Über den Ursprung der hinteren Nervenwurzeln im Rückenmark von Ammocoetes (Petromyzon Planeri) 1877-002/1877.2
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    Über den Ursprung der hinteren
    Nervenwurzeln im Rückenmark von
    Ammocoetes (Petromyzon Planeri)
    Von Sigmund Freud, stud. med.
    (Aus dem physiologischen Institute der Wiener Universität.)
    (Mit 1 Tafel.)
    (Vorgelegt in der Sitzung am 4. Jänner 1877.)

    Aus dem LXXV. Bande der Sitzb. der k. Akad. der Wissensch. III. Abth. Jänner-Heft. Jahrg. 1877.

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    Über den Ursprung der hinteren
    Nervenwurzeln im Rückenmark von
    Ammocoetes (Petromyzon Planeri)
    Von Sigmund Freud, stud. med.
    (Aus dem physiologischen Institute der Wiener Universität.)
    (Mit 1 Tafel.)
    (Vorgelegt in der Sitzung am 4. Jänner 1877.)

    Im Rückenmark der Petromyzonten (P. marinus, P. fluviatilis, P. Planeri), mit
    dem sich die Beobachter seit Johannes M ü l l e r ’s Untersuchungen über
    das Nervensystem der Cyclostomen vielfach beschäftigt haben, finden sich
    in jeder Höhe und beiderseits grosse Nervenzellen neben und etwas hinter
    dem Centralkanal. Dieselben sind als besondere Gattung von Zellen unterschieden
    worden und führen den Namen der „grossen runden“ oder „grossen
    bipolaren“ Zellen. Der erstere Name rührt von dem Bilde her, das sie auf
    Querschnitten darbieten, wo sie meist rund und fortsatzlos erscheinen; den
    zweiten Namen führen sie nach dem Bilde, das sie auf Längsschnitten geben,
    indem sie da lange und entgegengesetzt gerichtete Fortsätze nach oben und
    nach unten zeigen. Es erscheint correcter, ihnen eine Bezeichnung von ihrer
    Lage zu entlehnen und sie mit R e i s s n e r „grosse innere Zellen“ oder
    vielmehr aus Gründen, die weiterhin zur Sprache kommen werden, „Hinterzellen“
    zu nennen. Mit der Deutung dieser Hinterzellen also im Rückenmark
    von Petromyzon hat sich S t i l l i n g (Neue Untersuchungen über den Bau
    des Rückenmarks, 1859) beschäftigt; er stellt sie als hintere Zellensäule den
    Dorsalkernen oder Clarke’schen Säulen im Rückenmark der Säuger gleich
    und „statuirt“, dass Fasern der hinteren Nervenwurzeln aus ihnen entspringen,
    wenngleich es ihm, wie er ausdrücklich sagt, nicht gelungen ist, dieses
    Verhältniss wirklich zu beobachten.

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    Froud.

     

    Reissner (Müller's Archiv 1860), der die von Stilling ausgesprochene Deutung in Zweifel zog, hat an diesen Zellen in höchst seltenen Fällen Fortsätze gesehen, die wagrecht nach aussen oder senkrecht nach oben (hinten: wenn man das Rücken mark von Petromyzon nach dem menschlichen orientirt) ver liefen", deren Länge aber eine geringe war. ,,In der Regel, bemerkt Reissner, fehlen solche Fortsätze". Einen solchen nach oben (hinten) verlaufenden Fortsatz einer Hinterzelle hat auch Langerhaus in den Untersuchungen über Petromyzon Pla neri 1873 abgebildet und bemerkt von ihm im Text, dass er in die Bahnen der oberen (hinteren) Wurzel einlenkt. Da aber die anfängliche Richtung eines Nervenzellfortsatzes nichts über dessen endliches Schicksal aussagt, und im Rückenmark von Petromyzon sehr oft andere Zellfortsätze angetroffen werden, die bis knapp an den Rand des Rückenmarks reichen, an Stellen, wo überhaupt keine Wurzelfasern austreten, gibt auch die Beob achtung von Langerhans keinen sicheren Aufschluss darüber, ob die Hinterzellen in der von Stilling vermutheten Beziehung zu den hinteren Wurzeln stehen.

     

    Die vorliegende Untersuchung über den Ursprung der hinteren Nervenwurzeln ist an Ammococtes, an der Jugendform des bei uns vorkommenden Petromyzon Planeri angestellt wor den. Man wird nicht annehmen, dass sich das Rückenmark von Ammococtes wesentlich von dem des Petromyzon unterscheiden könne: Untergeordnete Unterschiede aber würden für unseren Gegenstand gar nicht in Betracht kommen, da es sich um die Sicherstellung einer Ursprungsweise hinterer Wurzelfasern han delt, welche nicht im Laufe der Zeit abhanden kommen oder bei nahe verwandten Thierarten einmal vorhanden, das andere Mal nicht vorhanden sein könnte, welche vielmehr, wenn sie überhaupt. einmal bei einem Wirbelthier gefunden ist, schwerlich für die übrigen ohne Weiteres in Abrede gestellt werden wird, wenn es auch vielleicht noch lange dauert, ehe sie sich in den höher stehenden Abtheilungen zur Evidenz bringen lässt.

     

    Es hat sich mir bei dieser, wie gesagt an Ammocoetes und zwar an einer grösseren Anzahl von Exemplaren angestellten Untersuchung ganz unzweifelhaft ergeben, dass die Hinterzellen Fortsätze haben, die als hintere Wurzelfasern das Rückenmark

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    Über den Ursprung der hinteren Nervenwurzeln etc.

     

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    verlassen. Gewöhnlich zeigt zwar der Querschnitt einer Hinter zelle rundliche oder zum Theil durch die Einwirkung der Reagen tien ausgezackte Contouren, aber oft genng sieht man auf Quer schnitten den Zellenleib mit einer trichterförmigen Verschmälerung in einen Fortsatz übergehen, welcher rein sagittal verläuft, oder häufiger einen nach innen convexen Bogen macht, den hinteren Rand des Rückenmarks derselben Seite dort erreicht, wo sonst die hinteren Wurzeln austreten und ein Stück weit ausserhalb des Rückenmarks als Nervenfaser der hinteren Wurzel zu ver folgen ist (Fig. 1). Der Übergang vom Nervenzellfortsatz zur Nervenfaser ist nicht wie bei anderen Wirbelthieren durch das Auftreten einer Markscheide bezeichnet, weil diese, wie Stannius. (Göttinger Nachrichten 1850) gefunden hat, den Nerven der Petromyzonten fehlt. Dagegen setzt sich oft, aber doch nicht nmal der Hälfte der Fälle, der trichterförmige Ansatz der Nervenfaser an die Zelle vom eigentlichen Zellenleib durch eine feine Linie, die einer Färbungsgrenze entspricht, ab, ganz wie diess Stilling von anderen Ursprüngen von Nervenfasern aus Zellen beschreibt. Hat man das Rückenmark nicht isolirt, son dern das Thier als Ganzes gehärtet und dann Schnitte durch dasselbe angefertigt, die das Rückenmark in seiner natürlichen Lage zeigen, so gelingt es, einen solchen Fortsatz einer Hinter zelle durch die Pia mater hindurch in ununterbrochener Continuität bis in ein hinteres Wurzelbündel zu verfolgen, welches man seinerseits auf demselben Präparate aus dem Sack der Dura mater austreten und bisweilen noch in das Spinalganglion eintreten sieht (Fig. 2).

     

    Ich habe den durch seinen trichterförmigen Anfang und seinen Verlauf nach hinten und etwas nach aussen in der Ebene des Querschnitts charakterisirten Hinterzellenfortsatz sehr oft gesehen und auch verhältnissmässig oft ihn als Nervenfaser mit aller Sicherheit in die hintere Wurzel verfolgen können. Wenn ich in Rechnung ziehe, wie sehr es vom Zufall abhängt, ein so grosses Stück einer und derselben Faser auf einem Querschnitt zu erhalten, und mit den Querschnittbildern die Längsschnittbilder vergleiche, muss ich den Schluss ziehen, dass von allen Hinter zellen auf die beschriebene Weise Fasern der hinteren Wurzeln ent springen. Es würde mit dieser Annahme nicht zu vereinigen sein,

     

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  • S.

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    Freud.

     

    wenn im Rückenmark des Ammococtes mehr Hinterzellen als Fasern der hinteren Wurzeln vorhanden wären. Aber ein solcher Über schuss existirt ganz gewiss nicht, wie später gezeigt werden wird. Die Hinterzellen scheinen auf den ersten Blick eine durch

     

    Lage, anatomische Verbindungen und Aussehen von den anderen Zellen des Rückenmarks gut abgegrenzie Gruppe darzustellen. Nun ist es zwar richtig, dass man niemals eine hintere Wurzel faser mit einer anderen als einer Hinterzelle in Verbindung sicht; aber es ist doch nicht möglich, die Zellen neben und hinter dem Centralkanal durch eine allen gemeinsame Eigenthümlichkeit der Gestalt zu charakterisiren, obwohl sie gewöhnlich andere Bilder als anderswo gelegene Zellen geben. Sie sind zwar im Allgemeinen grösser als die Zellen des Vorderhorns und werden nur von einigen vielverzweigten Riesenzellen, die sich daselbst nicht ganz constant vorfinden, übertroffen, aber ihre Grösse schwankt selbst sehr bedeutend. Mitunter liegen zwei kleine Hinterzellen ganz nahe aneinander, die zusammen den Umfang einer grossen haben.

     

    Die verschiedenen Formen der Hinterzellen kann man, wenn man will, alle aus der Kugelform ableiten; doch ist dabei zu bemerken, dass die Abweichungen von derselben, je nach der Art, wie die Fortsätze entspringen, verschieden sind. Der eine Fortsatz, mit dem wir uns bisher beschäftigt haben, pflegt sich mittelst einer trichterförmigen Erweiterung mit dem Zellenleib zu verbinden.

     

    Sehr oft sind die Hinterzellen, wie schon erwähnt, auf dem Längsschnitt spindelförmig und diese stehenden Spindeln wer den manchmal so schmal, dass sie sich von manchen Nerven zellen des Vorderhorns und solchen, die in der weissen Substanz zerstrent liegen, nur wenig unterscheiden. Der Kern der Hinter zellen ist kugelrund oder ellipsoidisch, je nach der Gestalt des Zellenleibs, an Chromsäurepräparaten in der Regel heller als letzterer und enthält sehr oft zwei Kernkörperchen. Es hat Mauthner (Denkschriften der Wiener Akademie 39. Bd.)gefunden, dass im Rückenmark des Hechts ganz constant die Zellen, die er als Ursprungsstätten hinterer Wurzelfasern ansehen musste, einen Kern besassen, der bei der Karminfärbung heller blieb als Zell protoplasma und Kernkörperchen; dass hingegen die Kerne der

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    Über den Ursprung der hinteren Nervenwurzeln etc.

     

    Zellen, die mit Fasern der vorderen Wurzeln in Verbindung standen, sich stärker mit Karmin imbibirten als das Protoplasma der Zellen. Im Rückenmark von Ammocoetes verhalten sich die Zellen, aus denen vordere Wurzelfasern entspringen, nach Chrom säurehärtung selten anders gegen Karmin als die Hinterzellen. Man erhält oft Präparate, auf denen alle Zellen hellere Kerne besitzen. Um die Beschreibung der Hinterzellen zu vervollstän digen, füge ich hinzu, dass die Anordnung derselben, die man an Längsschnitten oder an unversehrten Stücken Rückenmarks, die man durchsichtig gemacht hat, an natürlichen Längsschnitten - studiren kann, eine sehr unregelmässige ist. Es kommen Stellen vor, wo die Hinterzellen gehänft liegen, daneben andere, wo sie nur vereinzelt und durch weite Distanzen getrennt gefun den werden. Die Hinterzellensäule der einen Seite ist durchaus nicht symmetrisch gegen die der anderen. Auch die Anzahl der Zellen in einem Stück Rückenmark von bestimmter Länge ist nicht immer auf beiden Seiten die nämliche. Im Caudaltheil des Rückenmarks liegen die Hinterzellen mehr zusammengedrängt als anderswo und scheinen darum dort zahlreicher als im übrigen Mark vorhanden zu sein. Es hängt diess aber vielleicht damit zusammen, dass im Candalmark die Abstände zweier gleichnami ger Wurzeln, also auch die Wurzelgebiete kleiner werden.

     

    Ausser den Fortsätzen, die zu hinteren Wurzelfasern werden, zeigen die Hinterzellen auf Querschnitten seltener Fortsätze, die hinter dem Centralkanal in die andere Rückenmarkshälfte hin übertreten. Die nächste Vermuthung, die sich darbietet, ist die, dass es diese Fortsätze seien, welche die Verbindung der Zellen mit dem Gehirn vermitteln. Es ist ja bekannt, dass die sensiblen Bahnen, bald nachdem sie in das Rückenmark eingetreten sind, auf die andere Seite hinübertreten und auf ihr zum Gehirn ver. laufen, wie diess die pathologische Beobachtung und das physio logische Experiment hinreichend dargethan haben. Man muss indess hier vorsichtig sein: ganz so unmittelbar scheint das Übertreten auf die andere Seite, wenigstens beim Menschen nicht zu erfolgen. In einem von Dall'Armi (Centralblatt der medicinischen Wissenschaften, 1876, Nr. 16) beobachteten Falle von Verwun dung des Rückenmarks in Schulterblatthöhe war die Anästhesie

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    Freud.

     

    am Rumpf auf derselben Seite und erst am Bein auf der anderen Seite. In der That sind auf Längsschnitten an den Hinterzellen Fortsätze zu beobachten, die man mit grosser Wahrscheinlichkeit für die Verbindungen derselben mit dem Gehirn halten kann und die zunächst auf derselben Seite bleiben. Die Hinterzellen zeigen auf Längsschnitten nämlich jene zwei Fortsätze, die ihnen den Namen der bipolaren Zellen eingetragen haben. Der eine geht nach oben, der andere nach unten, sie sind oft auf Strecken von 0-15 und darüber zu verfolgen. Einen absteigenden Längsfort satz einer Hinterzelle habe ich einmal nach längerem Verlauf zu einer hinteren Wurzelfaser umbiegen sehen; ich muss es also wahrscheinlich finden, dass die unteren Längsfortsätze der Hin terzellen wenigstens theilweise nichts anderes als Nerven faserfortsätze sind. In den Fällen aber, wo der nach unten ver laufende Fortsatz einer bipolaren Hinterzelle zu einer hinteren, Wurzelfaser wird, kann der aufsteigende Fortsatz kaum für etwas anderes als für die Verbindungsfaser zum Gehirn, die später anf die andere Seite übertritt, angesehen werden. Auch schiefe Fort sätze, die mit einem langen und nur sehr allmählich sich ver schmälernden Trichter beginnen, habe ich auf Längsschnitten gefunden, aber nichts fiber ihren Verlauf beobachtet.

     

    Nachdem nun feststeht, dass die in der Ebene des Längs schnittes absteigenden und die in der Ebene des Querschnittes verlaufenden Fortsätze der Hinterzellen als hintere Wurzelfasern aus dem Rückenmark anstreten, ist es von Wichtigkeit, den Weg der Fasern aus der hinteren Wurzel ins Rückenmark zu verfolgen. Wenn man zu dem Zwecke eine Reihe von Längsschnitten anfertigt, findet man, dass die hinteren Nervenwurzeln mehrere Verschiedenheiten von den vorderen zeigen, die nicht ohne Ana logie bei höheren Wirbelthieren sind. Die Fasern der vorderen. Wurzeln fahren sofort, nachdem sie durch die Dura mater hin durchgetreten sind, pinselförmig auseinander oder sondern sich in zwei, manchmal drei oder vier kleinere Bündel, innerhalb deren die Fasern wiederum divergiren. Sie treten dann weit von der Mittellinie entfernt, ins Rückenmark ein, beschreiben in dem selben kurze Bögen nach oben und nach unten von ihrer Eintritts stelle, und erreichen die vordere graue Substanz und die ihr nächsten Partien der weissen Stränge.

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    Über den Ursprung der hinteren Nervenwurzeln etc.

     

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    Die hinteren Wurzeln stellen vom Spinalganglion bis zur Eintrittsstelle ins Rückenmark, welche der Medianebene sehr genähert ist, eng zusammengefasste, parallelfaserige Bündel dar, die eine geringere Anzahl von Fasern als die vorderen Wurzeln führen. Die Breite der in einer Wurzel beisammen liegenden Fasern ist sehr verschieden; es kommen Fasern vor, die drei bis vier mal so breit sind als andere Fasern derselben Wurzeln, doch habe ich niemals Fasern von den Dimensionen der colossalen, von Johannes Müller entdeckten, in den Vordersträngen des Rückenmarks liegenden Fasern in einer Wurzel gefunden. So lange die Wurzeln zwischen Dura und Pia mater im arachnoidealen Raum verlaufen, sind ihren Fasern zahlreiche Kerne aufgelagert. Sie liegen auf dieser Strecke ihres Verlaufes der äusseren Fläche der Pia mater enge au, und heben sich mit einer scharfen Beugung von ihr ab, wenn sie ins Rückenmark eintreten. Dann gehen einige Fasern, sich trichterförmig erweiternd, in Hinterzellen über. Andere Fasern, und zwar die Mehrzahl, knicken beinahe im rechten Winkel aus ihrer queren Verlaufsrichtung nach oben und nach unten um und bilden auf Strecken, die oft der Länge eines Wurzelgebietes gleichkommen, Längsfasern der weissen Substanz, besonders der Theile derselben, welche zunächst die Hinterzellen umgeben. Mitunter sieht man die Wurzelfasern nur nach einer Richtung nach oben umbiegen. Auf manchen Prä paraten sieht man den grössten Theil der Fasern die eine Rich tung und nur vereinzelte Fasern die entgegengesetzte ein schlagen.

     

    Ich habe schon erwähnt, dass es mir in einem Falle gelungen ist, eine nach oben umbiegende Nervenfaser in eine Hinterzelle zu verfolgen, so dass ich die nach oben umbiegenden Wurzel fasern wenigstens zum Theil für identisch halten muss mit den Längsfortsätzen der Hinterzellen. Es liegt nahe, anzunehmen, dass auch die nach umbie den Fasern theilweise iden tisch sind mit den nach oben verlaufenden Zellfortsätzen. Dass sie alle mit denselben identisch sind, wird durch das Folgende in hohem Grade zweifelhaft werden. Diese Annahme würde näm lich voraussetzen, dass alle Fasern der hinteren Wurzeln aus solchen Hinterzellen hervorgehen. Das scheint nicht der Fall zu sein. Ich habe an unzerschnittenen Stückchen Rückenmark,

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    Freud.

     

    die ich, so weit es nothwendig war, durchsichtig gemacht hatte, die Distanzen der hinteren Wurzeln von einander, die ich als Aequivalente für die Hähen der Wurzelgebiete ansah, gemessen, die Menge der Hinterzellen in einem gemessenen Stück Rücken mark gezählt und durch Division der Länge solcher Stitckchen, an denen ich die Hinterzellen gezählt hatte, durch die Höhe eines Wurzelgebietes, die Anzahl der Hinterzellen zu bestimmen gesucht, die auf ein Wurzelgebiet im Durchschnitt entfällt. Ich habe bei dieser Art des Zahlens gefunden, dass ungefähr 7-13 Hinter zellen jederseits auf eine hintere Wurzel kommen, während die Anzahl der in einer hinteren Wurzel enthaltenen Fasern eine viel bedeutendere ist; ich zählte z. B. in einem Falle ihrer mehr als dreissig.

     

    Obgleich diese Rechnungen eine geringe Genauigkeit bieten, weil ich genöthigt war, die Wurzeldistanzen und Fasermengen an anderen Stücken Rückenmark zu untersuchen als diejenigen waren, an denen ich die Hinterzellen gezählt halie, so unterliegt es doch keinem Zweifel, dass das Resultat, auf das es hier ankommt, richtig ist: das Resultat nämlich, dass in einer hinteren Wurzel mehr Fasern enthalten sind, als aus den Hinterzellen, die in ihrem Wurzelgebiet liegen, herstammen können.

     

    Es kann diess in zweierlei Weise gedeutet werden, entweder so, dass weiter aufwärts in der Medulla oblongata oder im Gehirn eine grössere Anzahl von Hinterzellen oder den Hinterzellen gleichwerthigen Zellen liegt, welche ihre Fasern das Rückenmark entlang in die hinteren Wurzeln schicken, oder zweitens so, dass der directe Ursprung aus Hinterzellen nicht allen Fasern der. hinteren Wurzeln zukommt, sondern dass in letzteren zwei oder mehr Arten von Fasern vorkommen, die schon durch die Art ihres Ursprungs verschieden sind.

     

    Die geringe Dicke des Rückenmarks von Ammocoetes macht es möglich, Frontalschnitte anzufertigen, die sowohl vordere als auch hintere Wurzeln in ihrem Ursprung vom Rückenmark und Durchtritt durch die Dura mater zeigen. Man findet dann, dass vordere und hintere Wurzeln einander nicht, wie man erwarten sollte, im Gesichtsfeld decken. Anstatt in derselben Ebene des Querschnitts das Rickenmark und den Sack der Dura mater zu verlassen, zeigen sich die einander entsprechenden vorderen und

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    Über den Ursprung der hinteren Nervenwurzeln etc.

     

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    hinteren Wurzeln bẩm Ursprung aus dem Rückenmark und beim Durchtritt durch die Dura mater, um eine Strecke gegen einander verschoben, die gleichkommt dem halben Abstand zwischen zwei gleichnamigen Wurzeln.

     

    So zeigt ein mir vorliegendes Präparat, ein Frontalschnitt durch den Austritt der Wurzeln aus der Pia und der Dura mater jederseits 8 Wurzeln vom Rückenmark abgehen. Diese kenn zeichnen sich durch ihre Lage, durch Besitz oder Mangel des Spinalganglions und durch ihr Anssehen als sensible oder motori sche Wurzeln. Die im Präparate oben gelegenen Wurzeln mit Spinalganglion sind parallelfaserige Faserbündel, die unten gele genen, denen ein Ganglion fehlt, sind gespaltene Büschel mit diver girenden Fasern. Die ersteren sind sensible, die letzteren moto rische Wurzeln. Sie alterniren so, dass die erste Wurzel eine motorische oder vordere, die zweite eine sensible ist und so fort in regelmässiger Abwechslung bis zur achten, die wiederum eine

     

    hintere Wurzel ist. Dabei zeigen die einzelnen Wurzeln folgende Distanzen von einander:

     

    0-86

     

    0-56

     

    0-86 22

     

    0-86

     

    0-69 22

     

    0-86

     

    0-42,

     

    Die mittlere Entfernung zweier gleichnamiger Wurzeln oder die Höhe eines Wurzelgebietes ist in diesem Falle = 1·5″". In einem anderen Falle, bei einem Thier von 140"" Länge finde ich die Höhe eines Wurzelgebietes in der Mitte des Rückenmarks etwa 1.3; etwa 2 vor dem Ende des Rückenmarks nur 0.88 und im letzten von mir untersuchten etwas über 5"" langen Stückchen des Caudalmarkes nur mehr0-72". Es rücken also im Caudalmark die Wurzeln zusammen und die Wurzel gebiete werden niedriger. An dem letzten Stück des Caudal marks, das ich beobachten konnte, waren auch die vorderen und hinteren Wurzeln nicht mehr gegen einander verschoben.

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    Freud.

     

    Stieda hat in den Studien über den Amphineus lanceolatus (Memoiren der Petersburger Akademie 1873) eine ähnliche Ver schiebung der vorderen und hinteren Wurzeln gegen einander beim Amphiorus beschrieben. Bei diesem niedrigsten Wirbelthiere kommt aber noch hinzu, dass die beiden Hälften des Rücken marks in Bezug auf die Wurzelursprünge nicht symmetrisch sind. Bei Ammocoetes ist vollständige Symmetrie der Seitenhälften des Rückenmarks mit Bezug auf die Ursprungsstellen der vorderen und hinteren Wurzeln vorhanden.

     

    Die soeben erwälinte Eigenthlimlichkeit im Ursprung and Verlauf der Spinalnervenwurzeln war zum Theil schon Johannes. Müller bekannt. Er sagt in der vergleichenden Neurologie der Myxinoiden (Abhandlungen der Berliner Akademie 1838) p. 196: Dass die Rückenmarksnerven mit zwei Wurzeln, einer hinteren und vorderen vom Rückenmark entspringen, lässt sich voraus setzen, aber nur im vordersten Theil des Rilekenmarks, der unmittelbar auf die Medulla oblongata folgt, beweisen

     

    ; ferner p. 197: Im weiteren Verlaufe der Wirbelsäule. sieht man aussen an der Chorda die doppelten Wurzeln der Spinalnerven deutlich getrennt, wenn es auch nicht gelingt, ihren Ursprung vom Rückenmark selbst an in Weingeist auf bewahrten Exemplaren zu sehen. Die aus dem Rückgrat her vorgetretenen Nervenwurzeln steigen über die Seite der Chorda dorsalis herunter. Sie sind hier um die Hälfte eines Spatium intercostale getrennt.... Ich will bemerken, dass Johannes Müller diese Bemerkungen in der Neurologie der Myxinoiden macht und im vergleichenden Theil nicht, angibt, dass es sich bei Petromyzonten anders verhält. Indem ich Stücke des frischen Rückenmarks vorsichtig aus dem Thier herausnahm und die Hüllen unter der Lupe wegpräparirte, ist es mir gelungen, den alternirenden Ursprung von vorderen und hinteren Wurzeln in viel vollkommnerer Weise, als diess an Frontalschnitten möglich ist, zu sehen.

     

    Die Verzögerung, welche diese Arbeit durch den Mangel von frischem Material mehrmals erlitten hat, war Veranlassung, diese Beobachtungen, so fragmentarisch sic sein mögen, zusam menzufassen. Ich hoffe, die Untersuchungen über das Rücken mark von Ammocoetes bald wieder aufnehmen zu können, um die

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    Bahnen der hinteren Wurzelfasern weiter, als es mir bis jetzt möglich war, mit Sicherheit zu verfolgen.

     

    Das wesentlichste der hier mitgetheilten Resultate scheint mir der wenigstens an einem Wirbelthiere geführte entschie dene Nachweis des Ursprungs hinterer Wurzelfasern aus grossen Nervenzellen, die im ganzen Rückenmark vorhanden sind, zu sein. Um zu zeigen, wie sich meine Angaben zu den früher fiber diesen Gegenstand gemachten stellen, will ich die letzteren, soweit es nicht schon früher geschehen ist, kurz in Erinnerung bringen.

     

    Die Angaben der Dorpater Forscher, dass die hinteren Wurzelfasern aus Zellen und zwar aus denselben Zellen, die auch die motorischen Fasern entstehen lassen, kommen, haben ebenso allgemeinen Widerspruch erfahren, wie die Behauptung von Jacubowitsch, dass es im menschlichen Rückenmark kleine Zellen der Hinterhörner sind, die die hinteren Wurzelfasern ent senden. Auch meine Beobachtungen liefern diesen Angaben keine Stütze. Der ersteren widersprechen sie, insoferne ich beim Ammocoetes (auch die Dorpater hatten das Rückenmark von Petromyzon untersucht) die vorderen Wurzelfasern aus anderen Zellen als den sensibeln hervorgelien sehe; der zweiten Angabe können sie, obwohl ich auch den Ursprung aus hinteren Zellen beschreibe, keine Stütze bieten, weil ich bei Ammocoetes die Ursprungszellen der hinteren Wurzeln gross, ja im Allgemeinen grösser als diejenigen finde, aus denen motorische Fasern ihren Ursprung nehmen.

     

    Im Rückenmarke des Hechts hat Mauthner (Elemente des Nervensystems. Denkschriften der Wiener Akademie 30. Bd. und Sitzungsberichte 34. Bd.) Zellen neben und hinter dem Central kanal aufgefunden, deren Fortsätze er in Beziehung zu hinteren Wurzelfasern bringen konnte. Ich habe Fortsätze der sub 3 beschriebenen Zellen, sagt er, zahlreich gegen die Austrittsstelle der hinteren Wurzel hin verlaufen schen, und da ich auch den directen Übergang dieser Fortsätze in markhaltige Fasern der hinteren Wurzel beobachtet habe, so entfällt jeder Zweifel dar über, dass es in Wahrheit sensitive Zellen sind." Und ein andermal erwähnt er, dass er Fortsätze (dieser Zellen) regelmässig gegen die Austrittsstelle der hinteren Wurzel hin verlaufen gesehen, den

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    Freud.

     

    directen Übergang solelier Fortsätze in markhaltige Fasern der hinteren Wurzel aber nur in einzelnen Fällen beobachtet habe.

     

    Es ist aber zweifelhaft, ob es sich hiebei um Elemente han delt, die allen hinteren Wurzeln angehören, weil Mauthner hin zufügt, dass diese Ursprungszellen der hinteren Wurzelfasern ausschliesslich im obersten Theil des Rückenmarks vorkommen und sich in die Medulla oblongata und den Hirnstamm fort. setzen,dagegen im übrigen Rückenmark fehlen.

     

    Andererseits gibt Manthner in einer Vorläufigen Mitthei lung über das Rückenmark der Fische" (Wiener Sitzungsberichte Bd. 34) an, dass die hinteren Wurzelfasern sich aus einem Faser netz sammeln, in das gewisse Fortsätze von anderen Nerven zellen eingehen.

     

    In nenester Zeit hat bekanntlich Gerlach den directeu Zusammenhang der hinteren Wurzelfasern mit Nervenzellen in Abrede gestellt und ihren Übergang in das sogenannte Proto plasmanetz - zunächst für das Säug thiermark behauptet. Die hier mitgetheilte Beobachtung über den Ursprung der hinteren Wurzeln bei Ammocoetes ist geeignet, Zweifel an der allgemeinen Giltigkeit der Gerlach'sehen Angaben zu erregen. Zum Minde sten werden diejenigen einen ähnlichen Ursprung hinterer Wur zelfasern auch beim Menschen erwarten, die eine Übereinstim mung in den fundamentalen Verhältnissen des Rückenmarkbanes unter den Wirbelthieren für wahrscheinlich halten und geneigt sind, die Art, wie Nervenzellen und Nervenfasern im Rückenmark zusammenhängen, für ein solches fundamentales und physio logisch bedeutsames Verhältniss anzusehen.

     

    Im Rückenmark von Ammacoetes habe ich bis jetzt zwar nichts gefunden, was dem Gerlach'schen Schema sich figen würde, aber ich will damit nichts gegen die Existenz solcher Verhältnisse, wie sie Gerlach angibt, bei höheren Wirbelthieren gesagt haben, weil bei diesen leicht Complicationen haben eintreten können, die dem verhältnissmässig einfachen Rückenmark von Ammocoeles fern geblieben sind.

     

    Überdiess habe ich selbst schon erwähnt, dass auch im Rückenmark von Ammocoetes möglicherweise eine zweite Art von Fasern in den hinteren Wurzeln existirt, deren Ursprung ver

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    Über den Ursprung der hinteren Nervenwurzeln etc.

     

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    schieden ist von demjenigen, den ich für einen Theil der hinteren Wurzelfasern nachgewiesen habe..

     

    Erklärung der Abbildungen.

     

    Fig. 1. Die Hälfte eines Querschnittes des Rückenmarks von Ammocoeles, aus Müller'scher Flüssigkeit. Ein Stück der vorderen, äusseren Ecke fehlt.

     

    e. Centralkanal,

     

    A. Hinterzelle,

     

    haf. Hinterzellenfortsatz, M. f. Müller'sche Faser,

     

    r. Vorderhorn.

     

    Fig. 2. Ein Querschnitt durch den ganzen Ammocortes, Chromsänrepräparat. Die den Rückenmarkskanal umgebenden Geweb sind nur theilweise

     

    gezeichnet.

     

    Ch. Chorda dorsalis.

     

    Che. Die drei Schichten der inneren Chordascheide,

     

    a. Dura mater.

     

    p. Pia mater.

     

    ar. Zellen und elastische Fasern im Arachnoidealramm.

     

    m. Muskelsegmente.

     

    #. L. Querschnitt des nervus

     

    M. Müller'sche Faser.

     

    e. Centralkanal.

     

    h. Hinterzelle.

     

    h. f. Hinterzellenfaser.

     

    Daneben andere Wurzelfasern,

     

    f. die man nicht zu Hinterzellen verfolgen kann.

     

    h. w. hintere Wurzel.

     

    s. G. umgebendes fetthaltiges Gewebe, in dem bei Petromyzon das

     

    knorplige Skelet liegt.

     

    lateralis.

     

    Aus der k. k. Hof- und Staatsdruckerei in Wien

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    Bitungod kad it.With naturw.CHEXXVII 6th 1877

  • S.

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