S.
356
XX
TRAUER UND MELANCHOLIE *)
Nachdem uns der Traum als Normalvorbild der narziß-
tischen Seelenstörungen gedient hat, wollen wir den Versuch
machen, das Wesen der Melancholie durch ihre Vergleichung
mit dem Normalaffekt der Trauer zu erhellen. Wir müssen
aber diesmal ein Bekenntnis vorausschicken, welches vor
Überschätzung des Ergebnisses warnen soll. Die Melancholie,
deren Begriffsbestimmung auch in der deskriptiven Psychia-
trie schwankend ist, tritt in verschiedenartigen klinischen
Formen auf, deren Zusammenfassung zur Einheit nicht ge-
sichert scheint, von denen einige eher an somatische als an
psychogene Affektionen mahnen. Unser Material beschränkt
sich, abgesehen von den Eindrücken, die jedem Beobachter
zu Gebote stehen, auf eine kleine Anzahl von Fällen, deren
psychogene Natur keinem Zweifel unterlag. So werden wir
den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit unserer Ergebnisse
von vornherein fallen lassen und uns mit der Erwägung
trösten, daß wir mit unseren gegenwärtigen Forschungsmitteln
kaum etwas finden können, was nicht typisch wäre, wenn
nicht für eine ganze Klasse von Affektionen, so doch für
eine kleinere Gruppe.Die Zusammenstellung von Melancholie und Trauer er-
scheint durch das Gesamtbild der beiden Zustände*)Intern. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, IV, 1916/18.
S.
357
gerechtfertigt.*) Auch die Anlässe zu beiden aus den Lebenseinwir-
kungen fallen dort, wo sie überhaupt durchsichtig sind, zu-
sammen. Trauer ist regelmäßig die Reaktion auf den Verlust
einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten
Abstraktion, wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw. Unter
den nämlichen Einwirkungen zeigt sich bei manchen Per-
sonen, die wir darum unter den Verdacht einer krankhaften
Disposition setzen, an Stelle der Trauer eine Melancholie.
Es ist auch sehr bemerkenswert, daß es uns niemals ein-
fällt, die Trauer als einen krankhaften Zustand zu betrachten
und dem Arzt zur Behandlung zu übergeben, obwohl sie
schwere Abweichungen vom normalen Lebensverhalten mit
sich bringt. Wir vertrauen darauf, daß sie nach einem ge-
wissen Zeitraum überwunden sein wird, und halten eine Stö-
rung derselben für unzweckmäßig, selbst für schädlich.Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine
tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Inter-
esses für die Außenwelt, durch den Verlust derLiebes-
fähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herab-
setzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und
Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Er-
wartung von Strafe steigert. Dies Bild wird unserem Ver-
ständnis näher gerückt, wenn wir erwägen, daß die Trauer
dieselben Züge aufweist bis auf einen einzigen; die Störung
des Selbstgefühls fällt bei ihr weg. Sonst aber ist es das-
selbe. Die schwere Trauer, die Reaktion auf den Verlust
einer geliebten Person, enthält die nämliche schmerzliche
Stimmung, den Verlust des Interesses für die Außenwelt –*)Auch Abraham, dem wir die bedeutsamste unter den wenigen
analytischen Studien über den Gegenstand verdanken, ist von dieser Ver-
gleichung ausgegangen (Zentralbl. für Psychoanalyse, II, 6, 1912).S.
358
soweit sie nicht an den Verstorbenen mahnt –, den Verlust
der Fähigkeit, irgend ein neues Liebesobjekt zu wählen –
was den Betrauerten ersetzen hieße –, die Abwendung von
jeder Leistung, die nicht mit dem Andenken des Verlorenen
in Beziehung steht. Wir fassen es leicht, daß diese Hemmung
und Einschränkung des Ichs der Ausdruck der ausschließ-
lichen Hingabe an die Trauer ist, wobei für andere Absichten
und Interessen nichts übrig bleibt. Eigentlich erscheint uns
dieses Verhalten nur darum nicht pathologisch, weil wir es
so gut zu erklären wissen.Wir werden auch den Vergleich gutheißen, der die Stim-
mung der Trauer eine „schmerzliche“ nennt. Seine Berech-
tigung wird uns wahrscheinlich einleuchten, wenn wir im
stande sind, den Schmerz ökonomisch zu charakterisieren.
Worin besteht nun die Arbeit, welche die Trauer leistet?
Ich glaube, daß es nichts Gezwungenes enthalten wird, sie
in folgender Art darzustellen: Die Realitätsprüfung hat ge-
zeigt, daß das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und er-
läßt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüp-
fungen mit diesem Objekt abzuziehen. Dagegen erhebt sich
ein begreifliches Sträuben, – es ist allgemein zu beobachten,
daß der Mensch eine Libidoposition nicht gerne verläßt, selbst
dann nicht, wenn ihm Ersatz bereits winkt. Dies Sträuben
kann so intensiv sein, daß eine Abwendung von der Realität
und ein Festhalten des Objekts durch eine halluzinatorische
Wunschpsychose (siehe die vorige Abhandlung) zu stande
kommt. Das Normale ist, daß der Respekt vor der Realität
den Sieg behält. Doch kann ihr Auftrag nicht sofort erfüllt
werden. Er wird nun im einzelnen unter großem Aufwand
von Zeit und Besetzungsenergie durchgeführt und unterdes
die Existenz des verlorenen Objekts psychisch fortgesetzt.S.
359
Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen
die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt,
überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen.
Warum diese Kompromißleistung der Einzeldurchführung des
Realitätsgebotes so außerordentlich schmerzhaft ist, läßt
sich in ökonomischer Begründung gar nicht leicht angeben.
Es ist merkwürdig, daß uns diese Schmerzunlust selbst-
verständlich erscheint. Tatsächlich wird aber das Ich
nach der Vollendung der Trauerarbeit wieder frei und un-
gehemmt.Wenden wir nun auf die Melancholie an, was wir von
der Trauer erfahren haben. In einer Reihe von Fällen ist
es offenbar, daß auch sie Reaktion auf den Verlust eines
geliebten Objekts sein kann; bei anderen Veranlassungen
kann man erkennen, daß der Verlust von mehr ideeller Natur
ist. Das Objekt ist nicht etwa real gestorben, aber es ist
als Liebesobjekt verloren gegangen (z. B. der Fall einer ver-
lassenen Braut). In noch anderen Fällen glaubt man an der
Annahme eines solchen Verlustes festhalten zu sollen, aber
man kann nicht deutlich erkennen, was verloren wurde, und
darf um so eher annehmen, daß auch der Kranke nicht be-
wußt erfassen kann, was er verloren hat. Ja, dieser Fall
könnte auch dann noch vorliegen, wenn der die Melancholie
veranlassende Verlust dem Kranken bekannt ist, indem er
zwar weiß wen, aber nicht was er an ihm verloren hat.
So würde uns nahe gelegt, die Melancholie irgendwie auf
einen dem Bewußtsein entzogenen Objektverlust zu beziehen
zum Unterschied von der Trauer, bei welcher nichts an dem
Verluste unbewußt ist.Bei der Trauer fanden wir Hemmung und Interesse-
losigkeit durch die das Ich absorbierende Trauerarbeit restlosS.
360
aufgeklärt. Eine ähnliche innere Arbeit wird auch der
unbekannte Verlust bei der Melancholie zur Folge haben
und darum für die Hemmung der Melancholie verantwortlich
werden. Nur daß uns die melancholische Hemmung einen
rätselhaften Eindruck macht, weil wir nicht sehen können,
was die Kranken so vollständig absorbiert. Der Melancho-
liker zeigt uns nun noch eines, was bei der Trauer entfällt,
eine außerordentliche Herabsetzung seines Ichgefühls, eine
großartige Ichverarmung. Bei der Trauer ist die Welt arm
und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.
Der Kranke schildert uns sein Ich als nichtswürdig, leistungs-
unfähig und moralisch verwerflich, er macht sich Vorwürfe,
beschimpft sich und erwartet Ausstoßung und Strafe. Er
erniedrigt sich vor jedem anderen, bedauert jeden der Sei-
nigen, daß er an eine so unwürdige Person gebunden sei.
Er hat nicht das Urteil einer Veränderung, die an ihm vor-
gefallen ist, sondern streckt seine Selbstkritik über die Ver-
gangenheit aus; er behauptet, niemals besser gewesen zu
sein. Das Bild dieses – vorwiegend moralischen – Klein-
heitswahnes vervollständigt sich durch Schlaflosigkeit, Ab-
lehnung der Nahrung und eine psychologisch höchst merk-
würdige Überwindung des Triebes, der alles Lebende am
Leben festzuhalten zwingt.Es wäre wissenschaftlich wie therapeutisch gleich un-
fruchtbar, dem Kranken zu widersprechen, der solche An-
klagen gegen sein Ich vorbringt. Er muß wohl irgendwie recht
haben und etwas schildern, was sich so verhält, wie es ihm
erscheint. Einige seiner Angaben müssen wir ja ohne Ein-
schränkung sofort bestätigen. Er ist wirklich so interesse-
los, so unfähig zur Liebe und zur Leistung, wie er sagt.
Aber das ist, wie wir wissen, sekundär, ist die Folge derS.
361
inneren, uns unbekannten, der Trauer vergleichbaren Arbeit,
welche sein Ich aufzehrt. In einigen anderen Selbstanklagen
scheint er uns gleichfalls recht zu haben und die Wahrheit
nur schärfer zu erfassen als andere, die nicht melancholisch
sind. Wenn er sich in gesteigerter Selbstkritik als klein-
lichen, egoistischen, unaufrichtigen, unselbständigen Men-
schen schildert, der nur immer bestrebt war, die Schwächen
seines Wesens zu verbergen, so mag er sich unseres Wissens
der Selbsterkenntnis ziemlich angenähert haben, und wir fra-
gen uns nur, warum man erst krank werden muß, um solcher
Wahrheit zugänglich zu sein. Denn es leidet keinen Zweifel,
wer eine solche Selbsteinschätzung gefunden hat und sie
vor anderen äußert – eine Schätzung, wie sie Prinz Hamlet
für sich und alle anderen bereit hat –*), der ist krank,
ob er nun die Wahrheit sagt oder sich mehr oder weniger
Unrecht tut. Es ist auch nicht schwer zu bemerken, daß
zwischen dem Ausmaß der Selbsterniedrigung und ihrer
realen Berechtigung nach unserem Urteil keine Entsprechung
besteht. Die früher brave, tüchtige und pflichttreue Frau
wird in der Melancholie nicht besser von sich sprechen als
die in Wahrheit nichtsnutzige, ja vielleicht hat die erstere
mehr Aussicht, an Melancholie zu erkranken, als die andere,
von der auch wir nichts Gutes zu sagen wüßten. Endlich
muß uns auffallen, daß der Melancholiker sich doch nicht
ganz so benimmt wie ein normalerweise von Reue und Selbst-
vorwurf Zerknirschter. Es fehlt das Schämen vor anderen,
welches diesen letzteren Zustand vor allem charakterisieren
würde, oder es tritt wenigstens nicht auffällig hervor. Man
könnte am Melancholiker beinahe den gegenteiligen Zug einer*)„Use every men after his desert, and who should scape whipping?“
Hamlet, II, 2.S.
362
aufdringlichen Mitteilsamkeit hervorheben, die an der eigenen
Bloßstellung eine Befriedigung findet.Es ist also nicht wesentlich, ob der Melancholiker mit
seiner peinlichen Selbstherabsetzung insoferne recht hat, als
diese Kritik mit dem Urteil der anderen zusammentrifft.Es
muß sich vielmehr darum handeln, daß er seine psychologische
Situation richtig beschreibt. Er hat seine Selbstachtung ver-
loren und muß guten Grund dazu haben. Wir stehen dann
allerdings vor einem Widerspruch, der uns ein schwer lös-
bares Rätsel aufgibt. Nach der Analogie mit der Trauer
mußten wir schließen, daß er einen Verlust am Objekt er-
litten hat; aus seinen Aussagen geht ein Verlust an seinem
Ich hervor.
Ehe wir uns mit diesem Widerspruch beschäftigen, ver-
weilen wir einen Moment lang bei dem Einblick, den uns die
Affektion des Melancholikers in die Konstitution des mensch-
lichen Ichs gewährt. Wir sehen bei ihm, wie sich ein Teil
des Ichs dem anderen gegenüberstellt, es kritisch wertet,
es gleichsam zum Objekt nimmt. Unser Verdacht, daß die
hier vom Ich abgespaltene kritische Instanz auch unter an-
deren Verhältnissen ihre Selbständigkeit erweisen könne, wird
durch alle weiteren Beobachtungen bestätigt werden. Wir
werden wirklich Grund finden, diese Instanz vom übrigen
Ich zu sondern. Was wir hier kennen lernen, ist die ge-
wöhnlich Gewissen genannte Instanz; wir werden sie mit
der Bewußtseinszensur und der Realitätsprüfung zu den gro-
ßen Ichinstitutionen rechnen und irgendwo auch die Beweise
dafür finden, daß sie für sich allein erkranken kann. Das
Krankheitsbild der Melancholie läßt das moralische Miß-
fallen am eigenen Ich vor anderen Ausstellungen hervor-
treten: körperliche Gebrechen, Häßlichkeit, Schwäche, sozialeS.
363
Minderwertigkeit sind weit seltener Gegenstand der Selbst-
einschätzung; nur die Verarmung nimmt unter den Befürch-
tungen oder Behauptungen des Kranken eine bevorzugte
Stelle ein.Zur Aufklärung des vorhin aufgestellten Widerspruches
führt dann eine Beobachtung, die nicht einmal schwer an-
zustellen ist. Hört man die mannigfachen Selbstanklagen
des Melancholikers geduldig an, so kann man sich endlich
des Eindrucks nicht erwehren, daß die stärksten unter ihnen
zur eigenen Person oft sehr wenig passen, aber mit gering-
fügigen Modifikationen einer anderen Person anzupassen sind,
die der Kranke liebt, geliebt hat oder lieben sollte. So oft
man den Sachverhalt untersucht, bestätigt er diese Vermu-
tung. So hat man denn den Schlüssel des Krankheitsbildes
in der Hand, indem man die Selbstvorwürfe als Vorwürfe
gegen ein Liebesobjekt erkennt, die von diesem weg auf das
eigene Ich gewälzt sind.Die Frau, die laut ihren Mann bedauert, daß er an eine
so untüchtige Frau gebunden ist, will eigentlich die Un-
tüchtigkeit des Mannes anklagen, in welchem Sinne diese
auch gemeint sein mag. Man braucht sich nicht zu sehr
zu verwundern, daß einige echte Selbstvorwürfe unter die
rückgewendeten eingestreut sind; sie dürfen sich vordrängen,
weil sie dazu verhelfen, die anderen zu verdecken und die
Erkenntnis des Sachverhaltes unmöglich zu machen, sie
stammen ja auch aus dem Für und Wider des Liebesstreits,
der zum Liebesverlust geführt hat. Auch das Benehmen der
Kranken wird jetzt um vieles verständlicher. Ihre Klagen
sind Anklagen, gemäß dem alten Sinne des Wortes; sie
schämen und verbergen sich nicht, weil alles Herabsetzende,
was sie von sich aussagen, im Grunde von einem anderenS.
364
gesagt wird; und sie sind weit davon entfernt, gegen ihre
Umgebung die Demut und Unterwürfigkeit zu bezeugen, die
allein so unwürdigen Personen geziemen würde, sie sind viel-
mehr im höchsten Grade quälerisch, immer wie gekränkt und
als ob ihnen ein großes Unrecht widerfahren wäre. Dies
ist alles nur möglich, weil die Reaktionen ihres Benehmens
noch von der seelischen Konstellation der Auflehnung aus-
gehen, welche dann durch einen gewissen Vorgang in die
melancholische Zerknirschung übergeführt worden ist.
Es hat dann keine Schwierigkeit, diesen Vorgang zu
rekonstruieren. Es hatte eine Objektwahl, eine Bindung der
Libido an eine bestimmte Person bestanden; durch den Ein-
fluß einer realen Kränkung oder Enttäuschung von
seiten der geliebten Person trat eine Erschütterung dieser
Objektbeziehung ein. Der Erfolg war nicht der normale einer
Abziehung der Libido von diesem Objekt und Verschiebung
derselben auf ein neues, sondern ein anderer, der mehrere
Bedingungen für sein Zustandekommen zu erfordern scheint.
Die Objektbesetzung erwies sich als wenig resistent, sie wurde
aufgehoben, aber die freie Libido nicht auf ein anderes Ob-
jekt verschoben, sondern ins Ich zurückgezogen. Dort fand
sie aber nicht eine beliebige Verwendung, sondern diente
dazu, eine Identifizierung des Ichs mit dem aufgege-benen Objekt herzustellen. Der Schatten des Objekts fiel so
auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie
ein Objekt, wie das verlassene Objekt, beurteilt werden konnte.
Auf diese Weise hatte sich der Objektverlust in einen Ich-
verlust verwandelt, der Konflikt zwischen dem Ich und der
geliebten Person in einen Zwiespalt zwischen der Ichkritik
und dem durch Identifizierung veränderten Ich.Von den Voraussetzungen und Ergebnissen eines solchen
S.
365
Vorganges läßt sich einiges unmittelbar erraten. Es muß
einerseits eine starke Fixierung an das Liebesobjekt vorhan-
den sein, anderseits aber im Widerspruch dazu eine geringe
Resistenz der Objektbesetzung. Dieser Widerspruch scheint
nach einer treffenden Bemerkung von O. Rank zu fordern,
daß die Objektwahl auf narzißtischer Grundlage erfolgt sei,
so daß die Objektbesetzung, wenn sich Schwierigkeiten gegen
sie erheben, auf den Narzißmus regredieren kann. Die nar-
zißtische Identifizierung mit dem Objekt wird dann zum Er-
satz der Liebesbesetzung, was den Erfolg hat, daß die Lie-
besbeziehung trotz des Konflikts mit der geliebten Person
nicht aufgegeben werden muß. Ein solcher Ersatz der Objekt-
liebe durch Identifizierung ist ein für die narzißtischen Affek-
tionen bedeutsamer Mechanismus; K. Landauer hat ihn
kürzlich in dem Heilungsvorgang einer Schizophrenie auf-
decken können.*) Er entspricht natürlich der Regression
von einem Typus der Objektwahl auf den ursprünglichen
Narzißmus. Wir haben an anderer Stelle ausgeführt, daß die
Identifizierung die Vorstufe der Objektwahl ist und die erste,
in ihrem Ausdruck ambivalente, Art, wie das Ich ein Objekt
auszeichnet. Es möchte sich dieses Objekt einverleiben, und
zwar der oralen oder kannibalischen Phase der Libido-
entwicklung entsprechend auf dem Wege des Fressens. Auf
diesen Zusammenhang führt Abraham wohl mit Recht die
Ablehnung der Nahrungsaufnahme zurück, welche sich bei
schwerer Ausbildung des melancholischen Zustandes kundgibt.Der von der Theorie geforderte Schluß, welcher die
Disposition zur melancholischen Erkrankung oder eines
Stückes von ihr in die Vorherrschaft des narzißtischen Typus
der Objektwahl verlegt, entbehrt leider noch der Bestätigung*)Intern. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, II, 1914.
S.
366
durch die Untersuchung. Ich habe in den einleitenden Sätzen
dieser Abhandlung bekannt, daß das empirische Material, auf
welches die Studie gebaut ist, für unsere Ansprüche nicht
zureicht. Dürften wir eine Übereinstimmung der Beobachtung
mit unseren Ableitungen annehmen, so würden wir nicht
zögern, die Regression von der Objektbesetzung auf die noch
dem Narzißmus angehörige orale Libidophase in die Charak-
teristik der Melancholie aufzunehmen. Identifizierungen mit
dem Objekt sind auch bei den Übertragungsneurosen keines-
wegs selten, vielmehr ein bekannter Mechanismus der Sym-
ptombildung, zumal bei der Hysterie. Wir dürfen aber den
Unterschied der narzißtischen Identifizierung von der hyste-
rischen darin erblicken, daß bei ersterer die Objektbesetzung
aufgelassen wird, während sie bei letzterer bestehen bleibt
und eine Wirkung äußert, die sich gewöhnlich auf gewisse
einzelne Aktionen und Innervationen beschränkt. Immerhin
ist die Identifizierung auch bei den Übertragungsneurosen der
Ausdruck einer Gemeinschaft, welche Liebe bedeuten kann.
Die narzißtische Identifizierung ist die ursprünglichere und
eröffnet uns den Zugang zum Verständnis der weniger gut
studierten hysterischen.Die Melancholie entlehnt also einen Teil ihrer Charak-
tere der Trauer, den anderen Teil dem Vorgang der Regression
von der narzißtischen Objektwahl zum Narzißmus. Sie ist
einerseits wie die Trauer Reaktion auf den realen Verlust
des Liebesobjektes, aber sie ist überdies mit einer Bedingung
behaftet, welche der normalen Trauer abgeht oder dieselbe,
wo sie hinzutritt, in eine pathologische verwandelt. Der Ver-
lust des Liebesobjekts ist ein ausgezeichneter Anlaß, um die
Ambivalenz der Liebesbeziehungen zur Geltung und zum
Vorschein zu bringen. Wo die Disposition zur ZwangsneuroseS.
367
vorhanden ist, verleiht darum der Ambivalenzkonflikt der
Trauer eine pathologische Gestaltung und zwingt sie, sich
in der Form von Selbstvorwürfen, daß man den Verlust des
Liebesobjekts selbst verschuldet, d. h. gewollt habe, zu
äußern. In solchen zwangsneurotischen Depressionen nach
dem Tode geliebter Personen wird uns vorgeführt, was der
Ambivalenzkonflikt für sich allein leistet, wenn die regressive
Einziehung der Libido nicht mit dabei ist. Die Anlässe der
Melancholie gehen meist über den klaren Fall des Verlustes
durch den Tod hinaus und umfassen alle die Situationen von
Kränkung, Zurücksetzung und Enttäuschung, durch welche
ein Gegensatz von Lieben und Hassen in die Beziehung ein-
getragen oder eine vorhandene Ambivalenz verstärkt werden
kann. Dieser Ambivalenzkonflikt, bald mehr realer, bald
mehr konstitutiver Herkunft, ist unter den Voraussetzungen
der Melancholie nicht zu vernachlässigen. Hat sich die Liebe
zum Objekt, die nicht aufgegeben werden kann, während das
Objekt selbst aufgegeben wird, in die narzißtische Identifi-
zierung geflüchtet, so betätigt sich an diesem Ersatzobjekt
der Haß, indem er es beschimpft, erniedrigt, leiden macht
und an diesem Leiden eine sadistische Befriedigung gewinnt.
Die unzweifelhaft genußreiche Selbstquälerei der Melancholie
bedeutet ganz wie das entsprechende Phänomen der Zwangs-
neurose die Befriedigung von sadistischen und Haßtendenzen,*)
– die einem Objekt gelten und auf diesem Wege eine Wendung
gegen die eigene Person erfahren haben. Bei beiden Affek-
tionen pflegt es den Kranken noch zu gelingen, auf dem Um-
wege über die Selbstbestrafung Rache an den ursprünglichen
Objekten zu nehmen und ihre Lieben durch Vermittlung des*)Über deren Unterscheidung siehe den Aufsatz über „Triebe und
Triebschicksale“.S.
368
Krankseins zu quälen, nachdem sie sich in die Krankheit
begeben haben, um ihnen ihre Feindseligkeit nicht direkt
zeigen zu müssen. Die Person, welche die Gefühlstörung
des Kranken hervorgerufen, nach welcher sein Kranksein
orientiert ist, ist doch gewöhnlich in der nächsten Umgebung
des Kranken zu finden. So hat die Liebesbesetzung des Melan-
cholischen für sein Objekt ein zweifaches Schicksal erfahren;
sie ist zum Teil auf die Identifizierung regrediert, zum an-
deren Teil aber unter dem Einfluß des Ambivalenzkonflikts
auf die ihm nähere Stufe des Sadismus zurückversetzt worden.Erst dieser Sadismus löst uns das Rätsel der Selbstmord-
neigung, durch welche die Melancholie so interessant und
so – gefährlich wird. Wir haben als den Urzustand, von
dem das Triebleben ausgeht, eine so großartige Selbstliebe
des Ichs erkannt, wir sehen in der Angst, die bei Lebens-
bedrohung auftritt, einen so riesigen Betrag der narzißtischen
Libido frei werden, daß wir es nicht erfassen, wie dies Ich
seiner Selbstzerstörung zustimmen könne. Wir wußten zwar
längst, daß kein Neurotiker Selbstmordabsichten verspürt, der
solche nicht von einem Mordimpuls gegen andere auf sich
zurückwendet, aber es blieb unverständlich, durch welches
Kräftespiel eine solche Absicht sich zur Tat durchsetzen kann.
Nun lehrt uns die Analyse der Melancholie, daß das Ich
sich nur dann töten kann, wenn es durch die Rückkehr der
Objektbesetzung sich selbst wie ein Objekt behandeln kann,
wenn es die Feindseligkeit gegen sich richten darf, die einem
Objekt gilt, und die die ursprüngliche Reaktion des Ichs
gegen Objekte der Außenwelt vertritt. (S. Triebe und Trieb-
schicksale.) So ist bei der Regression von der narzißtischen
Objektwahl das Objekt zwar aufgehoben worden, aber es
hat sich doch mächtiger erwiesen als das Ich selbst. In denS.
369
zwei entgegengesetzten Situationen der äußersten Verliebt-
heit und des Selbstmordes wird das Ich, wenn auch auf gänz-
lich verschiedenen Wegen, vom Objekt überwältigt.Es liegt dann noch nahe, für den einen auffälligen Cha-
rakter der Melancholie, das Hervortreten der Verarmungs-
angst, die Ableitung der aus ihren Verbindungen gerissenen
und regressiv verwandelten Analerotik zuzulassen.Die Melancholie stellt uns noch vor andere Fragen, deren
Beantwortung uns zum Teil entgeht. Daß sie nach einem ge-
wissen Zeitraum abgelaufen ist, ohne nachweisbare grobe Ver-
änderungen zu hinterlassen, diesen Charakter teilt sie mit
der Trauer. Dort fanden wir die Auskunft, die Zeit werde
für die Detaildurchführung des Gebotes der Realitätsprüfung
benötigt, nach welcher Arbeit das Ich seine Libido vom ver-
lorenen Objekt frei bekommen habe. Mit einer analogen Ar-
beit können wir das Ich während der Melancholie beschäftigt
denken; das ökonomische Verständnis des Herganges bleibt
hier wie dort aus. Die Schlaflosigkeit der Melancholie be-
zeugt wohl die Starrheit des Zustandes, die Unmöglichkeit,
die für den Schlaf erforderliche allgemeine Einziehung der
Besetzungen durchzuführen. Der melancholische Komplex
verhält sich wie eine offene Wunde, zieht von allen Seiten
Besetzungsenergien an sich (die wir bei den Übertragungs-
neurosen „Gegenbesetzungen“ geheissen haben) und entleert
das Ich bis zur völligen Verarmung; er kann sich leicht
resistent gegen den Schlafwunsch des Ichs erweisen. – Ein
wahrscheinlich somatisches, psychogen nicht aufzuklärendes
Moment kommt in der regelmäßigen Linderung des Zustan-
des zur Abendzeit zum Vorschein. An diese Erörterungen
schließt die Frage an, ob nicht Ichverlust ohne Rücksicht
auf das Objekt (rein narzißtische Ichkränkung) hinreicht,S.
370
das Bild der Melancholie zu erzeugen, und ob nicht direkt
toxische Verarmung an Ichlibido gewisse Formen der Affek-
tion ergeben kann.Die merkwürdigste und aufklärungsbedürftigste Eigen-
tümlichkeit der Melancholie ist durch ihre Neigung gegeben,
in den symptomatisch gegensätzlichen Zustand der Manie um-
zuschlagen. Bekanntlich hat nicht jede Melancholie dieses
Schicksal. Manche Fälle verlaufen in periodischen Rezidiven,
deren Intervalle entweder keine oder eine nur sehr gering-
fügige Tönung von Manie erkennen lassen. Andere zeigen jene
regelmäßige Abwechslung von melancholischen und manischen
Phasen, die in der Aufstellung des zyklischen Irreseins Aus-
druck gefunden hat. Man wäre versucht, diese Fälle von
der psychogenen Auffassung auszuschließen, wenn nicht die
psychoanalytische Arbeit gerade für mehrere dieser Erkran-
kungen Auflösung wie therapeutische Beeinflussung zu stande
gebracht hätte. Es ist also nicht nur gestattet, sondern sogar
geboten, eine analytische Aufklärung der Melancholie auch
auf die Manie auszudehnen.Ich kann nicht versprechen, daß dieser Versuch voll
befriedigend ausfallen wird. Er reicht vielmehr nicht weit
über die Möglichkeit einer ersten Orientierung hinaus. Es
stehen uns hier zwei Anhaltspunkte zu Gebote, der erste ein
psychoanalytischer Eindruck, der andere eine, man darf
wohl sagen, allgemeine ökonomische Erfahrung. Der Ein-
druck, dem bereits mehrere psychoanalytische Forscher Worte
geliehen haben, geht dahin, daß die Manie keinen anderen
Inhalt hat als die Melancholie, daß beide Affektionen mit
demselben „Komplex“ ringen, dem das Ich wahrscheinlich
in der Melancholie erlegen ist, während es ihn in der Manie
bewältigt oder beiseite geschoben hat. Den anderen AnhaltS.
371
gibt die Erfahrung, daß alle Zustände von Freude, Jubel,
Triumph, die uns das Normalvorbild der Manie zeigen, die
nämliche ökonomische Bedingtheit erkennen lassen. Es han-
delt sich bei ihnen um eine Einwirkung, durch welche ein
großer, lange unterhaltener, oder gewohnheitsmäßig herge-
stellter psychischer Aufwand endlich überflüssig wird, so
daß er für mannigfache Verwendungen und Abfuhrmöglich-
keiten bereit steht. Also zum Beispiel: Wenn einarmer Teufel
durch einen großen Geldgewinn plötzlich der chronischen
Sorge um das tägliche Brot enthoben wird, wenn ein langes
und mühseliges Ringen sich am Ende durch den Erfolg ge-
krönt sieht, wenn man in die Lage kommt, einen drückenden
Zwang, eine lange fortgesetzte Verstellung mit einem Schlage
aufzugeben u. dgl. Alle solche Situationen zeichnen sich
durch die gehobene Stimmung, die Abfuhrzeichen des freu-
digen Affekts, und durch die gesteigerte Bereitwilligkeit zu
allerlei Aktionen aus, ganz wie die Manie und im vollen Ge-
gensatz zur Depression und Hemmung der Melancholie. Man
kann wagen es auszusprechen, daß die Manie nichts anderes
ist als ein solcher Triumph, nur daß es wiederum dem Ich
verdeckt bleibt, was es überwunden hat und worüber es
triumphiert. Den in dieselbe Reihe von Zuständen gehörigen
Alkoholrausch wird man – insofern er ein heiterer ist –
ebenso zurechtlegen dürfen; es handelt sich bei ihm wahr-
scheinlich um die toxisch erzielte Aufhebung von Verdrän-
gungsaufwänden. Die Laienmeinung nimmt gerne an, daß man
in solcher maniakalischer Verfassung darum so bewegungs‑
und unternehmungslustig ist, weil man so „gut aufgelegt“
ist. Diese falsche Verknüpfung wird man natürlich auflösen
müssen. Es ist jene erwähnte ökonomische Bedingung im
Seelenleben erfüllt worden, und darum ist man einerseits inS.
372
so heiterer Stimmung und anderseits so ungehemmt
im Tun.
Setzen wir die beiden Andeutungen zusammen, so er-
gibt sich: In der Manie muß das Ich den Verlust des Ob-
jekts (oder die Trauer über den Verlust oder vielleicht das
Objekt selbst) überwunden haben, und nun ist der ganze Be-
trag von Gegenbesetzung, den das schmerzhafte Leiden der
Melancholie aus dem Ich an sich gezogen und gebunden
hatte, verfügbar geworden. Der Manische demonstriert uns
auch unverkennbar seine Befreiung von dem Objekt, an dem
er gelitten hatte, indem er wie ein Heißhungriger auf neue
Objektbesetzungen ausgeht.Diese Aufklärung klingt ja plausibel, aber sie ist erstens
noch zu wenig bestimmt und läßt zweitens mehr neue Fragen
und Zweifel auftauchen, als wir beantworten können. Wir
wollen uns der Diskussion derselben nicht entziehen, wenn
wir auch nicht erwarten können, durch sie hindurch den
Weg der Klarheit zu finden.Zunächst: Die normale Trauer überwindet ja auch den
Verlust des Objekts und absorbiert gleichfalls während ihres
Bestandes alle Energien des Ichs. Warum stellt sich bei
ihr die ökonomische Bedingung für eine Phase des Triumphes
nach ihrem Ablaufe auch nicht andeutungsweise her? Ich
finde es unmöglich, auf diesen Einwand kurzerhand zu ant-
worten. Er macht uns auch darauf aufmerksam, daß wir
nicht einmal sagen können, durch welche ökonomischen Mittel
die Trauer ihre Aufgabe löst; aber vielleicht kann hier eine
Vermutung aushelfen. An jede einzelne der Erinnerungen
und Erwartungssituationen, welche die Libido an das ver-
lorene Objekt geknüpft zeigen, bringt die Realität ihr Ver-
dikt heran, daß das Objekt nicht mehr existiere, und dasS.
373
Ich, gleichsam vor die Frage gestellt, ob es dieses Schicksal
teilen will, läßt sich durch die Summe der narzißtischen
Befriedigungen, am Leben zu sein, bestimmen, seine Bindung
an das vernichtete Objekt zu lösen. Man kann sich etwa
vorstellen, diese Lösung gehe so langsam und schrittweise
vor sich, daß mit der Beendigung der Arbeit auch der für
sie erforderliche Aufwand zerstreut ist.*)Es ist verlockend, von der Mutmaßung über die Arbeit
der Trauer den Weg zu einer Darstellung der melancholischen
Arbeit zu suchen. Da kommt uns zuerst eine Unsicherheit
in den Weg. Wir haben bisher den topischen Gesichtspunkt
bei der Melancholie noch kaum berücksichtigt und die Frage
nicht aufgeworfen, in und zwischen welchen psychischen
Systemen die Arbeit der Melancholie vor sich geht. Was
von den psychischen Vorgängen der Affektion spielt sich
noch an den aufgelassenen unbewußten Objektbesetzungen,
was an deren Identifizierungsersatz im Ich ab?Es spricht sich nun rasch aus und schreibt sich leicht
nieder, daß die „unbewußte (Ding‑) Vorstellung des Objekts
von der Libido verlassen wird“. Aber in Wirklichkeit ist
diese Vorstellung durch ungezählte Einzeleindrücke (unbe-
wußte Spuren derselben) vertreten, und die Durchführung
dieser Libidoabziehung kann nicht ein momentaner Vorgang
sein, sondern gewiß wie bei der Trauer ein langwieriger, all-
mählich fortschreitender Prozeß. Ob er an vielen Stellen
gleichzeitig beginnt oder eine irgendwie bestimmte Reihen-
folge ehält, läßt sich ja nicht leicht unterscheiden; in den
Analysen kann man oft feststellen, daß bald diese, bald jene*)Der ökonomische Gesichtspunkt ist bisher in psychoanalytischen
Arbeiten wenig berücksichtigt worden. Als Ausnahme sei der Aufsatz
von V. Tausk, Entwertung des Verdrängungsmotives durch Rekom-
pense, Intern. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, I, 1913, hervorgehoben.S.
374
Erinnerung aktiviert ist, und daß die gleichlautenden, durch
ihre Monotonie ermüdenden Klagen doch jedesmal von einer
anderen unbewußten Begründung herrühren. Wenn das Ob-
jekt keine so große, durch tausendfältige Verknüpfung ver-
stärkte Bedeutung fürdas Ich hat, so ist sein Verlust auch
nicht geeignet, eine Trauer oder eine Melancholie zu ver-
ursachen. Der Charakter der Einzeldurchführung der Libido-
ablösung ist also der Melancholie wieder Trauer in gleicher
Weise zuzuschreiben, stützt sich wahrscheinlich auf die
gleichen ökonomischen Verhältnisse und dient denselben
Tendenzen.Die Melancholie hat aber, wie wir gehört haben, etwas
mehr zum Inhalt als die normale Trauer. Das Verhältnis
zum Objekt ist bei ihr kein einfaches, es wird durch den
Ambivalenzkonflikt kompliziert. Die Ambivalenz ist ent-
weder konstitutionell, d. h. sie hängt jeder Liebesbeziehung
dieses Ichs an, oder sie geht gerade aus den Erlebnissen
hervor, welche die Drohung des Objektverlustes mit sich
bringen. Die Melancholie kann darum in ihren Veranlassun-
gen weit über die Trauer hinausgehen, welche in der Regel
nur durch den Realverlust, den Tod des Objekts, ausgelöst
wird. Es spinnt sich also bei der Melancholie eine Unzahl
von Einzelkämpfen um das Objekt an, in denen Haß und
Liebe miteinander ringen, die eine, um die Libido vom Objekt
zu lösen, die andere, um diese Libidoposition gegen den An-
sturm zu behaupten. Diese Einzelkämpfe können wir in kein
anderes System verlegen, als in das Ubw., in das Reich der
sachlichen Erinnerungsspuren (im Gegensatz zu den Wort-
besetzungen). Ebendort spielen sich auch die Lösungsversuche
bei der Trauer ab, aber bei dieser letzteren besteht kein Hin-
dernis dagegen, daß sich diese Vorgänge auf dem normalenS.
375
Wege durch das Vbw. zum Bewußtsein fortsetzen. Dieser
Weg ist für die melancholische Arbeit gesperrt, vielleicht
infolge einer Mehrzahl von Ursachen oder des Zusammen-
wirkens derselben. Die konstitutive Ambivalenz gehört an
und für sich dem Verdrängten an, die traumatischen Erleb-
nisse mit dem Objekt mögen anderes Verdrängte aktiviert
haben. So bleibt alles an diesen Ambivalenzkämpfen dem
Bewußtsein entzogen, bis nicht der für die Melancholie
charakteristische Ausgang eingetreten ist. Er besteht, wie
wir wissen, darin, daß die bedrohte Libidobesetzung endlich
das Objekt verläßt, aber nur, um sich auf die Stelle des
Ichs, von der sie ausgegangen war, zurückzuziehen. Die Liebe
hat sich so durch ihre Flucht ins Ich der Aufhebung ent-
zogen. Nach dieser Regression der Libido kann der Vorgang
bewußt werden und repräsentiert sich dem Bewußtsein als
ein Konflikt zwischen einem Teil des Ichs und der kritischen
Instanz.Was das Bewußtsein von der melancholischen Arbeit
erfährt, ist also nicht das wesentliche Stück derselben, auch
nicht jenes, dem wir einen Einfluß auf die Lösung des Lei-
dens zutrauen können. Wir sehen, daß das Ich sich herab-
würdigt und gegen sich wütet, und verstehen so wenig wie
der Kranke, wozu das führen und wie sich das ändern kann.
Dem unbewußten Stück der Arbeit können wir eine solche
Leistung eher zuschreiben, weil es nicht schwer fällt, eine
wesentliche Analogie zwischen der Arbeit der Melancholie
und jener der Trauer herauszufinden. Wie die Trauer das
Ich dazu bewegt, auf das Objekt zu verzichten, indem es
das Objekt für tot erklärt und dem Ich die Prämie des Am-
lebenbleibens bietet, so lockert auch jeder einzelne Ambi-
valenzkampf die Fixierung der Libido an das Objekt, indemS.
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er dieses entwertet, herabsetzt, gleichsam auch erschlägt. Es
ist die Möglichkeit gegeben, daß der Prozeß im Ubw. zu
Ende komme, sei es nachdem die Wut sich ausgetobt hat,
sei es nachdem das Objekt als wertlos aufgegeben wurde.
Es fehlt uns der Einblick, welche dieser beiden Möglichkeiten
regelmäßig oder vorwiegend häufig der Melancholie ein Ende
bereitet, und wie diese Beendigung den weiteren Verlauf des
Falles beeinflußt. Das Ich mag dabei die Befriedigung ge-
nießen, daß es sich als das Bessere, als dem Objekt überlegen
anerkennen darf.Mögen wir diese Auffassung der melancholischen Arbeit
auch annehmen, sie kann uns doch das eine nicht leisten, auf
dessen Erklärung wir ausgegangen sind. Unsere Erwartung,
die ökonomische Bedingung für das Zustandekommen der
Manie nach abgelaufener Melancholie aus der Ambivalenz ab-
zuleiten, welche diese Affektion beherrscht, könnte sich auf
Analogien aus verschiedenen anderen Gebieten stützen; aber
es gibt eine Tatsache, vor welcher sie sich beugen muß. Von
den drei Voraussetzungen der Melancholie: Verlust des Ob-
jekts, Ambivalenz und Regression der Libido ins Ich, finden
wir die beiden ersten bei den Zwangsvorwürfen nach Todes-
fällen wieder. Dort ist es die Ambivalenz, die unzweifelhaft
die Triebfeder des Konflikts darstellt, und die Beobachtung
zeigt, daß nach Ablauf desselben nichts von einem Triumph
einer manischen Verfassung erübrigt. Wir werdenso auf
das dritte Moment als das einzig wirksame hingewiesen. Jene
Anhäufung von zunächst gebundener Besetzung, welche nach
Beendigung der melancholischen Arbeit frei wird und die
Manie ermöglicht, muß mit der Regression der Libido auf
den Narzißmus zusammenhängen. Der Konflikt im Ich, den
die Melancholie für den Kampf um das Objekt eintauscht,S.
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muß ähnlich wie eineschmerzhafte Wunde wirken, die eine
außerordentlich hohe Gegenbesetzung in Anspruch nimmt.
Aber hier wird es wiederumzweckmäßig sein, Halt zu machen
und die weitere Aufklärung der Manie zu verschieben, bis
wir Einsicht in die ökonomische Naturzunächst des körper-
lichen und dann des ihm analogen seelischen Schmerzes
gewonnen haben. Wir wissen es ja schon, daß der Zusammen-
hang der verwickelten seelischen Probleme uns nötigt, jede
Untersuchung unvollendet abzubrechen, bis ihr die Ergebnisse
einer anderen zu Hilfe kommen können.
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