Ueber Deckerinnerungen 1899-001/1899
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    Freud, Ueber Deckerinnerungen. 215

    Ueber Deckerinnerungen.
    Von

    Dr SIGMY FREUD

    in Wien,

    Im Zusammenhange meiner psychoanalytischen Behandlungen
    (bei Hysterie, Zwangsneurose u. a.) bin ich oftmals in die Lage
    gekommen, mich um die Bruchstücke von Erinnerungen zu be-
    kümmern, die den Einzelnen aus den ersten Jahren ihrer Kind-
    heit im Gedächtnisse geblieben sind. Wie ich schon an anderer
    Stelle angedeutet habe, muss man für die Eindrücke dieser
    Lebenszeit eine grosse pathogene Bedeutung in Anspruch nehmen.
    Ein psychologisches Interesse aber ist dem Thema der Kindheits-
    erinnerungen in allen Fållen gesichert, weil hier eine funda-
    mentale Verschiedenheit zwischen dem psychischen Verhalten
    des Kindes und des Erwachsenen auffillig zu Tage tritt. Es
    bezweifelt niemand, dass die Erlebnisse unserer ersten Kinder-
    jahre unverlóschbare Spuren in unserem Seeleninnern zurück-
    gelassen haben; wenn wir aber unser Gedächtnis befragen,
    welehes die Eindrücke sind, unter deren Einwirkung bis an unser
    Lebensende zu stehen uns bestimmt ist, so liefert es uns ent-
    weder nichts oder eine relativ kleine Zahl vereinzelt stehender
    Erinnerungen von oft fragwürdigem oder rütselhaftem Wert.
    Dass das Leben vom Gedächtnis als zusammenhängende Kette
    von Begebenheiten reproduziert wird, kommt nicht vor dem
    sechsten oder siebenten, bei vielen erst nach dem zehnten Lebens-
    jahr zu Stande, Von da an stellt sich aber auch eine constante
    Beziehung zwischen der psychischen Bedeutung eines Erlebnisses
    und dessen Haften im Gedächtnis her. Was vermóge seiner
    unmittelbaren oder bald nachher erfolgten Wirkungen wichtig
    erscheint, das wird gemerkt; das für unwesentlich erachtete
    wird vergessen. Wenn ich mich an eine Begebenheit über lange
    Zeit her erinnern kann, so finde ich in der Thatsache dieser
    Erhaltung im Gedächtnisse einen Beweis dafür, dass dieselbe
    mir damals einen tiefen Eindruck gemacht hat. Ich pflege mich
    zu wundern, wenn ich etwas wichtiges vergessen, noch mehr
    vielleicht, wenn ich etwas scheinbar gleichgiltiges gemerkt haben
    sollte.
    Erst in gewissen pathologischen Seelenzustinden wird die
    für den normalen Erwachsenen giltige Beziehung zwischen
    psychischer Wichtigkeit und Gedåchtnishaftung eines Eindruckes
    wieder gelöst. Der Hysterische z. B. erweist sich regelmässig
    als amnestisch für das Ganze oder einen Teil jener Erlebnisse,

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    die zum Ausbruch seiner Leiden geführt haben, und die
    doch durch diese Verursachung fiir ihn bedeutsam geworden
    sind oder es auch abgesehen davon, nach ihrem eigenen Inhalt,
    sein mögen. Die Analogie dieser pathologischen Amnesie mit
    der normalen Amnesie für unsere Kindheitsjahre möchte ich als
    einen wertvollen Hinweis auf die intimen Beziehungen zwischen
    dem psychischen Inhalt der Neurose und unserem Kindererleben
    ansehen.

    Wir sind so sehr an diese Erinnerungslosigkeit der Kinder-
    eindriicke gewöhnt, dass wir das Problem zu verkennen pflegen,
    welches sich hinter ihr verbirgt, und geneigt sind, sie als selbst-
    verständlich aus dem rudimentåren Zustand der seelischen Thätig-
    keiten beim Kinde abzuleiten. In Wirklichkeit zeigt uns das
    normal entwickelte Kind schon im Alter von drei bis vier Jahren
    eine Unsumme hoch zusammengesetzter Seelenleistungen in
    seinen Vergleichungen, Schlussfolgerungen und im Ausdruck
    seiner Gefühle, und es ist nicht ohne Weiteres einzusehen, dass
    fiir diese, den späteren so voll gleichwertigen, psychischen Akte
    Amnesie bestehen muss.

    Eine unerlissliche Vorbedingung für dio Bearbeitung jener
    psychologischen Probleme, die sich an die ersten Kindheits-
    erinnerungen knüpfen, wäre natürlich die Sammlung von Material,
    indem man durch Umfrage feststellt, was fiir Erinnerungen aus
    dieser Lebenszeit eine grössere Anzahl von normalen Erwachsenen
    mitzuteilen vermag. Einen ersten Schritt nach dieser Richtung
    haben V. und C. Henri 1895 durch Verbreitung eines von
    ihnen aufgesetzten Fragebogens gethan; die überaus anregenden
    Ergebnisse dieser Umfrage, auf welche von 123 Personen Ant-
    worten einliefen, wurden dann von den beiden Autoren 1897 in
    L'année psychologique T. III veröffentlicht. (Enquéte sur les
    premiers souvenirs de l'enfance). Da mir aber gegenwärtig die
    Absicht ferne liegt, das Thema in seiner Vollstindigkeit zu be-
    handeln, werde ich mich mit der Hervorhebung jener wenigen
    Punkte begnügen, von denen aus ich zur Einführung der von
    mir so genannten ,Deckerinnerungen* gelangen kann.

    : Das Lebensalter, in welches der Inhalt der frühesten Kind-
    heitserinnerung verlegt wird, ist meist die Zeit zwischen zwei
    und vier Jahren (so bei 88 Personen in der Beobachtungsreihe
    der He nri). Es giebt aber Einzelne, deren Gedächtnis weiter
    zurückreicht, selbst bis in das Alter vor dem vollendeten ersten
    Jahr, und andererseits Personen, bei denen die früheste Erinne-
    rung erst aus dem sechsten, siebenten ja achten Jahre stammt.
    Womit diese individuellen Verschiedenheiten sonst zusammen-
    hängen, Jåsst sich vorlåufig nicht angeben; man bemerkt aber,
    sagen die Henri, dass eine Person, deren friiheste Erinne-
    rung in ein sehr zartes Alter fållt, etwa in's erste Lebensjahr,
    auch über weitere einzelne Erinnerungen aus den nächsten Jahren
    verfügt, und dass die Reproduction des Erlebens als fortlaufende
    Erinnerungskette bei ihr von einem früheren Termin — etwa vom

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    fünften Jahre an — anhebt als bei Anderen, deren erste Erinnerung
    in eine spätere Zeit fällt. Es ist also nicht nur der Zeitpunkt
    für das Auftreten einer ersten Erinnerung, sondern die ganze
    Function des Erinnerns bei einzelnen Personen verfrüht oder
    verspätet.

    Ein ganz besonderes Interesse wird sich der Frage zuwenden,
    welches der Inhalt dieser frühesten Kindheitserinnerungen
    zu sein pflegt. Aus der Psychologie der Erwachsenen müsste
    man die Erwartung herübernehmen, dass aus dem Stoff des Er-
    lebten solche Findriicke als merkenswert ausgewählt werden,
    welche einen mächtigen Affekt hervorgerufen haben oder durch
    ihre Folgen bald nachher als bedeutendsam erkannt worden sind.
    Ein Teil der von den Henri gesammelten Erfahrungen scheint
    diese Erwartung auch zu bestätigen, denn sie führen als die
    häufigsten Inhalte der ersten Kindheitserinnerungen einerseits
    Anlässe zu Furcht, Beschämung, Körperschmerzen und dgl.
    anderseits wichtige Begebenheiten wie Krankheiten, Todesfälle,
    Brände, Geburt von Geschwistern u. s. w. auf. Man würde
    so geneigt anzunehmen, dass das Princip der Gedächtnis-
    auswahl für die Kinderseele das nimliche sei wie für dio Er-
    wachsenen. Es ist nicht unverständlich, aber doch ausdrück-
    licher Erwähnung wert, dass die erhaltenen Kindheitserinnerungen
    ein Zeugnis dafür ablegen müssen, auf welche Eindrücke sich
    das Interesse des Kindes zum Unterschiede von dem des Er-
    wachsenen gerichtet hat. So erklärt es sich dann leicht, dass
    z. B. eine Person mitteilt, sie erinnere sich aus dem Alter von
    zwei Jahren an verschiedene Unfälle, die ihren Puppen zu-
    gestossen sind, sei aber amnestisch für die ernsten und traurigen
    Ereignisse, die sie damals hätte wahrnehmen können.

    Es steht nun im schärfsten Gegensatz zu jener Erwartung
    und muss gerechtes Befremden hervorrufen, wenn wir hören,
    dass bei manchen Personen die frühesten Kindheitserinnerungen
    alltägliche und gleichgiltige Eindrücke zum Inhalt haben, die
    beim Erleben eine Affectwirkung auch auf das Kind nicht ent-
    falten konnten, und die doch mit allen Details — man möchte
    sagen: überscharf — gemerkt worden sind, während etwa gleich-
    zeitige Ereignisse nicht im Gedächtnis behalten wurden, selbst
    wenn sie nach dem Zeugnis der Eltern seinerzeit das Kind
    intensiv ergriffen haben. So erzählen Henri von einem Pro-
    fessor der Philologie, dessen früheste Erinnerung, in die Zeit
    zwischen drei und vier Jahren verlegt, ihm das Bild eines ge-
    deckten Tisches zeigte, auf dem eine Schüssel mit Eis steht.
    In dieselbe Zeit fällt auch der Tod seiner Grossmutter, der das
    Kind nach der Aussage seiner Eltern sehr erschüttert hat. Der
    nunmehrige Professor der Philologie weiss aber nichts von diesem
    Todesfall, er erinnert sich aus dieser Zeit nur an eine Schüssel
    mit Eis.

    Ein Anderer berichtet als erste Kindheitserinnerung eine
    Episode von einem Spaziergang, auf dem er von einem Baum

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    einen Ast abbrach. Er glaubt noch heute angeben zu können,
    an welchem Ort das vorfiel. Es waren mehrere Personen mit
    dabei, und eine leistete ibm Hilfe.

    Henri bezeichnen solche Fille als selten vorkommende;
    nach meinen — allerdings zumeist bei Neurotikern gesammelten
    — Erfahrungen sind sie häufig genug. Eine der Gewährs-
    personen der Henri hat einen Erklårungsversuch fiir diese ob
    ihrer Harmlosigkeit unbegreiflichen Frinnerungsbilder gewagt,
    den ich fiir ganz zutreffend erklåren muss. Er meint, es sei in
    solchen Fällen die betreffende Scene vielleicht nur unvollständig
    in der Erinnerung erhalten; gerade darum erscheint sie nichts-
    sagend; in den vergessenen Bestandteilen wäre wohl all das ent-
    halten, was den Eindruck merkenswert machte. Ich kann be-
    stätigen, dass dies sich wirklich so verhält; nur würde ich es
    vorziehen, anstatt „vergessene Elemente des Erlebnisses“ „weg-
    gelassene“ zu sagen. Es ist mir oftmals gelungen, durch psycho-
    analytische Behandlung die fehlenden Stücke des Kinder-
    erlebnisses aufzudecken und so den Nachweis zu führen, dass
    der Eindruck, von dem ein Torso in der Erinnerung verblieben
    war, nach seiner Ergänzung wirklich der Voraussetzung von
    der Gedächtniserhaltung des Wichtigsten entsprach. Damit ist
    eine Erklärung für die sonderbare Auswahl, welche das Ge-
    dächtnis unter den Elementen eines Erlebnisses trifft, allerdings
    nicht gegeben; man muss sich erst fragen, warum gerade das
    Bedeutsame unterdrückt, das Gleichgiltige erhalten wird. Zu
    einer Erklärung gelangt man erst, wenn man tiefer in den
    Mechanismus solcher Vorgänge eindringt; man bildet sich dann
    die Vorstellung, dass zwei psychische Kräfte an dem Zustande-
    kommen dieser Erinnerungen beteiligt sind, von denen die eine
    die Wichtigkeit des Erlebnisses zum Motiv nimmt, es erinnern
    zu wollen, die andere aber — ein Widerstand — dieser Aus-
    zeichnung widerstrebt. Die beiden entgegengesetzt wirkenden
    Kräfte heben einander nicht auf; es kommt nicht dazu, dass das
    eine Motiv das andere — mit oder ohne Einbusse — über-
    wiltigt, sondern es kommt eine Compromisswirkung zu Stande,
    etwa analog der Bildung einer Resultierenden im Kräfteparallelo-
    gramm. Das Compromiss besteht hier darin, dass zwar nicht
    das . betreffende Erlebnis selbst das Erinnerungsbild abgiebt —
    hierin behält der Widerstand recht —, wohl aber ein anderes psy-
    chisches_ Element, welches mit dem anstóssigen durch nahe
    Associationswege verbunden ist; hierin zeigt sich wiederum die
    pron ao Princips, welches bedeutsame Eindrücke durch
    キ y つ h ES reproducierbaren Erinnerungsbildern feiern

    te. D olg des Conflictes ist also der, dass anstatt des
    act sc berechtigten ein anderes Erinnerungsbild zu Stande
    men ci Bogen das erstere um ein Stück in der Asso-
    inga ve ist. Е die wichtigen Bestandteile
    IN ය ga sind, welche den Anstoss wachgerufen

    > © ersetzende Erinnerung dieses wichtigen

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    Freud, Ueber Deckerinnerungen. 219

    Elementes baar sein; sie wird darum leicht banal ausfallen. Un-
    verständlich erscheint sie uns, weil wir den Grund ihrer Ge-
    dächtniserhaltung gern aus ihrem eigenen Inhalt ersehen möchten,
    wåhrend er doch in der Beziehung dieses Inhaltes zu einem
    anderen, unterdrückten Inhalt ruht. Um mich eines populären
    Gleichnisses zu bedienen, ein gewisses Erlebnis der Kinderzeit
    kommt zur Geltung im Gedåchtnis, nicht etwa weil es selbst
    Gold ist, sondern weil es bei Gold gelegen ist.

    Unter den vielen möglichen Fällen von Ersetzung eines
    psychischen Inhaltes durch einen anderen, welche alle ihre Ver-
    wirklichungin verschiedenen psychologischen Constellationen finden,
    ist der Fall, der bei den hier betrachteten Kindererinnerungen
    vorliegt, dass nåmlich die unwesentlichen Bestandteile eines Er-
    lebnisses die wesentlichen des nimlichen Erlebnisses im Ge-
    dåchtnisse vertreten, offenbar einer der einfachsten. Es ist eine
    Verschiebung auf der Contiguitätsassociation, oder wenn man den
    ganzen Vorgang in's Auge fasst, cine Verdrängung mit Er-
    setzung durch etwas benachbartes (im órtlichen und zeitlichen
    Zusammenhange). Ich habe einmal Anlass gehabt, einen sehr
    ähnlichen Fall von Ersetzung aus der Analyse einer Paranoia
    mitzuteilen!). Ich erzälte von einer hallucinierenden Frau, der
    ihre Stimmen grosse Stücke aus der „Heiterethei* von
    O. Ludwig wiederholten und zwar gerade die belang- und be-
    ziehungslosesten Stellen der Dichtung. Die Analyse wies nach,
    dass es andere Stellen derselben Geschichte waren, welche die
    peinlichsten Gedanken in der Kranken wachgerufen hatten. Der
    peinliche Affect war ein Motiv zur Abwehr, die Motive zur
    Fortsetzung dieser Gedanken waren nicht zu unterdrücken, und
    so ergab sich als Compromiss, dass die harmlosen Stellen mit
    pathologischer Stårke und Deutlichkeit in der Erinnerung hervor-
    traten. Der hier erkannte Vorgang: Conflict, Verdrångung,
    Ersetzung unter Compromissbildung kehrt bei allen psycho-
    neurotischen Symptomen wieder, er giebt den Sch tissel für das Ver-
    ständnis der Symptombildung; es ist also nicht ohne Bedeutung, wenn
    er sich auch im physischen Leben der normalen Individuen
    nachweisen låsst; dass er bei normalen Menschen die Auswahl
    gerade der Kindheitserinnerungen beeinflusst, erscheint als ein
    neuer Hinweis auf die bereits betonten innigen Beziehungen
    zwischen dem Seclenleben des Kindes und dem psychischen
    Material der Neurosen.

    Die offenbar sehr bedeutsamen Vorgånge der normalen und
    pathologischon Abwehr und die Verschiebungserfolge, zu denen
    sie führen, sind, soweit meine Kenntnis reicht, von den Psycho-
    logen noch gar nicht studiert worden, und es bleibt noch fest-
    zustellen, in welchen Schichten der psychischen Thätigkeit und
    unter welchen Bedingungen sie sicht geltend machen. Der Grund

    1) Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen. Neurol.
    Centralblatt. 1896. No. 10.

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    220 Freud, Ueber Deckerinnerungen.

    fiir diese Vernachlässigung mag wohl sein, dass unser psychisches
    Leben, insofern es Object unserer bewussten inneren Wahr-
    nehmung wird, von diesen Vorgängen nichts erkennen lässt, es
    sei denn in solchen Fällen, die wir als „Denkfehler“ classificieren,
    oder in manchen auf komischen Effect angelegten psychischen
    Operationen. Die Behauptung, dass sich eine psychische In-
    tensität von einer Vorstellung her, die dann verlassen bleibt,
    auf eine andere verschieben kann, welche nun die psychologische
    Rolle der ersteren weiterspielt, wirkt auf uns ähnlich befremdend,
    wie etwa gewisse Züge des griechischen Mythus, wenn z. B.
    Götter einen Menschen mit Schönheit wie mit einer Hülle über-
    kleiden, wo wir nur die Verklärung durch verändertes Mienen-
    spiel kennen,

    Weitere Untersuchungen über die gleichgiltigen Kindheits-
    erinnerungen haben mich dann belehrt, dass deren Ent-
    stehung noch anders zugehen kann, und dass sich hinter ihrer
    scheinbaren Harmlosigkeit eine ungeahnte Fülle von Bedeutung
    zu verbergen pflegt. Hierfür will ich mich aber nicht auf blosse
    Behauptung beschränken, sondern ein einzelnes Beispiel breit
    ausführen, welches mir unter einer grösseren Anzahl ähnlicher
    als das lehrreichste erscheint, und das durch seine Zugehörigkeit
    zu einem nicht oder nur sehr wenig neurotischen Individuum
    sicherlich an Wertschätzung gewinnt.

    Ein 38 jähriger akademisch gebildeter Mann, der sich trotz
    seines fernab liegenden Berufes ein Interesse für psychologische
    Fragen bewahrt hat, seitdem ich ihn durch Psychoanalyse von
    einer kleinen Phobie befreien konnte, lenkte im Vorjahre meine
    Aufmerksamkeit auf seine Kindheitserinnerungen, die schon in der
    Analyse eine gewisse Rolle gespielt hatten. Nachdem er mit
    der Untersuchung von V. und C. Henri bekannt geworden war,
    teilte er mir folgende zusammenfassende Darstellung mit:

    : „Ich verfūge ūber eine ziemliche Anzahl von frūhen Kind-
    heitserinnerungen, die ich mit grosser Sicherheit datieren kann.
    Im Alter von voll drei Jahren habe ich nämlich meinen kleinen
    Geburtsort verlassen, um in eine grosse Stadt zu übersiedeln;
    meine Erinnerungen spielen nun sämtlich in dem Orte, wo ich
    geboren bin, fallen also in das zweite bis dritte Jahr. Es sind
    meist kurze Scenen, aber sehr gut erhalten und mit allen Details
    der Sinneswahrnehmung gestaltet, so recht im Gegensatz zu
    meinen Erinnerungsbildern, aus reifen Jahren, denen das visuelle
    Element völlig abgeht. Vom dritten Jahr an werden die Er-
    innerungen spärlicher und weniger deutlich; es finden sich Lücken
    vor, die mehr als ein Jahr umfassen müssen; erst vom sechsten
    oder siebenten Jahre an. glaube ich, wird der Strom der Erinnerung
    continuierlich. Ich teile mir die Erinnerungen bis zum Verlassen
    meines ersten Aufenthaltes terner in drei Gruppen. Eine erste
    Gruppe bilden jene Scenen, von denen mir die Eltern nachträglich
    Wiederholt erzählt haben; ich fühle mich bei diesen nicht sicher,
    ob ich das Erinnerungsbild von Anfang an gehabt, oder ob ich

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    Freud, Ueber Deckerinnerungen. 221

    es mir erst nach einer solchen Erzählung geschaffen habe. Ich
    bemerke, dass es auch Vorfälle giebt, denen trotz mehrmaliger
    Schilderung von seiten der Eltern bei mir kein Erinnerungsbild
    entspricht. Auf die zweite Gruppe lege ich mehr Wert; es sind
    Scenen, von denen mir — soviel ich weiss — nicht erzählt
    wurde, zum Teil auch nicht erzählt werden konnte, weil ich
    ie mithandelnden Personen: Kinderfrau, Jugendgespielen nicht
    wiedergesehen habe. Von der dritten Gruppe werde ich später
    reden. Was den Inhalt dieser Scenen und somit deren Anspruch
    auf Erhaltung im Gedächtnis betrifft, so möchte ich behaupten,
    dass ich über diesen Punkt nicht ganz ohne Orientierung bin.
    Ich kann zwar nicht sagen, dass die erhaltenen Erinnerungen
    en wichtigsten Begebenheiten jener Zeit entsprechen, oder
    was ich heute so beurteilen würde. Von der Geburt einer
    Schwester, die 2*/, Jahre jünger ist als ich, weiss ich nichts;
    die Abreise, der Anblick der Eisenbahn, die lange Wagenfahrt
    vorher haben keine Spur in meinem Gedächtnis hinterlassen,
    Zwei kleine Vorfälle während der Eisenbahnfahrt habe ich mir
    agegen gemerkt; wie Sie sich erinnern, sind diese in der Ana-
    lyse meiner Phobie vorgekommen. Am meisten Eindruck hätte
    mir doch eine Verletzung im Gesicht machen müssen, bei der
    ich viel Blut verlor und vom Chirurgen genäht wurde. Ich
    kann die Narbe, die von diesem Unfall zeugt, noch heute tasten,
    aber ich weiss von keiner Erinnerung, die direct oder indirect
    auf dieses Erlebnis hinwiese. Vielleicht war ich übrigens damals
    noch nicht zwei Jahre.“

    „Demnach verwundere ich mich über die Bilder und Scenen
    der beiden ersten Gruppen nicht. Es sind allerdings verschobene
    Erinnerungen, in denen das wesentliche zumeist ausgeblieben
    ist; aber in einigen ist es zum mindesten angedeutet, in anderen
    wird es mir leicht, nach gewissen Fingerzeigen die Ergänzung
    vorzunehmen, und wenn ich so verfahre, so stellt sich mir ein
    guter Zusammenhang zwischen den einzelnen Erinnerungsbrocken
    her, und ich ersehe klar, welches kindliche Interesse gerade diese
    Vorkommnisse dem Gedächtnis empfohlen hat. Anders steht es
    aber mit dem Inhalt der dritten Gruppe, deren Besprechung ich
    mir bisher aufgespart habe. Hier handelt es sich um ein Material
    — eine längere Scene und mehrere kleine Bilder —, mit dem
    ich wirklich nichts anzufangen weiss. Die Scene erscheint mir
    ziemlich gleichgiltig, ihre Fixierung unverständlich, Erlauben
    Sie, dass ich sie Ihnen schildere: Ich sehe eine viereckige, etwas
    abschüssige Wiese, grün und dicht bewachsen; in dem Grün
    sehr viele gelbe Blumen; offenbar der gemeine Löwenzahn,
    Oberhalb der Wiese ein Bauernhaus, vor dessen Thür zwei
    Frauen stehen, die mit einander angelegentlich plaudern, die
    Bäuerin im Kopftuch und eine Kinderfrau. Auf der Wiese
    spielen drei Kinder, eines davon bin ich (zwischen zwei und
    drei Jahren alt), die beiden anderen mein Vetter, der um ein Jahr
    älter ist, und meine fast genau gleichaltrige Cousine, seine

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    222 Freud, Ueber Deckerinnerungen.

    Schwester. Wir pflücken die gelben Blumen ab und halten
    jedes eine Anzahl von bereits gepflückten in den Händen. Den
    schönsten Strauss hat das kleine Madchen; wir Buben aber fallen
    wie auf Verabredung über sie her und entreissen ihr die Blumen.
    Sie låuft weinend die Wiese hinauf und bekommt zum Trost
    von der Bäuerin ein grosses Stück Schwarzbrot. Kaum dass
    wir das gesehen haben, werfen wir die Blumen weg, eilen auch
    zum Haus nnd verlangen gleichfalls Brot. Wir bekommen es
    auch, die Båuerin schneidet den Laib mit einem langen Messer.
    Dieses Brot schmeckt mir in der Erinnerung so kostlich und
    damit bricht die Scene ab.“

    „Was an diesem Erlebnis rechtfertigt nun den Gedächtnis-
    aufwand, zo dem es mich veranlasst hat? Ich habe mir ver-
    geblich den Kopf darüber zerbrochen; liegt der Accent auf
    unserer Unliebenswiirdigkeit gegen das kleine Mädchen; sollte
    das Gelb des Lówenzahns, den ich natürlich heute gar nicht
    schon finde, meinem Auge damals so gefallen haben; oder hat
    mir nach dem Herumtollen auf der Wiese das Brot soviel besser
    geschmeckt als sonst, dass daraus ein unverlóschbarer Eindruck
    geworden ist? Beziehungen dieser Scene zu dem unschwer zu
    erratenden Interesse, welches die anderen Kinderscenen zu-
    sammenhült, kann ich auch nicht finden. Ich habe überhaupt
    den Eindruck, als ob es mit dieser Scene nicht richtig zuginge;
    das Gelb der Blumen sticht aus dem Ensemble gar zu sehr
    hervor, und der Wohlgeschmack des Brotes erscheint mir auch
    wie hallucinatorisch übertrieben. Ich muss mich dabei an Bilder
    erinnern, die ich einmal auf einer parodistischen Ausstellung
    gesehen habe, in denen gowisse Bestandteile anstatt gemalt plastisch
    aufgetragen waren, natürlich die unpassendsten, z. B. die
    Tournüren der gemalten Damen. Können Sie mir nun einen
    Weg zeigen, der zur Aufklürung oder Deutung dieser über-
    flüssigen Kindheitserinnerung führt?«

    | leh hielt es für geraten zu fragen, seit wann ihn diese
    Kindheitserinnerung beschäftige, ob er meine, dass sio seit der
    Kindheit periodisch in seinem Gedächtnis wiederkehre, oder ob
    sie etwa irgendwann spüter nach einem zu erinnernden Anlass
    aufgetaucht sei. Diese Frage war alles, was ich zur Lösung
    der Aufgabe beizutragen brauchte; das übrige fand mein Partner,
    der kein Neuling in solchen Arbeiten war, von selbst,

    Er antwortete: „Daran habe ich noch nicht gedacht. Nach-
    dem Sie mir diese Frage gestellt haben, wird es mir fast zur
    Gewissheit, dass diese Kindererinnerung mich in jüngeren Jahren
    gar nicht beschäftigt hat. Ich kann mir aber auch den Anlass
    denken, von dem die Erweckung dieser und vieler anderer Er-
    Innerungen an meine ersten Jahre ausgegangen ist. Mit 17 Jahren
    nämlich bin ich zuerst wieder als Gymnasiast zum Ferienauf-
    enthalte in meinen Heimatsort gekommen und zwar als Gast einer
    uns seit jener Vorzeit befreundeten Familie. Ich weiss sehr
    wohl, welche Fülle von Erregungen damals Besitz von mir ge-

  • S.

    Freud, Ueber Deckerinnerungen. ②②⑧

    nommen‘ hat. Aber ich sehe schon, ich muss Ihnen nun ein
    ganzes grosses Stick meiner Lebensgeschichte erzählen; es ge-
    hört dazu, und Sie haben es durch Ihre Frage heranfbeschworen.
    Hören Sie also: Ich bin das Kind von ursprünglich wohlhaben-
    den Leuten, die, wie ich glaube, in jenem kleinen Provinznest
    behaglich genug gelebt hatten. Als ich ungefihr drei Jahre alt
    war, trat eine Katastrophe in dem Industriezweig ein, mit dem
    sich der Vater beschäftigte. Er verlor sein Vermögen, und wir
    verliesson den Ort notgedrungen, um in eine grosse Stadt zu
    übersiedeln. Dann kamen lange harte Jahre; ich glaube, sie
    waren nicht wert, sich etwas daraus zu merken. In der Stadt
    fühlte ich mich nie recht behaglich; ich meine jetzt, die Sehn-
    sucht nach den schönen Wäldern der Heimat, in denen ich
    schon, kaum dass ich gehen konnte, dem Vater zu entlaufen
    pflegte, wie eine von damals erhaltene Erinnerung bezeugt, hat
    mich nie verlassen. Es waren meine ersten Ferien auf dem .
    Lande, die mit 17 Jahren, und ich war, wie gesagt, Gast einer
    befreundeten Familie, die seit unserer Uebersiedelung gross
    emporgekommen war, Ich hatte Gelegenheit, die Behäbigkeit,
    die dort herrschte, mit der Lebensweise bei uns zu Hause in
    der Stadt zu vergleichen. Nun nützt wohl kein Ausweichen mehr;
    ieh muss Ihnen gestehen, dass mich noch etwas anderes müchtig
    erregte. Ich war 17 Jahre alt, und in der gastlichen Familie
    war eine 15jährige Tochter, in die ich mich sofort verliebte.
    Es war meine erste Schwármerei, intensiv genug, aber voll-
    kommen geheim gehalten. Das Mädchen reiste nach wenigen
    Tagen ab in das Erziehungsinstitut, aus dem sie gleichíalls auf
    Ferien gekommen war, und diese Trennung nach so kurzer Be-
    kanntschaft brachte die Sehnsucht erst recht in die Hohe. Ich
    erging mich viele Stunden lang in einsamen Spaziergüngen
    ‘durch die wiedergefundenen herrlichen Wälder mit dem Aufbau
    von Luftschlóssern beschäftigt, die seltsamer Weise nicht in die
    Zukunft strebten, sondern die Vergangenheit zu verbessern
    suchten. "Wenn der Zusammenbruch damals nicht eingetreten
    wire, wenn ich in der Heimat geblieben wire, auf dem Lande
    aufgewachsen, so kräftig geworden wie die jungen Männer des
    Hauses, die Brüder der Geliebten, und wenn ich dann den Be-
    ruf des Vaters fortgesetzt hätte und endlich das Mädchen ge-
    heiratet, das ja all' die Jahre über mir hütte vertraut werden
    müssen! Ich zweifelte natürlich keinen Augenblick, dass ich sie
    unter den Umständen, welche meine Phantasien schufen, ebenso
    heiss geliebt hätte, wie ich es damals wirklich empfand. Sonder-
    bar, wenn ich sie jetzt gelegentlich sehe — sie hat zufällig hierher
    geheiratet —, ist sie mir ganz ausserordentlich gleichgiltig, und doch
    kann ich mich genau erinnern, wie lange nachher die gelbe
    Farbe des Kleides, das sie beim ersten Zusammentreffen trug,
    auf mich gewirkt, wenn ich dieselbe Farbe irgendwo wiedersah.“
    Das klingt ja ganz ähnlich wie Ihre eingeschaltete Be-
    merkung, dass Ihnen der gemeine Lówenzahn heute micht mehr

  • S.

    224 Freud, Ueber Deckerinnerungen.

    gefällt. Vermuten Sie nicht eine Beziehung zwischen dem Gelb
    in der Kleidung des Mädchens und dem so itberdeutlichen Gelb
    der Blumen in Ihrer Kinderscene? -

    „Möglich, doch war es nicht dasselbe Gelb. Das Kleid war
    eher gelbbraun wie Goldlack. Indes kann ich Ihnen wenigstens
    eine Zwischenvorstellung, die Ihnen taugen wiirde, zur Ver-
    fügung stellen. Ich habe später in den Alpen gesehen, dass
    manche Blumen, die in der Ebene lichte Farben haben, auf den
    Höhen sich in dunklere Niiancen kleiden. Wenn ich nicht sehr
    irre, giebt es auf den Bergen häufig eine dem Löwenzahn sehr
    ähnliche Blume, die aber dunkelgelb ist und dann dem Kleid
    der damals Geliebten in der Farbe ganz entsprechen wiirde.
    Ich bin aber noch nicht fertig, ich komme zu einer in der Zeit
    nahe liegenden zweiten Veranlassung, welche meine Kindheits-
    eindrücke in mir aufgerührt hat. Mit 17 Jahren hatte ich den
    Ort wiedergesehen; drei Jahre später war ich in den Ferien auf
    Besuch bei meinem Onkel, traf also die Kinder wieder, die meine
    ersten Gespielen gewesen waren, denselben um 1 Jahr älteren
    Vetter und dieselbe mit mir gleichalterige Cousine, die in der
    Kinderscene von der Löwenzahnwiese auftreten. Diese Familie
    hatte gleichzeitig mit uns meinen Geburtsort verlassen und war
    in der fernen Stadt wieder zu schönem Wohlstand gekommen.“
    Und haben Sie sich da auch wieder verliebt, diesmal in die
    Cousine, und neue Phantasien gezimmert?

    „Nein, diesmal ging es anders. Ich war schon auf der
    Universitit und gehorte ganz den Biichern; fiir meine Cousine
    hatte ich nichts übrig. Ich habe damals meines Wissens keine
    solchen Phantasien gemacht. Aber ich glaube, zwischen meinem
    Vater und meinem Onkel bestand der Plan, dass ich mein
    abstruses Studium gegen ein practisch besser verwertbares ver-
    tauschen, nach Beendigung der Studien mich im Wohnort des
    Onkels niederlassen und meine Cousine zur Frau nehmen sollte.
    Als man merkte, wie versunken in meine eigenen Absichten ich
    war, liess man wohl den Plan wieder fallen; ich meine aber,
    dass ich ihn sicher orraten habe. Später erst als junger Ge-
    lehrter, als die Not des Lebens mich hart anfasste, und ich so
    lange auf eine Stellung in dieser Stadt zu warten hatte, mag ich
    wohl manchmal daran gedacht haben, dass der Vater es eigent-
    lich gut mit mir gemeint, als er durch dieses Heiratsproject mich
    für den Verlust entschädigt wissen wollte, den jene erste
    Katastrophe mir fürs ganze Leben gebracht “

    .. In diese Zeit Ihrer schweren Kämpfe um’s Brod möchte
    ich also das Auftauchen der in Rede stehenden Kindheitsscene
    verlegen, wenn Sie mir noch bestätigen, dass Sie in denselben
    rs die erste Bekanntschaft mit der Alpenwelt geschlossen
    n.
    »Das istrichtig; Bergtouren waren damals das einzige Ver-

    gnigen, das ich mir erlaubte. Aber ich verstehe Sie noch nicht
    recht.“

  • S.

    F

    Sogleich. Aus
    Element hervor,
    schmeckt. Merken
    empfundene Vorstel
    wenn sie in der H
    heiratet hätten, wi

    symbolisch ausgedrückt, wie gut hätte Ihnen I
    um das Sie in jener späteren Zeit gekämpft

    Gelb der Blumen

    übrigens in der Kindheitsscene Elemente, di
    zweite Phantasie, wenn Sie die Cousine ge

    ziehen lassen. Die
    zutauschen, scheint
    die Thr Vater mit I
    Ideale verzichten u

    „So hätte ich al

    dass Ihnen das Landbro

    reud, Ueber Deckerinnerungen. 225
    Ihrer Kinderscene heben Sie als das intensivste
    so ausgezeichnet
    Sie nicht, dass diese fast hallucinatorisch
    ung mit der Idee Ihrer Phantasie correspondiert,
    eimat geblieben wären, jenes Mädchen ge-
    e behaglich hätte sich Ihr Leben gestaltet,
    hr Brot geschmeckt,
    haben? Und das
    cutet auf dasselbe Mädchen hin. Sie haben
    e sich nur auf die
    heiratet hätten, be-
    Blumen wegwerfen, um ein Brot dafür ein-
    mir keine üble Verkleidung für die Absicht,
    nen hatte. Sie sollten auf Thre unpractischen
    nd ein „Brotstudium“ ergreifen, nicht wahr?
    so die beiden Reihen von Phantasien, wie sich

    mein Leben behaglicher hätte gestalten können, mit einander ver-
    schmolzen, das „Gelb“ und das ,,Land“brot aus der einen, das
    Wegwerfen der Blumen und die Personen aus der anderen ent-
    nommen ?“

    So ist es; die beiden Phantasien auf einander projiciert und
    eine Kindheitserinnerung daraus gemacht. Der Zug mit den
    Alpenblumen ist dann gleichsam die Marke für die Zeit dieser
    Fabrikation. Ich kann Ihnen versichern, dass man solche Dinge
    sehr häufig unbewusst macht, gleichsam dichtet.

    „Aber dann wäre es ja keine Kindheitserinnerung, sondern
    eine in die Kindheit zurückverlegte Phantasie, Mir sagt aber
    ein Gefühl, dass die Scene echt ist. Wie vereint sich das?"

    Für die Angaben unseres Gedächtnisses giebt es überhaupt keine
    Garantie. Ich will Ihnen aber zugeben, dass die Scene echt ist;
    dann haben Sie sie aus unzihlig viel ähnlichen oder anderen
    hervorgesucht, weil sie sich vermöge ihres — an sich gleich-
    giltigen — Inhaltes zur Darstellung der beiden Phantasien eignete,
    die für Sie bedeufsam genug waren. Ich würde eine solche Er-
    innerung, deren Wert darın besteht, dass sie im Gedächtnisse
    Eindrücke und Gedanken späterer Zeit vertritt, deren Inhalt mit
    dem eigenen durch symbolische und ähnliche Beziehungen ver-
    knüpft ist, eine Deckerinnerung heissen, Jedenfalls werden
    Sie aufhören, sich über die häufige Wiederkehr dieser Scene in
    Ihrem Gedächtnis zu verwundern. Man kann sie nicht mehr
    eine harmlose nennen, wenn sie, wie wir gefunden haben, die
    wichtigsten Wendungen in Ihrer Lebensgeschichte, den Einfluss
    der beiden mächtigsten Triebfedern, des Hungers und der Liebe,
    zu illustrieren bestimmt ist,

    „Ja, den Hunger hat sie gut dargestellt; aber die Liebe?“

    In dem Gelb der Blumen, meine ich. Ich kann übrigens
    nicht leugnen, dass die Darstellung der Liebe in dieser Ihrer
    Kindheitsscene hinter meinen sonstigen Erfahrungen weit zurück
    bleibt.

    Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd, VI. Heft 3. 15

  • S.

    226 Freud, Ueber Deckerinnerungen.

    „Nein, keineswegs. Die Darstellung der Liebe ist ja die
    Hauptsache daran. Jetzt verstehe ich erst! „Denken Sie doch:
    einem Mädchen die Blume wegnehmen das heisst ja: deflorierea.
    Welch’ ein Gegensatz zwischen der Frechheit dieser Phantasie
    und meiner Schüchternheit bei der ersten, meiner Gleichgiltigkeit
    bei der zweiten Gelegenheit.“

    Ich kann Sie versichern, dass derartige kühne Phantasien
    die regelmässige Ergänzung zur juvenilen Schüchternheit bilden.

    „Aber dann wäre es nicht eine bewusste Phantasie, dio ich
    erinnern kann, sondern eine unbewusste, die sich in diese Kind-
    heitserinnerungen verwandelt?“

    Unbewusste Gedanken, welche die bewussten fortsetzen.
    Sie denken sich: wenn ich die oder die geheiratet hätte, und
    dahinter entsteht der Antrieb, sich dieses Heiraten vorzustellen.

    „Ich kann es jetzt selbst fortsetzen. Das Verlockendste an
    dem ganzen Thema ist für den nichtsnutzigen Jüngling die
    Vorstellung der Brautnacht; was weiss er von dem, was nach-
    kommt. Diese Vorstellung wagt sich aber nicht an’s Licht, die
    herrschende Stimmung der Bescheidenheit und des Respektes
    gegen die Mädchen erhält sie unterdrückt. So bleibt sıe un-
    bewusst . . .*

    Und weicht in eine Kindheitserinnerung aus. Sie haben
    Recht, gerade das Grobsinnliche an der Phantasie ist der Grund,
    dass sie sich nicht zu einer bewussten Phantasie entwickelt,
    sondern zufrieden sein muss, in eine Kindheitsscene als An-
    spielung in verblümter Form Aufnahme zu finden.

    „Warum aber gerade in eine Kindheitsscene, möchte ich
    fragen ?“

    Vielleicht gerade der Harmlosigkeit zu Liebe. Können
    Sie sich einen stärkeren Gegensatz zu so argen sexuellen
    Aggressionsvorsätzen denken als Kindertreiben? Uebrigens sind
    für das Ausweichen von verdrängten Gedanken und Wünschen
    in die Kindheitserinnerungen allgemeinere Gründe massgebend,
    denn Sie können dieses Verhalten bei hysterischen Personen
    ganz regelmässig nachweisen. Auch scheint es, dass das Er-
    innern von Längstvergangenem an und für sich durch ein Lust-
    motiv erleichtert wird. „Forsan et haec olim meminisse juvabit.“

    . „Wenn dem so ist, so habe ich alles Zutrauen zur Echtheit
    dieser Löwenzahnscene verloren. Ich halte mir vor, dass in mir auf
    die zwei erwähnten Veranlassungen hin, von sehr greifbaren
    realen. Motiven unterstützt, der Gedanke auftaucht: Wenn du
    dieses oder jenes Mädchen geheiratet hättest, wäre dein Leben
    viel angenehmer geworden. Dass die sinnliche Strömung in
    mir den Gedanken des Bedingungssatzes in solchen Vorstellungen
    wiederholt, welche ihr Befriedigung bieten können; dass diese
    zweite Fassung desselben Gedankens infolge ihrer Unverträglich-
    keit mit der herrschenden sexuellen Disposition unbewusst bleibt,
    aber gerade dadurch in den Stand gesetzt ist, im psychischen
    Leben fortzudauern, wenn die bewusste Fassung längst durch

  • S.

    Freud, Ueber Deckerinnerungen. 227

    die veränderte Realität beseitigt ist; dass der unbewusst ge-
    bliebene Satz nach einem geltenden Gesetz, wie Sie sagen, be-
    strebt ist, sich in eine Kindheitsscene umzuwandeln, welche
    ihrer Harmlosigkeit wegen bewusst werden darf; dass or zu
    diesem Zweck eine neue Umgestaltung erfahren muss, oder viel-
    mehr zwei, eine, die dem Vordersatz das Anstössige benimmt,
    indem sie es bildlich ausdrückt, eine zweite, die den Nachsatz
    in eine Form presst, welche der visuellen Darstellung fähig ist,
    wozu die Mittelvorstellung Brot—Brotstudium verwendet wird.
    Ich sehe ein, dass ich durch die Production einer solchen
    Phantasie gleichsam eine Erfüllung der beiden unterdrückten
    Wünsche — nach dem Deflorieren und nach dem materiellen
    Wohlbehagen 一 hergestellt habe. Aber nachdem ich mir von
    den Motiven, die zur Entstehung der Löwenzahnphantasie führten,
    so vollständig Rechenschaft geben kann, muss ich annehmen,
    dass es sich hier um etwas handelt, was sich überhaupt niemals
    ereignet hat, sondern unrechtmässig unter meine Kindheits-
    erinnerungen eingeschmuggelt worden ist.“

    Nun muss ich aber den Verteidiger der Echtheit spielen.
    Sie gehen zu weit. Sie haben sich von mir sagen lassen, dass
    jede solche unterdrückte Phantasie die Tendenz hat, in eine
    Kindheitsscene auszuweichen; nun nehmen Sie hinzu, dass dies
    nicht gelingt, wenn nicht eine solche Erinnerungsspur da ist,
    deren Inhalt mit dem der Phantasie Berührungspunkte bietet,
    die ihr gleichsam entgegenkommt. Ist erst ein solcher Be-
    rührungspunkt gefunden — hier ist es das Doflorieren, die Blume
    wegnehmen —, so wird der übrige Inhalt der Phantasie durch
    alle zulässigen Zwischenvorstellungen (denken Sie an das Brot!)
    so weit umgemodelt, bis sich neue Berührungspunkte mit dem
    Inhalt der Kinderscene ergeben haben. Sehr wohl möglich, dass
    bei diesem Process auch die Kinderscene selbst Veränderungen
    unterliegt; ich halte es für sicher, dass auf diesem Wege auch
    Erinnerungsfilschungen zu Stande gebracht werden. In Ihrem
    Falle scheint die Kindheitsscene nur ciseliert worden zu sein;
    denken Sie an die übermässige Hervorhebung des Gelb und an
    den übertriebenen Wohlgeschmack des Brotes. Das Rohmaterial
    war aber brauchbar, Wire es so nicht gewesen, so hätte sich
    diese Erinnerung eben nicht aus allen anderen zum Bewusstsein
    erheben können, Sie hätten keine solche Scene als Kindheits-
    erinnerung bekommen, oder vielleicht eine andere, denn Sie wissen
    ja, wie leicht es unserem Witz wird, Verbindungsbrücken von
    überallher überallhin zu schlagen. Für die Echtheit Ihrer Löwen-
    zahnerinnerung spricht übrigens ausser Ihrem Gefühl, das ich nicht
    unterschätzen möchte, noch etwas Anderes. Sie enthält Züge,
    die nicht auflösbar durch Ihre Mitteilungen sind, auch zu den
    aus der Phantasie stammenden Bedeutungen nicht passen. So
    z. B. wenn der Vetter Ihnen mithilft, die Kleine der Blumen
    zu berauben. Könnten Sie mit einer solchen Hilfeleistung beim

    15%

  • S.

    228 Freud, Ueber Deckerinnerungen.

    Deflorieren einen Sinn verbinden? Oder mit der Gruppe der
    Bäuerin und der Kinderfrau oben vor dem Haus?

    „Ich glaube nicht.“ e ; y

    Die Phantasie deckt sich also nicht ganz mit der Kindheits-
    scene, sie lehnt sich nur in einigen Punkten an sie an. Das
    spricht für die Echtheit der Kindheitserinnerung. —

    „Glauben Sie, dass eme solche Deutung von scheinbar harm-
    losen Kindheitserinnerungen oftmals am Platze ist?“

    Nach meinen Erfahrungen sehr oft. Wollen Sie es zum
    Scherz versuchen, ob die beiden Beispiele, welche die Henri
    mitteilen, die Deutung als Deckerinnerungen für spätere Erlebnisse
    und Wünsche zulassen? Ich meine die Erinnerung an den ge-
    deckten Tisch, auf dem eine Schale mit Eis steht, was mit dem
    Tod der Grossmutter zusammenhängen soll, und die zweite von
    dem Ast, den sich das Kind auf einem Spaziergang abbricht,
    wobei ihm ein Anderer Hilfe leistet?

    Er besann sich eine Weile: ,Mit der ersten weiss ich nichts
    anzufangen. Es ist sehr wahrscheinlich eine Verschiebung im
    Spiele, aber die Mittelglieder sind nicht zu erraten. Für die
    zweite getraute ich mich einer Deutung, wenn die Person, die
    sie als ihre eigene mitteilt, kein Franzose würe.*

    Jetzt verstehe ich Sie nicht. Was soll das ändern?

    „Es ändert viel, da der sprachliche Ausdruck wahrscheinlich
    die Verbindung zwischen der Deckerinnerung und der gedeckten
    vermittelt. Im Deutschen ist „sich einen ausreissen“ eine recht be-
    kannte, vulgäre Anspielung auf die Onanie. Die Scene würde
    die Erinnerung an eine spüter erfolgte Verführung zur Onanie
    in die frühe Kindheit zurückverlegen, da ihm doch jemand dazu
    verhilft. Es stimmt aber doch nicht, weil in der Kindheitsscene
    so viel andere Personen mit dabei sind.*

    Während die Verleitung zur Onanie in der Einsamkeit und
    im Geheimen stattgefunden haben muss. Gerade dieser Gegen-
    satz spricht mir für Ihre Auffassung; er dient wiederum dazu,
    die Scene harmlos zu machen. Wissen Sie, was es bedeutet,
    wenn wir im Traum „viele fremde Leute“ schon, wie es in den
    Nacktheitstriumen so häufig vorkommt, bei denen wir uns so
    entsetzlich geniert fühlen? Nichts Anderes als — Geheimnis, was
    also durch seinen Gegensatz ausgedrückt ist. Uebrigens bleibt
    die Deutung ein Scherz; wir wissen ja wirklich nicht, ob der
    Franzose in den Worten ,casser une branche d'une arbre* oder

    in einer etwas rectificierten Phrase eine Anspielung an die Onanie
    erkennen wird.

    —- Der Begriff einer Deckerinnerung als einer solchen, die
    ihren Gedächtniswert nicht dem eigenen Inhalt, sondern dessen Be-
    ziehung zu einem anderen unterdrückten Inhalt verdankt, dürfte
    aus der vorstehenden, möglichst getreu mitgeteilten Analyse

  • S.

    Freud, Ueber Deckerinnerungen. 229

    einigermassen klar geworden sein. Je nach der Art dieser Be-
    ziehung kann man verschiedene Klassen von Deckerinnerungen
    unterscheiden. Von zwei dieser Klassen haben wir unter unseren
    sogen. frühesten Kindheitserinnerungen Beispiele gefunden, wenn
    wir nämlich die unvollständige und durch diese Unvollstindigkeit
    harmlose Infantilscene mit unter den Begriff der Deckerinnerung
    fallen lassen. Es ist vorauszusehen, dass sich Deckerinnerungen
    auch aus den Gedüchtnisresten der späteren Lebenszeiten bilden
    werden. Wer den Hauptcharakter derselben, grosse Gedächt-
    nisfähigkeit bei völlig gleichgiltigem Inhalt, im Auge behält,
    wird leicht Beispiele dieser Art zahlreich in seinem Gedächtnis
    nachweisen können. Bin Teil dieser Deckerinnerungen mit
    später erlobtem Inhalt verdankt seine Bedeutung der Beziehung
    zu unterdrückt gebliebenen Erlebnissen der frühen Jugend, also
    umgekehrt wie in dem von mir analysierten Falle, in dem eine
    Kindererinnerung durch später erlebtes gerechtfertigt wird. Je
    nachdem das eine oder das andere zeitliche Verhältnis zwischen
    Deckendem und Gedecktem statt hat, kann man die Deck-
    erinnerung als eine rückläufige oder als eine vorgreifende
    bezeichnen. Nach einer anderen Beziehung unterscheidet man
    positive und negative Deckerinnerungen (oder T rutzerinnerungen),
    deren Inhalt im Verhältnis des Gegensatzes zum unterdrückten
    Inhalt steht. Das Thema verdiente wohl eine gründlichere
    Würdigung; ich begniige mich hier damit, aufmerksam zu
    machen, welche complicierten — übrigens der hysterischen
    Symptombildung durchaus analogen — Vorgänge an der Her-
    stellung unseres Erinnerungsschatzes beteiligt sind.

    Unsere frühesten Kindheitserinnerungen werden immer
    Gegenstand eines besonderen Interesses sein, weil hier das ein-
    gangs erwähnte Problem, wie es denn kommt, dass die für alle
    Zukunft wirksamsten Eindrücke kein Erinnerungsbild zu hinter-
    lassen brauchen, zum Nachdenken über die Entstehung der be-
    wussten Erinnerungen überhaupt auffordert. Man wird sicherlich
    zunächst geneigt sein, die eben behandelten Deckerinnerungen
    unter den Kindheitsgedächtnisresten als heterogene Bestandteile
    auszuscheiden, und sich von den übrigen Bildern die einfache
    Vorstellung zu machen, dass sie gleichzeitig mit dem Erleben
    als unmittelbare Folge der Einwirkung des Erlebten entstehen
    und von da an nach den bekannten Reproductionsgesetzen zeit-
    weise wiederkehren. Die feinere Beobachtung ergiebt aber
    einzelne Züge, welche schlecht zu dieser Auffassung stimmen,
    So vor allem den folgenden: In den meisten bedeutsamen und
    sonst einwandfreien Kinderscenen sieht man in der Erinnerung
    die eigene Person als ein Kind, von dem man weiss, dass man
    selbst dieses Kind ist; man sieht dieses Kind aber, wie es ein
    Beobachter ausserhalb der Scene sehen würde. Die Henri ver-
    säumen nicht aufmerksam zu machen, dass viele ihrer Gewährs-
    personen diese Eigentimlichkeit der Kinderscenen ausdrücklich
    hervorheben. Nun ist es klar, dass dieses Erinnerungsbild nicht
    die getreue Wiederholung des damals empfangenen Eindruckes

  • S.

    230 Freud, Ueber Deckerinnerungen,

    sein kann, Man befand sich ja mitten in der Situation und
    achtete nicht auf sich, sondern auf die Aussenwelt.

    Wo immer in einer Erinnerung die eigene Person so als
    ein Object unter anderen Objecten auftritt, darf man diese
    Gegenüberstellung des handelnden und des erinnernden Ich’s als
    einen Beweis dafür in Anspruch nehmen, dass der ursprüngliche
    Eindruck eine Ueberarbeitung erfahren hat. Es sieht aus, als
    wäre hier eine Kindheits-Erinnerungsspur zu einer späteren (Er-
    weckungs-) Zeit in’s Plastische und Visuelle rückübersetzt worden.
    Von einer Reproduction aber des ursprünglichen Eindrucks ist
    uns niemals etwas zu Bewusstsein gekommen.

    Noch mehr Beweiskraft zu Gunsten dieser anderen Auf-
    fassung der Kindheitsscenen muss man einer zweiten Thatsache
    zugestehen. Unter den mit gleicher Bestimmtheit und Deutlich-
    keit auftretenden Infantilerinnerungen an wichtige Erlebnisse
    giebt es eine Anzahl von Scenen, die sich bei Anwendung von
    Controle — etwa durch die Erinnerung Erwachsener — als ge-
    fälschte herausstellen. Nicht dass sie frei erfunden wären; sie
    sind insofern falsch, als sie eine Situation an einen Ort verlegen,
    wo sie nicht stattgefunden hat (wie auch in einem von den
    Henri mitgeteilten Beispiel), Personen mit einander verschmelzen
    oder vertauschen, oder sich überhaupt als Zusammensetzung von
    zwei gesonderten Erlebnissen zu erkennen geben. Einfache Un-
    treue der Erinnerung spielt gerade hier, bei der grossen sinn-
    lichen Intensität der Bilder und bei der Leistungsfähigkeit der
    jugendlichen Gedächtnisfunetion, keine erhebliche Rolle; ein-
    gehende Untersuchung zeigt vielmehr, dass solche Erinnerungs-
    fälschungen tendenziöse sind, d. h. dass sie den Zwecken der
    Verdrängung und Ersetzung von anstössigen oder unliebsamen
    Eindrücken dienen. Auch diese gefälschten Erinnerungen müssen
    also zu einer Lebenszeit entstanden sein, da solche Conflicte und
    Antriebe zur Verdrängung sich bereits im Seelenleben geltend
    machen konnten, also lange Zeit nach der, welche sie in ihrem
    Inhalt erinnern. Auch hier ist aber die gefälschte Erinnerung
    die erste, von der wir wissen; das Material an Erinnerungsspuren,
    aus dem sie geschmiedet wurde, blieb uns in seiner ursprüng-
    lichen Form unbekannt.

    Durch solche Einsicht verringert sich in unserer Schätzung
    der Abstand zwischen den Deckerinne: übri

    r rungen und den übrigen
    Erinnerungen avs der Kindheit. Vielleicht ist es überhaupt zweifel-
    haft, ob wir bewusste Erinnerungen aus der Kindheit haben,
    oder nicht vielmehr blos an die Kindheit. Unsere Kindheits-
    erinnerungen zeigen uns die ersten Lebensjahre, nicht wie sie
    waren, sondern wie sie späteren Erweckungszeiten erschienen
    sind. Zu diesen Zeiten der Erweckung sind die Kindheits-
    erinnerungen nicht, wie man zu sagen gewohnt ist, aufgetaucht,
    sondern sie sind damals gebildet worden, und eine Reihe von
    Motiven, denen die Absicht historischer Treue fern liegt, hat
    diese Bildung sowie die Auswahl der Erinnerungen mitbeeinflusst.

  • S.

    Monatssehrift

    Psychiatrie und Neurologie.

    Herausgegeben von

    Prof. Dr. C. Wernicke und Prof. Dr. Th. Ziehen

    in Breslau in Jena.

    Band VI.

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