Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens 1912-005/1918
  • S.

    XIV.
    BEITRÄGE ZUR PSYCHOLOGIE DES LIEBESLEBENS.

    IL

    ÜBER DIE ALLGEMEINSTE ERNIEDRIGUNG
    DES LIEBESLEBENS. *)

    Wenn der psychoanalytische Praktiker sich fragt, wegen
    welches Leidens er am häufigsten um Hilfe angegangen wird,
    so muß er — absehend von der vielgestaltigen Angst — ant-
    worten: wegen psychischer Impotenz. Diese sonderbare
    Stôrung betrifft Männer von stark libidinôsem Wesen und
    äußert sich darin, daß die Exekutivorgane der Sexualität die
    Ausführung des geschlechtlichen Aktes verweigern, obwohl
    sie sich vorher und nachher als intakt und leistungsfähig
    erweisen können, und obwohl eine starke psychische Geneigt-
    heit zur Ausführung des Aktes besteht, Die erste Anleitung
    zum Verständnis seines Zustandes erhält der Kranke selbst,
    wenn er die Erfahrung macht, daß ein solches Versagen nur
    beim Versuch mit gewissen Personen auftritt, während es
    bei anderen niemals in Frage kommt. Er weiß dann, daß es
    eine Eigenschaft des Sexualobjektes ist, von welcher die
    Hemmung seiner männlichen Potenz ausgeht, und berichtet
    manchmal, er habe die Empfindung eines Hindernisses in

    *) Jahrbuch für psychoanalytische und Pa KO che For-
    schungen, Bd. IV, 1912.

  • S.

    214 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    seinem Innern, die Wahrnehmung eines Gegenwillens, der die
    bewuBte Absicht mit Erfolg stére. Er kann aber nicht er-
    raten, was dies innere Hindernis ist und welche Eigenschaft
    des Sexualobjektes es zur Wirkung bringt. Hat er solches
    Versagen wiederholt erlebt, so urteilt er wohl in bekannter
    fehlerhafter Verknüpfung, die Erinnerung an das erste Mal
    habe als störende Angstvorstellung die Wiederholungen er-
    zwungen; das erste Mal selbst führt er aber auf einen ,,zu-
    fälligen“ Eindruck zurück,

    Psychoanalytische Studien über die psychische Impotenz
    sind bereits von mehreren Autoren angestellt und veröffent-
    licht worden.*) Jeder Analytiker kann die dort gebotenen
    Aufklärungen aus eigener ärztlicher Erfahrung bestätigen,
    Es handelt sich wirklich um die hemmende Einwirkung ge-
    wisser psychischer Komplexe, die sich der Kenntnis des In-
    dividuums entziehen. Als allgemeinster Inhalt dieses patho-
    genen Materials hebt sich die nicht überwundene inzestuöse
    Fixierung an Mutter und Schwester hervor. Außerdem ist
    der Einfluß von akzidentellen peinlichen Eindrücken, die sich
    an die infantile Sexualbetätigung knüpfen, zu berücksichtigen
    und jene Momente, die ganz allgemein die auf das weibliche
    Sexualobjekt zu richtende Libido verringern.**)

    Unterzieht man Fålle von greller psychischer Impotenz
    einem eindringlichen Studium mittels der Psychoanalyse, so
    gewinnt man folgende Auskunft über die dabei wirksamen
    psychosexuellen Vorgånge. Die Grundlage des Leidens ist

    *) M. Steiner, Die funktionelle Impotenz des Mannes und ihre
    Behandlung, 1907. — W. Stekel in ,,Nervôse Angstzustånde und ihre
    Behandlung“, Wien 1908 (2. Auflage 1912). — Ferenczi, Analytische
    Devtung und Behandlung der psychosexuellen Impotenz beim Manne.
    (Psychiat.-neurol. Wochenschrift, 1908.)

    +) W. Stekel, 1. c, S. 191 ff.

  • S.

    XIV. BEITRÄGE ZUR PSYCHOLOGIE DES LIEBESLEBENS. IL 215

    hier wiederum — wie sehr wahrscheinlich bei allen neuro-
    tischen Störungen — eine Hemmung in der Entwicklungs-
    geschichte der Libido bis zu ihrer normal zu nennenden End-
    gestaltung. Es sind hier zwei Strömungen nicht zusammen-
    getroffen, deren Vereinigung erst ein völlig normales Liebes-
    verhalten sichert, zwei Strömungen, die wir als die zúrt-
    liche und die sinnliche voneinander unterscheiden können,

    Von diesen beiden Strömungen ist die zärtliche die
    ältere. Sie stammt aus den frühesten Kinderjahren, hat sich
    auf Grund der Interessen des Selbsterhaltungstriebes gebildet
    und richtet sich auf die Personen der Familie und die Voll-
    zieher der Kinderpflege. Sie hat von Anfang an Beiträge
    von den Sexualtrieben, Komponenten von erotischem Inter-
    esse mitgenommen, die schon in der Kindheit mehr oder
    minder deutlich sind, beim Neurotiker in allen Fällen durch
    die spätere Psychoanalyse aufgedeckt werden. Sie ent-
    spricht der primären kindlichen Objektwahl. Wir
    ersehen aus ihr, daß die Sexualtriebe ihre ersten Objekte
    in der Anlehnung an die Schätzungen der Ichtriebe finden,
    gerade so, wie die ersten Sexualbefriedigungen in Anlehnung
    an die zur Lebenserhaltung notwendigen Körperfunktionen
    erfahren werden, Die „Zärtlichkeit“ der Eltern und Pflege-
    personen, die ihren erotischen Charakter selten verleugnet
    („das Kind ein erotisches Spielzeug“), tut sehr viel dazu,
    die Beiträge der Erotik zu den Besetzungen der Ichtriebe
    beim Kinde zu erhöhen und sie auf ein Maß zu bringen, wel-
    ches in der späteren Entwicklung in Betracht kommen muß,
    besonders wenn gewisse andere Verhältnisse dazu ihren Bei-
    stand leihen.

    Diese zärtlichen Fixierungen des Kindes setzen sich
    durch die Kindheit fort und nehmen immer wieder Erotik

  • S.

    216 "SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    „mit sich, welche dadurch von ihren sexuellen Zielen abge-
    lenkt wird. Im Lebensalter der Pubertåt tritt nun die måch-
    tige „sinnliche“ Strömung hinzu, die ihre Ziele nicht mehr
    verkennt, Sie versäumt es anscheinend niemals, die früheren
    Wege zu gehen und nun mit weit stärkeren Libidobeträgen
    die Objekte der primären infantilen Wahl zu besetzen. Aber
    da sie dort auf die unterdessen aufgerichteten Hindernisse
    der Inzestschranke stößt, wird sie das Bestreben äußern,
    von diesen real ungeeigneten Objekten möglichst bald den
    Übergang zu anderen, fremden Objekten zu finden, mit denen
    sich ein reales Sexualleben durchführen läßt. Diese fremden
    Objekte werden immer noch nach dem Vorbild (der Imago)
    der infantilen gewählt werden, aber sie werden mit der Zeit
    die Zärtlichkeit an sich ziehen, die an die früheren ge-
    kettet war. Der Mann wird Vater und Mutter verlassen —
    nach der biblischen Vorschrift — und seinem Weibe nach-
    gehen, Zärtlichkeit und Sinnlichkeit sind dann beisammen,
    Die höchsten Grade von sinnlicher Verliebtheit werden die
    höchste psychische Wertschätzung mit sich bringen. (Die
    normale Überschätzung ‚des Sexualobjekts von seiten des
    Mannes.)

    Für das Mißlingen dieses Fortschrittes im Entwicklungs-
    gang der Libido werden zwei Momente maßgebend sein,
    Erstens das Maß von realer Versagung, welches sich
    der neuen Objektwahl entgegensetzen und sie für das Indi-
    viduum entwerten wird. Es hat ja keinen Sinn, sich der
    Objektwahl zuzuwenden, wenn man überhaupt nicht wählen
    darf oder keine Aussicht hat, etwas Ordentliches wählen zu
    können. Zweitens das Maß der Anziehung, welches die
    zu verlassenden infantilen Objekte äußern können, und das
    proportional ist der erotischen Besetzung, die ihnen noch

  • S.

    XIV. BEITRÄGE ZUR PSYCHOLOGIE DES LIEBESLEBENS. II. 217

    in der Kindheit zu teil wurde. Sind diese beiden Faktoren
    stark genug, so tritt der allgemeine Mechanismus der Neu-
    rosenbildung in Wirksamkeit, Die Libido wendet sich von
    der Realität ab, wird von der Phantasietåtigkeit aufgenom-
    men (Introversion), verstärkt die Bilder der ersten Sexual-
    objekte, fixiert sich an dieselben. Das Inzesthindernis nôtigt
    aber die diesen Objekten zugewendete Libido, im UnbewuBten
    zu verbleiben. Die Betätigung der jetzt dem Unbewubten
    angehórigen sinnlichen Strömung in onanistischen Akten tut
    das Ihrige dazu, um diese Fixierung zu verstårken, Es ån-
    dert nichts an diesem Sachverhalt, wenn der Fortschritt nun
    in der Phantasie vollzogen wird, der in der Realität miB-
    glückt ist, wenn in den zur onanistischen Befriedigung füh-
    renden Phantasiesituationen die ursprünglichen Sexualobjekte
    durch fremde ersetzt werden. Die Phantasien werden durch
    девер Ersatz bewuBtseinsfåhig, an der realen Unterbringung
    der Libido wird ein Fortschritt nicht vollzogen.

    Es kann auf diese Weise geschehen, daB die ganze Sinn-
    lichkeit eines jungen Menschen im UnbewuBtsein ‏מה‎ 6
    Objekte gebunden oder, wie wir auch sagen kónnen, an un-
    bewufite inzestuóse Phantasien fixiert wird. Das Ergebnis
    ist dann eine absolute Impotenz, die etwa noch durch die
    gleichzeitig erworbene wirkliche Schwächung der den Sexual-
    akt ausführenden Organe versichert wird.

    Für das Zustandekommen der eigentlich sogenannten
    psychischen Impotenz werden mildere Bedingungen erfordert.
    Die sinnliche Strómung darf nicht in ihrem ganzen Betrag
    dem Schicksal verfallen, sich hinter der zårtlichen verbergen
    zu müssen, sie muß stark oder ungehemmt genug geblieben
    sein, um sich zum Teil den Ausweg in die Realität zu er-
    zwingen. Die Sexualbetåtigung solcher Personen 1486 aber

  • S.

    218 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    an den deutlichsten Anzeichen erkennen, daß nicht die volle
    psychische Triebkraft hinter ihr steht. Sie ist launenhaft,
    leicht zu stören, oft in der Ausführung inkorrekt, wenig ge-
    nubreich. Vor allem aber muß sie der zärtlichen Strömung
    ‚ausweichen. Es ist also eine Beschränkung in der Objekt-
    wahl hergestellt worden. Die aktiv gebliebene sinnliche Strö-
    mung sucht nur nach Objekten, die nicht an die ihr ver-
    pönten inzestuösen Personen mahnen; wenn von einer Person
    ein Eindruck ausgeht, der zu hoher psychischer Wertschätzung
    führen könnte, so läuft er nicht in Erregung der Sinnlichkeit,
    ‚sondern in erotisch unwirksame Zärtlichkeit aus. Das Liebes-
    leben solcher Menschen bleibt in die zwei Richtungen ge-
    spalten, die von der Kunst als himmlische und irdische (oder
    tierische) Liebe personifiziert werden. Wo sie lieben, be-
    gehren sie nicht, und wo sie begehren, können sie nicht lieben.
    Sie suchen nach Objekten, die sie nicht zu lieben brauchen,
    um ihre Sinnlichkeit von ihren geliebten Objekten fernzu-
    halten, und das sonderbare Versagen der psychischen Impo-
    tenz tritt nach den Gesetzen der ,Komplexempfindlichkeit*
    und der „Rückkehr des Verdrängten“ dann auf, wenn an dem
    zur Vermeidung des Inzests gewählten Objekt ein oft un-
    scheinbarer Zug an das zu vermeidende Objekt erinnert.
    Das Hauptschutzmittel gegen solche Störung, dessen sich
    der Mensch in dieser Liebesspaltung bedient, besteht in der
    psychischen Erniedrigung des Sexualobjektes, während
    die dem Sexualobjekt nøtmalerweise zustehende Uberschåtzung
    dem inzestuósen Objekt und dessen Vertretungen reserviert
    wird. Sowie die Bedingung der Erniedrigung erfüllt ist, kann
    sich die Sinnlichkeit frei äußern, bedeutende sexuelle Lei-
    stungen und hohe Lust entwickeln. Zu diesem Ergebnis trägt
    noch ein anderer Zusammenhang bei. Personen, bei denen

  • S.

    XIV. BEITRÄGE ZUR PSYCHOLOGIE DES LIEBESLEBENS. II. 219

    die zärtliche und die sinnliche Strömung nicht ordentlich
    zusammengeflossen sind, haben auch meist ein wenig ver-
    feinertes Liebesleben; perverse Sexualziele sind bei ihnen
    erhalten geblieben, deren Nichterfüllung als empfindliche
    LusteinbuBe verspürt wird, deren Erfüllung aber nur am
    erniedrigten, geringgesehatzten Sexualobjekt möglich er-
    scheint.

    Die in dem ersten Beitrag*) erwåhnten Phantasien des
    Knaben, welche die Mutter zur Dirne herabsetzen, werden
    nun nach ihren Motiven verständlich. Es sind Bemühungen,
    die Kluft zwischen den beiden Strömungen des Liebeslebens
    wenigstens in der Phantasie zu überbrücken, die Mutter durch
    Erniedrigung zum Objekt für die Sinnlichkeit zu gewinnen.

    ER

    Wir haben uns bisher mit einer årztlich-psychologischen
    Untersuchung der psychischen Impotenz beschaftigt, welche
    in der Uberschrift dieser Abhandlung keine Rechtfertigung
    findet. Es wird sich aber zeigen, daß wir dieser Einleitung
    bedurft haben, um den Zugang zu unserem eigentlichen
    Thema zu finden.

    Wir haben die psychische Impotenz reduziert auf das
    Nichtzusammentreffen der zårtlichen und der sinnlichen
    Strömung im Liebesleben und diese Entwicklungshemmung
    selbst erklärt durch die Einflüsse der starken Kindheits-
    fixierungen und der späteren Versagung in der Realität bei
    Dazwischenkunft der Inzestschranke. Gegen diese Lehre ist
    vor allem eines einzuwenden: sie gibt uns zu viel, sie er-
    klärt uns, warum gewisse Personen an psychischer Impotenz

    *) Jahrbuch für psychoanalyt. und psychopatholog. Forschungen,
    Bd. II, S. 391.

  • S.

    220 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    leiden, 1äßt uns aber råtselhaft erscheinen, daß andere diesem
    Leiden entgehen konnten. Da alle in Betracht kommenden
    ersichtlichen Momente, die starke Kindheitsfixierung, die
    Inzestschranke und die Versagung in den Jahren der Ent-
    wicklung nach der Pubertät bei so ziemlich allen Kultur-
    menschen als vorhanden anzuerkennen sind, wire die Erwar-
    tung berechtigt, daß die psychische Impotenz ein allgemeines
    Kulturleiden und nicht die Krankheit einzelner sei.

    Es läge nahe, sich dieser Folgerung dadurch zu ent-
    ziehen, daß man auf den quantitativen Faktor der Krankheits-
    verursachung hinweist, auf jenes Mehr oder Minder im Bei-
    trag der einzelnen Momente, von dem es abhängt, ob ein
    kenntlicher Krankheitserfolg zu stande kommt oder nicht.
    Aber obwohl ich diese Antwort als richtig anerkennen möchte,
    habe ich doch nicht die Absicht, die Folgerung selbst hiemit
    abzuweisen. Ich will im Gegenteil die Behauptung aufstellen,
    daß die psychische Impotenz weit verbreiteter ist, als man
    glaubt, und daß ein gewisses Maß dieses Verhaltens tat-
    sächlich das Liebesleben des Kulturmenschen charakterisiert.

    Wenn man den Begriff der psychischen Impotenz weiter
    faßt und ihn nicht mehr auf das Versagen der Koitusaktion
    bei vorhandener Lustabsicht und bei intaktem Genitalapparat
    einschränkt, so kommen zunächst alle jene Männer hinzu,
    die man als Psychanästhetiker bezeichnet, denen die Aktion
    nie versagt, die sic aber ohne besonderen Lustgewinn voll-
    ziehen; Vorkommnisse, die häufiger sind, als man glauben
    möchte, Die psychoanalytische Untersuchung solcher Fälle
    deckt die nämlichen ätiologischen Momente auf, welche wir
    bei der psychischen Impotenz im engeren Sinne gefunden
    haben, ohne daß die symptomatischen Unterschiede zunächst
    eine Erklärung finden. Von den anästhetischen Männern führt

  • S.

    XIV. BEITRÄGE ZUR PSYCHOLOGIE DES LIEBESLEBENS, II. 221

    eine leicht zu rechtfertigende Analogie zur ungeheuren An-
    zahl der frigiden Frauen, deren Liebesverhalten tatsåchlich
    nicht besser beschrieben oder verstanden werden kann als
    durch die Gleichstellung mit der geråuschvolleren psychischen
    Impotenz des Mannes.*)

    Wenn wir aber nicht nach ciner Erweiterung des Be-
    griffes der psychischen Impotenz, sondern nach den Ab-
    schattungen ihrer Symptomatologie ausschauen, dann können
    wir uns der Kinsicht nicht verschliefen, daB das Liebesver-
    halten des Mannes in unserer heutigen Kulturwelt überhaupt
    den Typus der psychischen Impotenz an sich trågt. Die
    zårtliche und die sinnliche Strömung sind bei den wenigsten
    unter den Gebildeten gehörig miteinander verschmolzen; fast
    immer fühlt sich der Mann in seiner sexuellen Betätigung
    durch den Respekt vor dem Weibe beengt und entwickelt
    seine volle Potenz erst, wenn er ein erniedrigtes Sexualobjekt
    vor sich hat, was wiederum durch den Umstand mitbegriindet
    ist, daß in seine Sexualziele perverse Komponenten eingehen,
    die er am geachteten Weibe zu befriedigen sich nicht ge-
    traut. Einen vollen sexuellen Genuß gewährt es ihm nur,
    wenn er sich ohne Rücksicht der Befriedigung hingeben darf,
    was er z B. bei seinem gesitteten Weibe nicht wagt. Daher
    rührt dann sein Bedürfnis nach einem erniedrigten Sexual-
    objekt, einem Weibe, das ethisch minderwertig ist, dem er
    ästhetische Bedenken nicht zuzutranen braucht, das ihn nicht
    in seinen anderen Lebensbeziehungen kennt und beurteilen
    kann, Einem solchen Weibe widmet er am liebsten seine
    sexuelle Kraft, auch wenn seine Zärtlichkeit durchaus einem
    hóherstehenden gehört, Möglicherweise ist auch die so häufig

    *) Wobei gerne zugestanden sein soll, daß die Frigidität der Frau
    ein komplexes, auch von anderer Seite her zugiingliches Thema ist.

  • S.

    222 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    zu beachtende Neigung von Männern der höchsten Gesell-
    schaftsklassen, ein Weib aus niederem Stande zur dauernden
    Geliebten oder selbst zur Ehefrau zu wihlen, nichts anderes
    als die Folge des Bediirfnisses nach dem erniedrigten Sexual-
    objekt, mit welchem psychologisch die Möglichkeit der vollen
    Befriedigung verkniipft ist.

    Ich stehe nicht an, die beiden bei der echten psychischen
    Impotenz wirksamen Momente, die intensive inzestuóse Fixie-
    rung der Kindheit und die reale Versagung der Jiinglingszeit
    auch fiir dies so häufige Verhalten der kulturellen Männer
    im Liebesleben verantwortlieh zu machen. Es klingt wenig an-
    mutend und überdies paradox, aber es muß doch gesagt wer-
    den, daB, wer im Liebesleben wirklich frei und damit auch
    glücklich werden soll, den Respekt vor dem Weibe über-
    wunden, sich mit der Vorstellung des Inzests mit Mutter
    oder Schwester befreundet haben muß. Wer sich dieser An-
    forderung gegenüber einer ernsthaften Selbstprüfung unter-
    wirft, wird ohne Zweifel in sich finden, daß er den Sexualakt
    im Grunde doch als etwas Erniedrigendes beurteilt, was nicht
    nur leiblich befleckt und verunreinigt. Die Entstehung dieser
    Wertung, die er sich gewiß nicht gerne bekennt, wird er
    nur in jener Zeit seiner Jugend suchen können, in welcher
    seine sinnliche Strömung bereits stark entwickelt, ihre Be-
    friedigung aber am fremden Objekt fast ebenso verboten war
    wie die am inzestuôsen.

    Die Frauen stehen in unserer Kulturwelt unter einer
    åhnlichen Nachwirkung ihrer Erziehung und iiberdies unter
    der Riickwirkung des Verhaltens der Månner. Es ist fiir sie
    natirlich ebensowenig giinstig, wenn ihnen der Mann nicht
    mit seiner vollen Potenz entgegentritt, wie wenn die anfång-
    liche Uberschåtzung der Verliebtheit nach der Besitzergrei-

  • S.

    XIV. BEITRÄGE ZUR PSYCHOLOGIE DES LIEBESLEBENS. II. 223

    fung von Geringschåtzung abgelöst wird. Von einem Be-
    diirfnis nach Erniedrigung des Sexualobjektes ist bei der Frau
    wenig zu bemerken; im Zusammenhange damit steht es ge-
    wil, wenn sie auch etwas der Sexualüberschätzung beim
    Manne Ahnliches in der Regel nicht zu stande bringt. Die
    lange Abhaltung von der Sexualitåt und das Verweilen der
    Sinnlichkeit in der Phantasie hat fiir sie aber eine andere
    bedeutsame Folge, Sie kann dann oft die Verkniipfung der
    sinnlichen Betätigung mit dem Verbot nicht mehr auflösen
    und erweist sich als psychisch impotent, d. i. frigid, wenn
    ihr solche Betätigung endlich gestattet wird. Daher rührt
    bei vielen Frauen das Bestreben, das Geheimnis noch bei
    erlaubten Beziehungen eine Weile festzuhalten, bei anderen
    die Fähigkeit normal zu empfinden, sobald die Bedingung
    des Verbotes in einem geheimen Liebesverhältnis wiederher-
    gestellt ist; dem Manne untreu, sind sie im stande, dem
    Liebhaber eine Treue zweiter Ordnung zu bewahren.

    Ich meine, die Bedingung des Verbotenen im weiblichen
    Liebesleben ist dem Bedürfnis nach Erniedrigung des Sexual-
    objektes beim Manne gleichzustellen. Beide sind Folgen des
    langen Aufschubes zwischen Geschlechtsreife und Sexual-
    betätigung, den die Erziehung aus kulturellen Gründen for-
    dert. Beide suchen die psychische Impotenz aufzuheben,
    welche aus dem Nichtzusammentreffen zärtlicher und sinn-
    licher Regungen resultiert. Wenn der Erfolg der nämlichen
    Ursachen beim Weibe so sehr verschieden von dem beim
    Manne ausfällt, so läßt sich dies vielleicht auf einen an-
    deren Unterschied im Verhalten der beiden Geschlechter
    zurückführen. Das kulturelle Weib pflegt das Verbot der
    Sexualbetätigung während der Wartezeit nicht zu über-
    schreiten und erwirbt so die innige Verknüpfung zwischen

  • S.

    224 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.

    Verbot und Sexualität. Der Mann durchbricht zumeist dieses
    Verbot unter der Bedingung der Erniedrigung des Objektes
    und nimmt daher diese Bedingung in sein spåteres Liebes-
    leben mit. :

    Angesichts der in der heutigen Kulturwelt so lebhaften
    Bestrebungen nach einer Reform des Sexuallebens, ist es
    nicht überflüssig daran zu erinnern, daß die psychoanalytische
    Forschung Tendenzen so wenig kennt wie irgend eine andere.
    Sie will nichts anderes als Zusammenhänge aufdecken, in-
    dem sie Offenkundiges auf Verborgenes zurückführt. Es
    soll ihr dann recht sein, wenn die Reformen sich ihrer Er-
    mittlungen bedienen, um Vorteilhafteres an Stelle des Schäd-
    lichen zu setzen. Sie kann aber nicht vorhersagen, ob andere
    Institutionen nicht andere, vielleicht schwerere Opfer zur
    Folge haben müßten, ⑥

    III.

    Die Tatsache, daß die kulturelle Zügelung des Liebes-
    lebens eine allgemeinste Erniedrigung der Sexualobjekte mit
    sich bringt, mag uns veranlassen, unseren Blick von den
    Objekten weg auf die Triebe selbst zu lenken. Der Schaden
    der anfänglichen Versagung des Sexualgenusses äußert sich
    darin, daB dessen spåtere Freigebung in der Ehe nicht mehr
    voll befriedigend wirkt, Aber auch die uneingeschränkte
    Sexualfreiheit von Anfang an führt zu keinem besseren Er-
    gebnis. Es ist leicht festzustellen, daß der psychische Wert
    des Liebesbediirfnisses sofort sinkt, sobald ihm die Befrie-
    digung bequem gemacht wird. Es bedarf eines Hindernisses,
    um die Libido in die Hohe zu treiben, und wo die natiir-
    lichen Widerstånde gegen die Befriedigung nicht ausreichen,
    haben die Menschen zu allen Zeiten konventionelle einge-

  • S.

    XIV. BEITRÄGE ZUR PSYCHOLOGIE DES LIEBESLEBENS. I. 225

    schaltet, um die Liebe genießen zu können. Dies gilt fiir
    Individuen wie fiir Volker. In Zeiten, in denen die Liebes-
    befriedigung keine Schwierigkeiten fand, wie etwa während
    des Nicderganges der antiken Kultur, wurde die Liebe wert-
    los, das Leben leer, und es bedurfte starker Reaktionsbildun-
    gen, um die unentbehrlichen Affektwerte wieder herzustellen,
    In diesem Zusammenhange kann man behaupten, daß die as-
    ketische Strömung des Christentums für die Liebe psychische
    Wertungen geschaffen hat, die ihr das heidnische Altertum
    nie verleihen konnte, Zur höchsten Bedeutung gelangte sie bei
    den asketischen Mönchen, deren Leben fast allein von dem
    Kampfe gegen die libidinôse Versuchung ausgefüllt war.
    Man ist gewiß zunächst geneigt, die Schwierigkeiten, die
    sich hier ergeben, auf allgemeine Eigenschaften unserer orga-
    nischen Triebe zurückzuführen. Es ist gewiß auch allgemein
    richtig, daß die psychische Bedeutung eines Triebes mit seiner
    Versagung steigt. Man versuche es, eine Anzahl der aller-
    differenziertesten Menschen gleichmäßig dem Hungern aus-
    zusetzen. Mit der Zunahme des gebieterischen Nahrungs-
    bedürfnisses werden alle individuellen Differenzen sich ver-
    wischen und an ihrer Statt die uniformen Äußerungen des
    einen ungestillten Triebes auftreten, Aber trifft es auch zu,
    daß mit der Befriedigung eines Triebes sein psychischer
    Wert allgemein so sehr herabsinkt? Man denke 2. B. an
    das Verhältnis des Trinkers zum Wein. Ist es nicht richtig,
    daß dem Trinker der Wein immer die gleiche toxische Be-
    friedigung bietet, die man mit der erotischen so oft in der
    Poesic verglichen hat und auch vom Standpunkte der wissen-
    schaftlichen Auffassung vergleichen darf? Hat man je da-
    von gehört, daß der Trinker genötigt ist, sein Getränk be-
    ständig zu wechseln, weil ihm das gleichbleibende bald nicht

    Freud, Neurosenlehre. IV. 15

  • S.

    226 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    mehr schmeckt? Im Gegenteil, die Gewöhnung knüpft das
    Band zwischen dem Manne und der Sorte Wein, die er trinkt,
    immer enger. Kennt man beim Trinker ein Bedürfnis in ein
    Land zu gehen, in dem der Wein teuer oder der Weingenuß
    verboten ist, um seiner sinkenden Befriedigung durch die
    Einschiebung solcher Erschwerungen aufzuhelfen? Nichts
    von alldem. Wenn man die Äußerungen unserer großen Alko-
    holiker, z. B. Bôcklins, über ihr Verhältnis zum Wein an-
    hort,*) es klingt wie die reinste Harmonie, ein Vorbild einer
    glücklichen Ehe. Warum ist das Verhältnis des Liebenden
    zu seinem Sexualobjekt so sehr anders? i

    Ich glaube, man müßte sich, so befremdend es auch
    klingt, mit der Möglichkeit beschäftigen, daß etwas in der
    Natur des Sexualtriebes selbst dem Zustandekommen der
    vollen Befriedigung nicht günstig ist. Aus der langen und
    schwierigen Entwicklungsgeschichte des Triebes heben sich
    sofort zwei Momente hervor, die man fiir solche Schwierigkeit
    verantwortlich machen könnte. Erstens ist infolge des zwei-
    maligen Ansatzes zur Objektwahl mit Dazwischenkunft der
    Inzestschranke das endgültige Objekt des Sexualtriebes 6
    mehr das ursprüngliche, sondern nur ein Surrogat dafür.
    Die Psychoanalyse hat uns aber gelehrt: wenn das urspriing-
    liche Objekt einer Wunschregung infolge von Verdrängung
    verloren gegangen ist, so wird es häufig durch eine unend-
    liche Reihe von Ersatzobjekten vertreten, von denen doch
    keines voll genügt, Dies mag uns die Unbeständigkeit in
    der Objektwahl, den ,,Reizhunger" erklären, der dem Liebes-
    leben der Erwachsenen so håufig eignet.

    Zweitens wissen wir, daf der Sexualtrieb anfånglich in
    eine groBe Reihe von Komponenten zerfållt, — vielmehr aus
    7 の ₪. Floerke, Zehn Jahre mit Bócklin. 2. Aufl, 1902, S. 16.

  • S.

    XIV. BEITRÄGE ZUR PSYCHOLOGIE DES LIEBESLEBENS, IL 227

    einer solchen hervorgeht —, von denen nicht alle in dessen
    spätere Gestaltung aufgenommen werden können, sondern vor-
    her unterdrückt oder anders verwendet werden müssen. Hs
    sind vor allem die koprophilen Triebanteile, die sich als un-
    verträglich mit unserer ästhetischen Kultur erwiesen, wahr-
    scheinlich, seitdem wir durch den aufrechten Gang unser
    Riechorgan von der Erde abgehoben haben; ferner ein gutes
    Stück der sadistischen Antriebe, die zum Liebesleben ge-
    hören. Aber alle solche Entwicklungsvorgånge betreffen nur
    die oberen Schichten der komplizierten Struktur. Die fun-
    damentellen Vorgänge, welche die Liebeserregung liefern, blei-
    ben ungeåndert. Das Exkrementelle ist allzu innig und un-
    trennbar mit dem Sexuellen verwachsen, die Lage der Geni-
    talien —- inter urinas et faeces — bleibt das bestimmende
    unverånderliche Moment. Man könnte hier ein bekanntes
    Wort des großen Napoleon variierend sagen: dic Anatomic
    ist das Schicksal. Die Genitalien selbst haben dic Entwick-
    lung der menschlichen Kórperformen zur Schönheit nicht
    mitgemacht, sie sind tierisch geblieben, und so ist auch die
    Liebe im Grunde heute ebenso animalisch, wie sie es vou
    jeher war. Die Liebestriebe sind schwer erziehbar, ihre Er-
    ziehung ergibt bald zu viel, bald zu wenig. Das, was die
    Kultur aus ihr machen will, scheint ohne fühlbare Einbufe
    an Lust nicht erreichbar, die Fortdauer der unverwerteten
    Regungen gibt sich bei der Sexualtátigkeit als Unbefriedi-
    gung zu erkennen. ⑧

    So müßte man sich denn vielleicht mit dem Gedanken
    befreunden, daß eine Ausgleichung der Ansprüche des Sexual-
    triebes mit den Anforderungen der Kultur überhaupt nicht
    möglich ist, daß Verzicht und Leiden sowie in weitester
    Ferne die Gefahr des Erlóschens des Menschengeschlechtes

    15%

  • S.

    228 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV

    infolge seiner Kulturentwicklung nicht abgewendet werden
    können. Diese trübe Prognose ruht allerdings auf der ein-
    zigen Vermutung, daß die kulturelle Unbefriedigung die not-
    wendige Folge gewisser Besonderheiten ist, welche der Sexual-
    trieb unter dem Drucke der Kultur angenommen hat. Die näm-
    liche Unfähigkeit des Sexualtriebes, volle Befriedigung zu
    ergeben, sobald er den ersten Anforderungen der Kultur un-
    terlegen ist, wird aber zur Quelle der großartigsten Kultur-
    leistungen, welche durch immer weiter gehende Sublimierung
    seiner Triebkomponenten bewerkstelligt werden. Denn wel-
    ches Motiv hätten die Menschen, sexuelle Triebkrafte an-
    deren Verwendungen zuzuführen, wenn sich aus denselben bei
    irgend einer Verteilung volle Lustbefriedigung ergeben hätte?
    Sie kämen von dieser Lust nicht wieder los und brächten
    keinen weiteren Fortschritt zu stande, So scheint es, daß
    sie durch die unausgleichbare Differenz zwischen den An-
    forderungen der beiden Triebe — des sexuellen und des ego-
    istischen — zu immer höheren Leistungen befähigt werden,
    allerdings unter einer beständigen Gefährdung, welcher die
    Schwächeren gegenwärtig in der Form der Neurose erliegen,

    Die Wissenschaft hat weder die Absicht, zu schrecken
    noch zu trösten. Aber ich bin selbst gern bereit, zuzugeben,
    daß so weittragende Schlußfolgerungen, wie die obenstehen-
    den, auf breiterer Basis aufgebaut sein sollten, und daß viel-
    leicht andere Entwicklungseinrichtungen der Menschheit das
    Ergebnis der hier isoliert behandelten zu korrigieren vermögen.