst, wenn es Dir der Mühe wert ist, den
Sachverhalt klarstellen. Das Stellen ist nicht so leicht, wie W
sich's vorgestellt hat, damit tröste ich mich und möchte auch Dich
getristet wissen
Dass dieser Vorfall, bei dem Du mir Vorwürfe machst, eine lange
eingeschlafene Korrespondenz wieder erwerkt hat, hedamerst nicht. Du
allein, sondern auch ich. Es ist aber nicht meine Schmild, wenn Du
Zeit und Lust zum Briefverkehr mit mir erst bei so kleinlichem
Anlass wieder findest.
Mit herzlichem Gruss
Sign.
Diesem Briefe einen Kommentar hinzufügen, hiesse
seinen geradezu einzigen Eindruck abschwächen. Es ist hier
auch nicht unsere Aufgabe, auf eine Kritik der Art und Weise
einzugehen, wie Herr Professor Freud seine Freundschaft für
Fliess betätigt hat. Genug, dass er nach anfänglichem Be-
streiten der Schülerschaft Swobodas und geflissentlichem Ver-
schweigen der Hauptsache, nämlich seiner Kenntnis der
Weiningerschen Schrift vor ihrer Veröffentlichung, zu einem
Geständnis sich herbeiläisst, dessen Offenheit zynisch genannt.
werden muss. Der erste Teil unserer Aufgabe ist gelöst.
Weininger ist durch innere Gründe und äussere Zeug-
nisse bezüglich der Idee der Bisexualität des Plagiats
an Fliess überführt.
Zum Schluss noch ein Wort über diese Idee hei Fliess
und in der übrigen Literatur. Was Weininger entwendet hat,
ist keine Kleinigkeit, und Freud täuscht sich nicht wenig.
wenn er wirklich meint, jener hätte dies zur Not auch anders-
woher entnehmen können. In der Tat hat er auf die
wiederholten Fragen seines Freundes, wo sich denn in der
Literatur der Gedanke der dauernden Doppelgeschlechtigkeit
aller Lebewesen ausgesprochen und entwickelt finde, immer
nur den Hinweis auf Krafft-Ebings Psychopathia und ähnliche
Werke entgegenzusetzen. Diese Berufung aber, das soll
mit allem Nachdruck hervorgehoben werden, ist gänzlich
31
pfennig-1906-fliess
26
–31