Stellungnahme zum Fall Prof. Dr. Beer 1905-062/1905
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Nr. 1110 Wien, Freitag DIE ZEIT 27. OKTOBER 1905 

Prof. Dr. Siegmund Freud.

Prof. Dr. Freud, den wir in den Nach-
mittagsstunden aufsuchten, äußerte sich ungefähr
folgendermaßen: Auf die Affäre des Prof. 
Beer kann ich im besonderen nicht eingehen, weil
ich einzig und allein auf die Zeitungsberichte an-
gewiesen bin und ich mir kein Urteil bilden
kann, ob die Aussagen der beiden Knaben oder
die Verteidigung des Angeklagten richtig sind.
Ich verfechte gleich vielen Gelehrten den Stand-
punkt, daß der Homosexuelle nicht vor das
Forum deines Gerichtshofes gehört. Ich
bin sogar der festen Ueberzeugung, daß Homo-
sexuelle nicht als Kranke behandelt werden
müssen, denn der pervers Veranlagte ist deshalb
noch lange nicht krank. Müßten wir dann nicht
viele große Denker und Gelehrte aller Zeiten,
von deren perverser Veranlagung wir Be-
stimmtes wissen und von denen wir gerade
ihren gesunden Geist bewundern, als krank-
hafte
Menschen bezeichnen? Homo-
sexuelle Personen sind nicht krank-
haft
, sie gehören aber auch nicht vor den
Gerichtshof
! Sowohl bei uns in Oester-
reich als noch in weit größerem Umfang in
Deutschland ist eine mächtige Bewegung im
Zuge, den Paragraph des Gesetzbuches, der sich
gegen die Perversen wendet, zu eliminieren. Der
Bewegung haben  sich bedeutende Gelehrte an-
geschlossen, und sie wird immer größere Kreise
ziehen, bis sie zu einem endgültigen Erfolg ge-
langen wird. Anders verhält es sich jedoch in
einem Falle wie dem des Prof. Beer, voraus-
gesetzt daß er schuldig ist. Der Angeklagte hat
sich in diesem Falle an Kindern unter
14 Jahren
vergriffen, und ein solcher
Mensch muß vor dem Gerichtshof ab-
geurteilt werden
. Die Verurteilung
müßte aus demselben Grund erfolgen, als ob
ein Mädchen unter 14 Jahren geschlecht-
lich mißbraucht worden wäre, und zwar müßte
wegen Notzucht, Verführung oder Schändung
die Anklage erhoben werden. Eine Verurteilung
zweier erwachsener Personen wegen homo-
sexuellen Verkehrs ist zu bedauern; ein Mensch,
der Knaben mißbraucht hat, die noch nicht
das gesetzliche Alter erreicht haben, soll verurteilt
werden. Dies ist meine Meinung, und diese
dürfte wohl eine große Anzahl meiner Kollegen
teilen.