Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne 1910-004/1924.2
  • S.

    3

    I

    ÜBER EINEN BESONDEREN TYPUS DER OBJEKTWAHL
    BEIM MANNE1)

    Wir haben es bisher den Dichtern überlassen, uns zu schildern, 
    nach welchen „Liebesbedingungen“ die Menschen ihre Objektwahl 
    treffen, und wie sie die Anforderungen ihrer Phantasie mit der 
    Wirklichkeit in Einklang bringen. Die Dichter verfügen auch 
    über manche Eigenschaften, welche sie zur Lösung einer solchen 
    Aufgabe befähigen, vor allem über die Feinfühligkeit für die 
    Wahrnehmung verborgener Seelenregungen bei anderen und den 
    Mut, ihr eigenes Unbewußtes laut werden zu lassen. Aber der 
    Erkenntniswert ihrer Mitteilungen wird durch einen Umstand 
    herabgesetzt. Die Dichter sind an die Bedingung gebunden, 
    intellektuelle und ästhetische Lust sowie bestimmte Gefühls-
    wirkungen zu erzielen, und darum können sie den Stoff der 
    Realität nicht unverändert darstellen, sondern müssen Teilstücke 
    desselben isolieren, störende Zusammenhänge auflösen, das Ganze 
    mildern und Fehlendes ersetzen. Es sind dies Vorrechte der soge-
    nannten „poetischen Freiheit“. Auch können sie nur wenig 

    1)Der erste Beitrag („Über einen besonderen Typus der Objektwahl 
    beim Manne“) erschien zuerst 1910 im „Jahrbuch für psychoanalytische und 
    psychopathologische Forschungen“, Band II; der zweite (Über die all-
    gemeine Erniedrigung des Liebeslebens“) 1912, ebendort, Band IV; beide 
    dann, mitsamt dem dritten („Das Tabu der Virginität“) unter dem 
    gemeinsamen Obertitel („Beiträge zur Psychopathologie des Liebeslebens“) in der 
    Vierten Folge der „Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre“. Die vor-
    liegende Veröffentlichung ist die erste in selbständiger Buchform. [Anmerkung 
    des Verlages.]

  • S.

    4

    Interesse für die Herkunft und Entwicklung solcher seelischer 
    Zustände äußern, die sie als fertige beschreiben. Somit wird es 
    doch unvermeidlich, daß die Wissenschaft mit plumperen Händen 
    und zu geringerem Lustgewinne sich mit denselben Materien 
    beschäftige, an deren dichterischer Bearbeitung sich die Menschen 
    seit Tausenden von Jahren erfreuen. Diese Bemerkungen mögen 
    zur Rechtfertigung einer streng wissenschaftlichen Bearbeitung 
    auch des menschlichen Liebeslebens dienen. Die Wissenschaft ist 
    eben die vollkommenste Lossagung vom Lustprinzip, die unserer 
    psychischen Arbeit möglich ist.

    Während der psychoanalytischen Behandlungen hat man reich-
    lich Gelegenheit, sich Eindrücke aus dem Liebesleben der Neurotiker 
    zu holen, und kann sich dabei erinnern, daß man ähnliches Verhalten 
    auch bei durchschnittlich Gesunden oder selbst bei hervorragenden 
    Menschen beobachtet oder erfahren hat. Durch Häufung der 
    Eindrücke infolge zufälliger Gunst des Materials treten dann 
    einzelne Typen deutlicher hervor. Einen solchen Typus der männ-
    lichen Objektwahl will ich hier zuerst beschreiben, weil er 
    sich durch eine Reihe von „Liebesbedingungen“ auszeichnet, 
    deren Zusammentreffen nicht verständlich, ja eigentlich befrem-
    dend ist, und weil er eine einfache psychoanalytische Aufklärung 
    zuläßt.

    1.) Die erste dieser Liebesbedingungen ist als geradezu spezifisch 
    zu bezeichnen; sobald man sie vorfindet, darf man nach dem 
    Vorhandensein der anderen Charaktere dieses Typus suchen. Man 
    kann sie die Bedingung des „Geschädigten Dritten“ nennen; 
    ihr Inhalt geht dahin, daß der Betreffende niemals ein Weib 
    zum Liebesobjekt wählt, welches noch frei ist, also ein Mädchen 
    oder eine alleinstehende Frau, sondern nur ein solches Weib, auf 
    das ein anderer Mann als Ehegatte, Verlobter, Freund Eigentums-
    rechte geltend machen kann. Diese Bedingung zeigt sich in 
    manchen Fällen so unerbittlich, daß dasselbe Weib zuerst übersehen 

  • S.

    5

    oder selbst verschmäht werden kann, solange es niemandem 
    angehört, während es sofort Gegenstand der Verliebtheit wird, 
    sobald es in eine der genannten Beziehungen zu einem anderen 
    Manne tritt.

    2.) Die zweite Bedingung ist vielleicht minder konstant, aber 
    nicht weniger auffällig. Der Typus wird erst durch ihr Zusammen-
    treffen mit der ersten erfüllt, während die erste auch für sich 
    allein in großer Häufigkeit vorzukommen scheint. Diese zweite 
    Bedingung besagt, daß das keusche und unverdächtige Weib 
    niemals den Reiz ausübt, der es zum Liebesobjekt erhebt, sondern 
    nur das irgendwie sexuell anrüchige, an dessen Treue und Ver-
    läßlichkeit ein Zweifel gestattet ist. Dieser letztere Charakter mag 
    in einer bedeutungsvollen Reihe variieren, von dem leisen 
    Schatten auf dem Ruf einer dem Flirt nicht abgeneigten Ehefrau 
    bis zur offenkundig polygamen Lebensführung einer Kokotte 
    oder Liebeskünstlerin, aber auf irgend etwas dieser Art wird 
    von den zu unserem Typus Gehörigen nicht verzichtet. Man mag 
    diese Bedingung mit etwas Vergröberung die der „Dirnenliebe“ 
    heißen.

    Wie die erste Bedingung Anlaß zur Befriedigung von agonalen, 
    feindseligen Regungen gegen den Mann gibt, dem man das 
    geliebte Weib entreißt, so steht die zweite Bedingung, die der 
    Dirnenhaftigkeit des Weibes, in Beziehung zur Betätigung der 
    Eifersucht, die für Liebende dieses Typus ein Bedürfnis zu 
    sein scheint. Erst wenn sie eifersüchtig sein können, erreicht die 
    Leidenschaft ihre Höhe, gewinnt das Weib seinen vollen Wert, 
    und sie versäumen nie, sich eines Anlasses zu bemächtigen, der 
    ihnen das Erleben dieser stärksten Empfindungen gestattet. Merk-
    würdigerweise ist es nicht der rechtmäßige Besitzer der Geliebten, 
    gegen den sich diese Eifersucht richtet, sondern neu auf-
    tauchende Fremde, mit denen man die Geliebte in Verdacht 
    bringen kann. In grellen Fällen zeigt der Liebende keinen Wunsch, 
    das Weib für sich allein zu besitzen, und scheint sich in dem 

  • S.

    6

    dreieckigen Verhältnis durchaus wohl zu fühlen. Einer meiner 
    Patienten, der unter den Seitensprüngen seiner Dame entsetzlich 
    gelitten hatte, hatte doch gegen ihre Verheiratung nichts einzu-
    wenden, sondern förderte diese mit allen Mitteln; gegen den 
    Mann zeigte er dann durch Jahre niemals eine Spur von Eifer-
    sucht. Ein anderer typischer Fall war in seinen ersten Liebes-
    beziehungen allerdings sehr eifersüchtig gegen den Ehegatten 
    gewesen und hatte die Dame genötigt, den ehelichen Verkehr 
    mit diesem einzustellen; in seinen zahlreichen späteren Verhält-
    nissen benahm er sich aber wie die anderen und faßte den 
    legitimen Mann nicht mehr als Störung auf.

    Die folgenden Punkte schildern nicht mehr die vom Liebesobjekt 
    geforderten Bedingungen, sondern das Verhalten des Liebenden 
    gegen das Objekt seiner Wahl.

    3.) Im normalen Liebesleben wird der Wert des Weibes durch 
    seine sexuelle Integrität bestimmt und durch die Annäherung an 
    den Charakter der Dirnenhaftigkeit herabgesetzt. Es erscheint 
    daher als eine auffällige Abweichung vom Normalen, daß von 
    den Liebenden unseres Typus die mit diesem Charakter behafteten 
    Frauen als höchstwertige Liebesobjekte behandelt wer-
    den. Die Liebesbeziehungen zu diesen Frauen werden mit dem 
    höchsten psychischen Aufwand bis zur Aufzehrung aller anderen 
    Interessen betrieben; sie sind die einzigen Personen, die man 
    lieben kann, und die Selbstanforderung der Treue wird jedesmal 
    wieder erhoben, so oft sie auch in der Wirklichkeit durchbrochen 
    werden mag. In diesen Zügen der beschriebenen Liebesbeziehungen 
    prägt sich überdeutlich der zwanghafte Charakter aus, welcher 
    ja in gewissem Grade jedem Falle von Verliebtheit eignet. Man 
    darf aber aus der Treue und Intensität der Bindung nicht die 
    Erwartung ableiten, daß ein einziges solches Liebesverhältnis das 
    Liebesleben der Betreffenden ausfülle oder sich nur einmal innerhalb 
    desselben abspiele. Vielmehr wiederholen sich Leidenschaften dieser 
    Art mit den gleichen Eigentümlichkeiten – die eine das genaue

  • S.

    7

    Abbild der anderen – mehrmals im Leben der diesem Typus 
    Angehörigen, ja die Liebesobjekte können nach äußeren Bedin-
    gungen, z. B. Wechsel von Aufenthalt und Umgebung, einander 
    so häufig ersetzen, daß es zur Bildung einer langen Reih
    kommt.

    4.) Am überraschendsten wirkt auf den Beobachter die bei den 
    Liebenden dieses Typus sich äußernde Tendenz, die Geliebte zu 
    retten“. Der Mann ist überzeugt, daß die Geliebte seiner 
    bedarf, daß sie ohne ihn jeden sittlichen Halt verlieren und rasch 
    auf ein bedauernswertes Niveau herabsinken würde. Er rettet sie 
    also, indem er nicht von ihr läßt. Die Rettungsabsicht kann sich 
    in einzelnen Fällen durch die Berufung auf die sexuelle Unver-
    läßlichkeit und die sozial gefährdete Position der Geliebten recht-
    fertigen; sie tritt aber nicht minder deutlich hervor, wo solche 
    Anlehnungen an die Wirklichkeit fehlen. Einer der zum beschrie-
    benen Typus gehörigen Männer, der seine Damen durch kunst-
    volle Verführung und spitzfindige Dialektik zu gewinnen verstand, 
    scheute dann im Liebesverhältnis keine Anstrengung, um die 
    jeweilige Geliebte durch selbstverfaßte Traktate auf dem Wege 
    der „Tugend“ zu erhalten.

    Überblickt man die einzelnen Züge des hier geschilderten 
    Bildes, die Bedingungen der Unfreiheit und der Dirnenhaftigkeit 
    der Geliebten, die hohe Wertung derselben, das Bedürfnis nach 
    Eifersucht, die Treue, die sich doch mit der Auflösung in eine 
    lange Reihe verträgt, und die Rettungsabsicht, so wird man eine 
    Ableitung derselben aus einer einzigen Quelle für wenig wahr-
    scheinlich halten. Und doch ergibt sich eine solche leicht bei 
    psychoanalytischer Vertiefung in die Lebensgeschichte der in 
    Betracht kommenden Personen. Diese eigentümlich bestimmte 
    Objektwahl und das so sonderbare Liebesverhalten haben dieselbe 
    psychische Abkunft wie im Liebesleben des Normalen, sie ent-
    springen aus der infantilen Fixierung der Zärtlichkeit an die 
    Mutter und stellen einen der Ausgänge dieser Fixierung dar. Im 

  • S.

    8

    normalen Liebesleben erübrigen nur wenige Züge, welche das 
    mütterliche Vorbild der Objektwahl unverkennbar verraten, so 
    zum Beispiel die Vorliebe junger Männer für gereiftere Frauen; 
    die Ablösung der Libido von der Mutter hat sich verhältnis-
    mäßig rasch vollzogen. Bei unserem Typus hingegen hat die 
    Libido auch nach dem Eintritt der Pubertät so lange bei der 
    Mutter verweilt, daß den später gewählten Liebesobjekten die 
    mütterlichen Charaktere eingeprägt bleiben, daß diese alle zu 
    leicht kenntlichen Muttersurrogaten werden. Es drängt sich hier 
    der Vergleich mit der Schädelformation des Neugeborenen auf; 
    nach protrahierter Geburt muß der Schädel des Kindes den Aus-
    guß der mütterlichen Beckenenge darstellen.

    Es obliegt uns nun, wahrscheinlich zu machen, daß die charakte-
    ristischen Züge unseres Typus, Liebesbedingungen wie Liebes-
    verhalten, wirklich der mütterlichen Konstellation entspringen. 
    Am leichtesten dürfte dies für die erste Bedingung, die der 
    Unfreiheit des Weibes oder des geschädigten Dritten, gelingen. 
    Man sieht ohne weiteres ein, daß bei dem in der Familie auf-
    wachsenden Kinde die Tatsache, daß die Mutter dem Vater 
    gehört, zum unabtrennbaren Stück des mütterlichen Wesens wird, 
    und daß kein anderer als der Vater selbst der geschädigte Dritte 
    ist. Ebenso ungezwungen fügt sich der überschätzende Zug, daß 
    die Geliebte die Einzige, Unersetzliche ist, in den infantilen 
    Zusammenhang ein, denn niemand besitzt mehr als eine 
    Mutter, und die Beziehung zu ihr ruht auf dem Fundament 
    eines jedem Zweifel entzogenen und nicht zu wiederholenden 
    Ereignisses.

    Wenn die Liebesobjekte bei unserem Typus vor allem Mutter-
    surrogate sein sollen, so wird auch die Reihenbildung verständ-
    lich, welche der Bedingung der Treue so direkt zu widersprechen 
    scheint. Die Psychoanalyse belehrt uns auch durch andere Bei-
    spiele, daß das im Unbewußten wirksame Unersetzliche sich 
    häufig durch die Auflösung in eine unendliche Reihe kundgibt, 

  • S.

    9

    unendlich darum, weil jedes Surrogat doch die erstrebte Befrie-
    digung vermissen läßt. So erklärt sich die unstillbare Fragelust 
    der Kinder in gewissem Alter daraus, daß sie eine einzige Frage 
    zu stellen haben, die sie nicht über ihre Lippen bringen, die 
    Geschwätzigkeit mancher neurotisch geschädigter Personen aus dem 
    Drucke eines Geheimnisses, das zur Mitteilung drängt, und das 
    sie aller Versuchung zum Trotze doch nicht verraten.

    Dagegen scheint die zweite Liebesbedingung, die der Dirnen-
    haftigkeit des gewählten Objekts, einer Ableitung aus dem 
    Mutterkomplex energisch zu widerstreben. Dem bewußten Denken 
    des Erwachsenen erscheint die Mutter gern als Persönlichkeit 
    von unantastbarer sittlicher Reinheit, und wenig anderes wirkt, 
    wenn es von außen kommt, so beleidigend, oder wird, wenn es 
    von innen aufsteigt, so peinigend empfunden wie ein Zweifel an 
    diesem Charakter der Mutter. Gerade dieses Verhältnis von 
    schärfstem Gegensatze zwischen der „Mutter“ und der „Dirne“ 
    wird uns aber anregen, die Entwicklungsgeschichte und das unbe-
    wußte Verhältnis dieser beiden Komplexe zu erforschen, wenn 
    wir längst erfahren haben, daß im Unbewußten häufig in Eines 
    zusammenfällt, was im Bewußtsein in zwei Gegensätze gespalten 
    vorliegt. Die Untersuchung führt uns dann in die Lebenszeit 
    zurück, in welcher der Knabe zuerst eine vollständigere Kenntnis 
    von den sexuellen Beziehungen zwischen den Erwachsenen 
    gewinnt, etwa in die Jahre der Vorpubertät. Brutale Mitteilungen 
    von unverhüllt herabsetzender und aufrührerischer Tendenz machen 
    ihn da mit dem Geheimnis des Geschlechtslebens bekannt, zer-
    stören die Autorität der Erwachsenen, die sich als unvereinbar mit 
    der Enthüllung ihrer Sexualbetätigung erweist. Was in diesen 
    Eröffnungen den stärksten Einfluß auf den Neueingeweihten 
    nimmt, das ist deren Beziehung zu den eigenen Eltern. Dieselbe 
    wird oft direkt von dem Hörer abgelehnt, etwa mit den Worten: 
    Es ist möglich, daß deine Eltern und andere Leute so etwas 
    miteinander tun, aber von meinen Eltern ist es ganz unmöglich.

  • S.

    10

    Als selten fehlendes Korollar zur „sexuellen Aufklärung“ 
    gewinnt der Knabe auch gleichzeitig die Kenntnis von der 
    Existenz gewisser Frauen, die den geschlechtlichen Akt erwerbs-
    mäßig ausüben und darum allgemein verachtet werden. Ihm 
    selbst muß diese Verachtung ferne sein; er bringt für diese 
    Unglücklichen nur eine Mischung von Sehnsucht und Grausen 
    auf, sobald er weiß, daß auch er von ihnen in das Geschlechts-
    leben eingeführt werden kann, welches ihm bisher als der aus-
    schließliche Vorbehalt der „Großen“ galt. Wenn er dann den 
    Zweifel nicht mehr festhalten kann, der für seine Eltern eine 
    Ausnahme von den häßlichen Normen der Geschlechtsbetätigung 
    fordert, so sagt er sich mit zynischer Korrektheit, daß der Unter-
    schied zwischen der Mutter und der Hure doch nicht so groß 
    sei, daß sie im Grunde das nämliche tun. Die aufklärenden Mit-
    teilungen haben nämlich die Erinnerungsspuren seiner frühinfantilen 
    Eindrücke und Wünsche in ihm geweckt und von diesen aus 
    gewisse seelische Regungen bei ihm wieder zur Aktivität gebracht. 
    Er beginnt die Mutter selbst in dem neugewonnenen Sinne zu 
    begehren und den Vater als Nebenbuhler, der diesem Wunsche 
    im Wege steht, von neuem zu hassen; er gerät, wie wir sagen, 
    unter die Herrschaft des Ödipuskomplexes. Er vergißt es der 
    Mutter nicht und betrachtet es im Lichte einer Untreue, daß sie 
    die Gunst des sexuellen Verkehres nicht ihm, sondern dem Vater 
    geschenkt hat. Diese Regungen haben, wenn sie nicht rasch 
    vorüberziehen, keinen anderen Ausweg, als sich in Phantasien 
    auszuleben, welche die Sexualbetätigung der Mutter unter den 
    mannigfachsten Verhältnissen zum Inhalte haben, deren Spannung 
    auch besonders leicht zur Lösung im onanistischen Akte führt. 
    Infolge des beständigen Zusammenwirkens der beiden treibenden 
    Motive, der Begehrlichkeit und der Rachsucht, sind Phantasien 
    von der Untreue der Mutter die bei weitem bevorzugten; der 
    Liebhaber, mit dem die Mutter die Untreue begeht, trägt fast 
    immer die Züge des eigenen Ichs, richtiger gesagt, der eigenen, 

  • S.

    11

    idealisierten, durch Altersreifung auf das Niveau des Vaters 
    gehobenen Persönlichkeit. Was ich an anderer Stelle1 als „Familien-
    roman“ geschildert habe, umfaßt die vielfältigen Ausbildungen 
    dieser Phantasietätigkeit und deren Verwebung mit verschiedenen 
    egoistischen Interessen dieser Lebenszeit. Nach Einsicht in dieses 
    Stück seelischer Entwicklung können wir es aber nicht mehr 
    widerspruchsvoll und unbegreiflich finden, daß die Bedingung 
    der Dirnenhaftigkeit der Geliebten sich direkt aus dem Mutter-
    komplex ableitet. Der von uns beschriebene Typus des männlichen 
    Liebeslebens trägt die Spuren dieser Entwicklungsgeschichte an 
    sich und läßt sich einfach verstehen als Fixierung an die Pubertäts-
    phantasien des Knaben, die späterhin den Ausweg in die Realität 
    des Lebens doch noch gefunden haben. Es macht keine 
    Schwierigkeiten anzunehmen, daß die eifrig geübte Onanie der 
    Pubertätsjahre ihren Beitrag zur Fixierung jener Phantasien 
    geleistet hat.

    Mit diesen Phantasien, welche sich zur Beherrschung des 
    realen Liebeslebens aufgeschwungen haben, scheint die Tendenz, 
    die Geliebte zu retten, nur in lockerer, oberflächlicher und 
    durch bewußte Begründung erschöpfbarer Verbindung zu stehen. 
    Die Geliebte bringt sich durch ihre Neigung zur Unbeständigkeit 
    und Untreue in Gefahren, also ist es begreiflich, daß der Liebende 
    sich bemüht, sie vor diesen Gefahren zu behüten, indem er ihre 
    Tugend überwacht und ihren schlechten Neigungen entgegen-
    arbeitet. Indes zeigt das Studium der Deckerinnerungen, Phan-
    tasien und nächtlichen Träume der Menschen, daß hier eine 
    vortrefflich gelungene „Rationalisierung“ eines unbewußten 
    Motivs vorliegt, die einer gut geratenen sekundären Bearbeitung 
    im Traume gleichzusetzen ist. In Wirklichkeit hat das Rettungsmotiv 
    seine eigene Bedeutung und Geschichte und ist ein 
    selbständiger Abkömmling des Mutter‑ oder, richtiger gesagt, des

    1)O. Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden, 1909. (Schriften zur ange-
    wandten Seelenkunde, Heft 5.) 2. Auflage 1922.

  • S.

    12

    Elternkomplexes. Wenn das Kind hört, daß es sein Leben den 
    Eltern verdankt, daß ihm die Mutter „das Leben 
    geschenkt“ hat, so vereinen sich bei ihm zärtliche mit groß-
    mannssüchtigen, nach Selbständigkeit ringenden Regungen, um 
    den Wunsch entstehen zu lassen, den Eltern dieses Geschenk 
    zurückzuerstatten, es ihnen durch ein gleichwertiges zu vergelten. 
    Es ist, wie wenn der Trotz des Knaben sagen wollte: Ich brauche 
    nichts vom Vater, ich will ihm alles zurückgeben, was ich ihn 
    gekostet habe. Er bildet dann die Phantasie, den Vater aus 
    einer Lebensgefahr zu retten, wodurch er mit ihm quitt 
    wird, und diese Phantasie verschiebt sich häufig genug auf den 
    Kaiser, König oder sonst einen großen Herrn und wird nach 
    dieser Entstellung bewußtseinsfähig und selbst für den Dichter 
    verwertbar. In der Anwendung auf den Vater überwiegt bei 
    weitem der trotzige Sinn der Rettungsphantasie, der Mutter 
    wendet sie meist ihre zärtliche Bedeutung zu. Die Mutter hat 
    dem Kinde das Leben geschenkt, und es ist nicht leicht, dies 
    eigenartige Geschenk durch etwas Gleichwertiges zu ersetzen. Bei 
    geringem Bedeutungswandel, wie er im Unbewußten erleichtert 
    ist – was man etwa dem bewußten Ineinanderfließen der Begriffe 
    gleichstellen kann – gewinnt das Retten der Mutter die Bedeu-
    tung von: ihr ein Kind schenken oder machen, natürlich ein 
    Kind, wie man selbst ist. Die Entfernung vom ursprünglichen 
    Sinne der Rettung ist keine allzu große, der Bedeutungswandel 
    kein willkürlicher. Die Mutter hat einem ein Leben geschenkt, 
    das eigene, und man schenkt ihr dafür ein anderes Leben, das 
    eines Kindes, das mit dem eigenen Selbst die größte Ähnlichkeit 
    hat. Der Sohn erweist sich dankbar, indem er sich wünscht, von 
    der Mutter einen Sohn zu haben, der ihm selbst gleich ist, das 
    heißt, in der Rettungsphantasie identifiziert er sich völlig mit 
    dem Vater. Alle Triebe, die zärtlichen, dankbaren, lüsternen, 
    trotzigen, selbstherrlichen, sind durch den einen Wunsch befriedigt, 
    sein eigener Vater zu sein. Auch das Moment der Gefahr 

  • S.

    13

    ist bei dem Bedeutungswandel nicht verloren gegangen; der 
    Geburtsakt selbst ist nämlich die Gefahr, aus der man durch die 
    Anstrengung der Mutter gerettet wurde. Die Geburt ist ebenso 
    die allererste Lebensgefahr wie das Vorbild aller späteren, vor 
    denen wir Angst empfinden, und das Erleben der Geburt hat 
    uns wahrscheinlich den Affektausdruck, den wir Angst heißen, 
    hinterlassen. Der Macduff der schottischen Sage, den seine 
    Mutter nicht geboren hatte, der aus seiner Mutter Leib geschnitten 
    wurde, hat darum auch die Angst nicht gekannt.

    Der alte Traumdeuter Artemidoros hatte sicherlich Recht 
    mit der Behauptung, der Traum wandle seinen Sinn je nach der 
    Person des Träumers. Nach den für den Ausdruck unbewußter 
    Gedanken geltenden Gesetzen kann das „Retten“ seine Bedeutung 
    variieren, je nachdem es von einer Frau oder von einem Manne 
    phantasiert wird. Es kann ebensowohl bedeuten: ein Kind machen 
    = zur Geburt bringen (für den Mann) wie: selbst ein Kind 
    gebären (für die Frau).

    Insbesondere in der Zusammensetzung mit dem Wasser lassen 
    sich diese verschiedenen Bedeutungen des Rettens in Träumen 
    und Phantasien deutlich erkennen. Wenn ein Mann im Traume 
    eine Frau aus dem Wasser rettet, so heißt das: er macht sie zur 
    Mutter, was nach den vorstehenden Erörterungen gleichsinnig 
    ist dem Inhalte: er macht sie zu seiner Mutter. Wenn eine Frau 
    einen anderen (ein Kind) aus dem Wasser rettet, so bekennt sie 
    sich damit wie die Königstochter in der Mosessage1 als seine Mutter, 
    die ihn geboren hat.

    Gelegentlich enthält auch die auf den Vater gerichtete Rettungs-
    phantasie einen zärtlichen Sinn. Sie will dann den Wunsch aus-
    drücken, den Vater zum Sohne zu haben, das heißt einen Sohn 
    zu haben, der so ist wie der Vater. Wegen all dieser Beziehungen 
    des Rettungsmotivs zum Elternkomplex bildet die Tendenz, die

    1)Rank, l. c.

  • S.

    14

    Geliebte zu retten, einen wesentlichen Zug des hier beschriebenen 
    Liebestypus.

    Ich halte es nicht für notwendig, meine Arbeitsweise zu recht-
    fertigen, die hier wie bei der Aufstellung der Analerotik 
    darauf hinausgeht, aus dem Beobachtungsmaterial zunächst extreme 
    und scharf umschriebene Typen herauszuheben. Es gibt in beiden 
    Fällen weit zahlreichere Individuen, in denen nur einzelne Züge 
    dieses Typus, oder diese nur in unscharfer Ausprägung festzustellen 
    sind, und es ist selbstverständlich, daß erst die Darlegung des 
    ganzen Zusammenhanges, in den diese Typen aufgenommen sind, 
    deren richtige Würdigung ermöglicht.