Über libidinöse Typen 1931-001/1932
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    ÜBER LIBIDINOSE TYPEN

    Von

    Sigm. Freud
    Aus dem XVII. Band (1931) der Internationalen Zeit-
    schrift für Psychoanalyse". (Jährlich vier Hefte im Ge-
    samtumfang von etwa 600 Seiten. M. 28-.)
    Unsere Beobachtung zeigt uns, daß die einzelnen
    menschlichen Personen das allgemeine Bild des Men-
    schen in einer kaum übersehbaren Mannigfaltigkeit ver-
    wirklichen. Wenn man dem berechtigten Bedürfnis nach-
    gibt, in dieser Menge einzelne Typen zu unterscheiden,
    so wird man von vorneherein die Wahl haben, nach
    welchen Merkmalen und von welchen Gesichtspunkten
    man diese Sonderung vornehmen soll. Körperliche Eigen-
    schaften werden für diesen Zweck gewiß nicht weniger
    brauchbar sein als psychische; am wertvollsten werden
    solche Unterscheidungen sein, die ein regelmäßiges Bei-
    sammensein von körperlichen und seelischen Merkmalen
    versprechen.
    Es ist fraglich, ob es uns bereits jetzt möglich ist,
    Typen von solcher Leistung herauszufinden, wie es
    später einmal auf einer noch unbekannten Basis gewiß
    gelingen wird. Beschränkt man sich auf die Bemühung,
    bloß psychologische Typen aufzustellen, so haben die
    Verhältnisse der Libido den ersten Anspruch, der Ein-
    teilung als Grundlage zu dienen. Man darf fordern, daß
    diese Einteilung nicht bloß aus unserem Wissen oder
    unseren Annahmen über die Libido abgeleitet sei, sondern
    daß sie sich auch in der Erfahrung leicht wiederfinden
    lasse und daß sie ihr Teil dazu beitrage, die Masse
    unserer Beobachtungen für unsere Auffassung zu klären.
    Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß diese libidinösen

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    Typen auch auf psychischem Gebiet nicht die einig
    möglichen zu sein brauchen, und daß man, von anderen
    Eigenschaften ausgehend, vielleicht eine game Reihe
    anderer psychologischer Typen aufstellen kann. Für alle
    solche Typen muß gelten, daß sie nicht mit Krankheits-
    bildern zusammenfallen dürfen. Sie sollen im Gegenteil
    alle die Variationen umfassen, die nach unserer prall:-
    tisch gerichteten Schätzung in die Breite des Nurmnlen
    fallen. Wohl aber können sie sich in ihren extremen
    Ausbildungen den Krankheitsbildern annähern und sol-
    cherart die vermeintliche Kluft zwischen dem Normalen
    und dem Pathologisehen ausfüllen helfen.

    Nun lassen sich je nach der vorwiegenden Unterbrin—
    gung der Libido in den Provinzen des seelischen Appumta
    drei libidinöse Haupttypen unterscheiden. Deren Namen-
    gebung ist nicht ganz leicht; in Anlehnung an unsere
    Tiefenpsychologie möchte ich sie als den erotischen,
    den narzißtischen und den Zwangstypus be-
    zeichnen.

    Der erotische Typus ist leicht zu charakterisieren.
    Die Erotiker sind Personen, deren Hauptinteresse —- der
    relativ größte Betrag ihrer Libido — dem Liebesleben
    angewendet ist. Lieben, besonders aber Geliebtwerden. ist
    ihnen das Wichtigste. Sie werden von der Angst vor
    dem Liebesverlnst beherrscht und sind darum besonders
    abhängig von den anderen, die ihnen die Liebe Versagen
    können. Dieser Typus ist auch in seiner reinen Form
    recht häufig. Variationen desselben ergeben sich je nach
    der Vermengung mit einem andern Typus und dem
    gleichzeitigen Ausmaß von Aggression. Sozial wie lm]-
    turell vertritt dieser Typus die elementaren Triehan-
    sprüche des Es, dem die andern psychischen Instanzen
    gefügig geworden sind.

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    Der zweite Typus, dem ich den zunächst befremd-
    lichen Namen Zwangstypus gegeben habe, zeichnet
    sich durch die Vorherrschaft des Über—Ichs aus, das
    sich unter hoher Spannung vom Ich absondert. Er wird
    von der Gewissensangst beherrscht an Stelle der Angst
    vor dem Liebesverlust, zeigt eine sozusagen innere Ab—
    hängigkeit anstatt der äußeren, entfaltet ein hohes Maß
    von Selbständigkeit und wird sozial zum eigentlichen,
    vorwiegend konservativen Träger der Kultur.

    Der dritte, mit gutem Recht n a rz i L') tisch geheißene
    Typus ist wesentlich negativ charakterisiert. Keine Spam»
    nung zwischen Ich und Über-Ich, — man würde von
    diesem Typus her kaum zur Aufstellung, eines Über—
    lchs gekommen sein, — keine Ubermacht der erotischen
    Bedürfnisse, das Hauptinteresse auf die Selbsterhallung
    gerichtet, unabhängig und wenig eingeschüchtert. Dem
    Ich ist ein großes Maß von Aggression verfügbar, das
    sich auch in Bereitschaft zur Aktivität kundgibt; im
    Liebesleben wird das Lieben vor dem Geliebtwerdcn be—
    vorzugt. Menschen dieses Typus importieren den anderen
    als „l’ersönlichkeiten", sind besonders geeignet, anderen
    als Anhalt zu dienen, die Rolle von Führern zu über—
    nehmen, der Kulturentwicklung neue Anregungen zu ge-
    ben oder das Bestehende zu schädigen.

    Diese reinen Typen werden dem Verdacht der Ablei-
    tung aus der Theorie der Libido kaum entgehen. Man fühlt
    sich aber auf dem sicheren Boden der Erfahrung, wenn
    man sich nun den gemischten Typen zuwendet, die um
    so viel häufiger zur Beobachtung kommen als die reinen.
    Diese neuen Typen, der erotisch-z wnngha fte,
    der erotisch—nnrzißtische und der ne Miß—
    tische Zwangstypus, scheinen in der Tat eine gute
    Unterbringung der individuellen psychischen Strukturen,.

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    wie wir sie durch die Analyse kennen gelernt haben. zu
    gestalten. Es sind längst vertraute Charakterhilder. auf
    die man bei der Verfolgung dieser Mischtypen gerät.
    Beim erotischen Zwangstypus scheint die (beh—
    macht des Trieblebens durch den Einfluß des Über-Ich.
    eingeschränkt; die Abhängigkeit gleichzeitig von rezenten
    menschlichen Objekten und von den Relikten der Eltern,
    Erzieher und Vorbilder erreicht bei diesem Typus den
    höchsten Grad. Der erotisch-narzil$tische ist viel—
    leicht jener, dem man die größte Häufigkeit zusprechetl
    muß. Er vereinigt Gegensätze, die sich in ihm gegenseitig
    ermäßigen können; man kann an ihm im Verglehll mit
    den beiden anderen erotischen Typen lernen. daß Aggro.—
    sion und Aktivität mit der Vorherrschaft des Narzißmu.
    zusammengehen. Der narzißtische Zwengstyplll
    endlich ergibt die kulturell wertvollste Variation, indem
    er zur äußeren Unabhängigkeit und Beachtung der Ge-
    wissensforderung die Fähigkeit zur kraftvollen Betäti—

    gung hinzufügt und das Ich gegen das Über-Ich ver-
    stärkt.

    Men könnte meinen, einen Scherz zu machen, wenn
    man die Frage aufwirft, warum ein anderer theoretisch
    möglicher Mischtypus hier keine Erwähnung findet. mim—
    licb der erotisch-zwanghal't-narzißtische.
    Aber die Antwort auf diesen Scherz ist ernsthaft: weil
    ein solcher Typus kein Typus mehr wäre, sondern die
    absolute Norm, die ideale Harmonie, bedeuten würde.
    Man wird dabei inne, daß das Phänomen des Typus
    eben dadurch entsteht, daß von den drei Hauptverwalt—
    dungen der Libido im seelischen Haushalt eine oder zwei
    auf Kosten der anderen begünstigt worden sind.

    Man kann sich auch die Frage vorlegen. welches du
    Verhältnis dieser libidinösen Typen zur Pathologie ist,

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    ob einige von ihnen zum Übergang in die Neurose beson-
    ders disp0niert sind. und dann, welche Typen zu wel-
    chen Formen führen. Die Antwort wird lauten, daß die
    Aufstellung dieser libidinösen Typen kein neues Licht
    auf die Genese der Neurosen wirft. Nach dem Zeugnis
    der Erfahrung sind alle diese Typen ohne Neurose
    lebensfähig. Die reinen Typen mit dem unbestrittenen
    Übergewicht einer einzelnen seelischen Instanz scheinen
    die größere Aussicht zu haben, als reine Charakterbilder
    aufzutreten, während man von den gemischten Typen
    erwarten könnte, daß sie für die Bedingungen der Neu-
    rose einen günstigeren Boden bieten. Doch meine ich,
    man sollte über diese Verhältnisse nicht ohne besonders
    gerichtete, sorgfältige Nachprüfung entscheiden.

    Daß die erotischen Typen im Falle der Erkrankung
    Hysterie ergeben, wie die Zwangstypen Zwangsneurose,
    scheint ja leicht zu ernten, ist aber auch an der zuletzt
    betonten Unsicherheit beteiligt. Die narzißtischen Typen,
    die bei ihrer sonstigen Unabhängigkeit der Versagung
    von seiten der Außenwelt ausgesetzt sind, enthalten eine
    besondere Disposition zur Psychose, wie sie auch wesent-
    liche Bedingungen des Verbrechertums beistellen.

    Die ätiologischen Bedingungen der Neurose sind be—
    kanntlich noch nicht sicher erkannt. Die Veranlassungen
    der Neurose sind Versagungen und innere Konflikte,
    Konflikte zwischen den drei großen psychischen Instan-
    zen, Konflikte innerhalb des Libidohaushalts infolge der
    bisexuellen Anlage, zwischen den erotischen und aggres—
    siven Triebkomponenten. Was diese dem normalen psy-
    chischen Ablauf zugehörigen Vorgänge pathogen macht,
    bemüht sich die Neurosenpsychologie zu ergründen.

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