Ueber familiäre Formen von cerebralen Diplegien 1893-003/1893
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    schen Gesetze : « Wenn ein gereizter spinaler Empfindungsnerv Reflexen 
    in Motoren ausgelöst hat, welche mit ihm in mehr oder weniger gleichem Niveau 
    liegen, und der Reflex kann von hier auf andere benachbarte Motoren über- 
    strahlt, so nimmt er seinen Weg stets nach dem über dem primären Reflex- 
    niveau liegenden und nie nach dem unteren. » Auffallend ist nur, dass der 
    motorische Schenkel des primären Reflexbogens unseres Femoralreflexes gegen- 
    über seiner sensiblen Bahn ausserordentlich tief liegt. Auch die Querleitung 
    des Reflexes auf den linken Quadriceps bei rechtsseitiger Prüfung des Femoralreflexes 
    entspricht einigermassen dem _pflüger'_schen Gesetz der Reflexions-Symmetrie. 
    Wenn die vorhandene Reflexerregbarkeit bei erhaltenen oder gesteigerten 
    Sehnenphänomenen und erhaltener elektrischer Erregbarkeit, abgesehen etwa von 
    secundärer Degeneration der Pyramidenbahnen, eine anatomische Integrität des 
    Lendenmarks annehmen lässt, so wird man sich in praktischer Beziehung die 
    Frage vorzulegen haben, ob die Leitungsunterbrechung im Dorsalmark als eine 
    vollständige angesehen werden muss. Der functionellen Störung nach scheint 
    dies sehr wahrscheinlich. Aber es muss daran erinnert werden, dass, wie BRUNS ² 
    hier im December v. J. ausgeführt hat, nach den Erfahrungen englischer Au- 
    toren und seinen eigenen, bei vollständiger Quersasion sämmtlicher Reflexe auf- 
    gehoben sind und namentlich das Kniephänomen trotz absteigender Pyramiden- 
    bahndegeneration fehlen soll. Vielleicht dass also bei den hier erhaltenen 
    Sehnenphänomenen u. s. w. unseres Patienten sich die Prognose weniger traurig 
    gestaltet, als zu befürchten ist. Wäre irgend ein comprimirendes Moment nach- 
    weisbar, so könnte selbst bei der genauen Localisationsdiagnose ein operativer 
    Eingriff in Frage kommen. 
     


    2. Ueber familiäre Formen von cerebralen Diplegien. 

    Von Dr. Sigm. Freud, Privatdocent in Wien.


    Den Anlass zu dieser Mittheilung gab mir die folgende, im Vorjahr gemachte 
    Beobachtung zweier Kinder, die ein ganz ungewöhnliches Krankheitsbild darboten. 
    « Es handelt sich um zwei Kinder eines Arztes, der seine Nichte (Schwester- 
    tochter) zur Frau genommen hat, der er etwa im 18 Jahre im Alter voraus 
    ist. Von den sechs Kindern dieses blutsverwandten Paares leiden zwei an einer 
    Affection, die ich unbedenklich zu den cerebralen Diplegien rechnen würde. Die 
    Familiengeschichte lässt indess erkennen, dass ein drittes Kind an einer ähn- 
    lichen Affection gelitten hat, und zeugt überdies für eine Neigung zur Leicht- 
    sterblichkeit in dieser Generationsreihe. 
    Hereditäre Belastung wird bei den ältern Mitgliedern der Familie in Ab- 
    rede gestellt. Ich kenne selbst mehrere Personen daraus, z. B. die Geschwister 
    und die Eltern der Mutter, und kann bestätigen, dass dieselben weder an körper- 
    lichen Missbildungen noch an Nervenkrankheiten leiden. Die männlichen Familien- 

    ¹ vgl. LEYDEN, Klinik der Rückenmarkskrankheiten. 1874. Bd. I. p. 54.
    ² Dieses Centralblatt 1893. Nr. 1. p. 28.

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    mitglieder lassen eine weitgehende familiäre Aehnlichkeit erkennen; die durch- 
    schnittliche Begabung der männlichen und weiblichen mir bekannten Personen 
    dieser Sippe ist sicherlich über dem Mittelmaass. 

    Die Mutter der kranken Kinder soll kurze Zeit vor der Hochzeit eine Ver- 
    stimmung und eine Tussis nervosa bekommen haben, so dass sie für phthisisch 
    gehalten wurde. Ich habe guten Grund zu vermuthen, dass dieser Zustand, 
    den die Dame selbst als eine „Hysterie” bezeichnet, nichts mit einer hereditären 
    Disposition zu thun hatte, sondern in durchsichtiger Beziehung zu der bald 
    nachher erfolgenden Heirath stand. Die Frau hat seither fast alljährlich ein 
    Kind geboren und ist körperlich und seelisch gesund geblieben. Das erste Kind 
    aus der Ehe mit ihrem Mutterbruder war eine Frühgeburt von 7 Monaten, 
    schwächlich, und lebte nur 3 Monate. Das zweite Kind ist unser Patient Nr. 1, 
    das dritte unser Patient Nr. 2, der in weit geringerem Grade erkrankt ist; das 
    vierte Kind, gegenwärtig 3 Jahre alt, ist völlig normal; ich habe es untersucht 
    und mit den Geschwistern verglichen. Ein fünftes Kind starb mit 10 Monaten, 
    angeblich an Rhachitis (?), es war von Anfang an gelähmt, theilnahmslos, wie 
    es scheint, idiotisch. Ein sechstes war 3 Wochen zu früh geboren und lebte 
    nur wenige Stunden. Die drei lebenden Kinder sind Knaben, das Geschlecht 
    der anderen vergass ich zu erfragen. Convulsionen irgend welcher Art sind bei 
    keinem der Kinder beobachtet worden, sie wären den intelligenten Eltern gewiss 
    nicht entgangen. Ich bemerke noch, dass der ärztliche Beruf des Vaters während 
    des 5jährigen Ehelebens einen mehrfachen Wechsel des Aufenthaltes mit sich 
    brachte, so dass es schwer hält, das Fehlschlagen dieser Generation auf Boden- 
    einflüsse zurückzuführen. 

    Der ältere der beiden Patienten, Norbert, ist jetzt 6 Jahre und 5 Monate 
    alt; seine Geburt erfolgte rasch und leicht, das Kind war nicht cyanotisch, stark, 
    wohlgenährt; fiel aber sofort durch seine Abnormität auf. — Nie Convulsionen. 
    Das Kind soll in den ersten Lebensmonaten auf Licht überhaupt nicht reagirt, 
    und die Pupillen sollen sich nicht verkleinert haben, wenn der Vater es mit 
    dem Augenspiegel untersuchte. Mit 3 Monaten wurde Nystagmus bemerkt; das 
    Kind fing vor 1 Jahre zu sprechen an, aber bereits mit dem Charakter, den 
    seine Sprache heute zeigt; mit 1½ Jahren konnte es sitzen und kriechen; 
    ohne Unterstützung gehen und stehen kann es noch heute nicht. Mit 1½ Jahren 
    wurde es rein; es schläft immer ruhig, ist von Kinderkrankheiten wie sein 
    jüngerer Bruder auffällig verschont geblieben. 

    Der Schädel des Knaben soll bei der Geburt auffällig spitz gewesen sein; 
    heute zeigt er nichts Besonderes, keine Asymmetrie, keine Verkümmerung oder 
    compensatorische Ausweitung in einem Durchmesser. Er ist eher gross, vorne 
    breit, die Hinterhauptgegend flacher. Das Benehmen des Kindes ist ruhig, sein 
    Mienenspiel, wenig beweglich, lässt seine Intelligenz nicht ahnen; der Mund 
    steht etwas offen, die Zunge, nicht hypertrophisch, wird gerade vorgestreckt. 
    Die Augen zeigen seitlichen Nystagmus; sie stehen, wenn das Kind nicht fixirt, gleich- 
    gerichtet in einem Winkel oder besser, sie vollfiihren rasche, zuckende Excursionen 
    von der Mittellinie gegen einen Winkel. Wenn das Kind fixirt, tritt sofort

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    Strabismus convergens ein und zwar alternirend, je nach der Hälfte des Ge- 
    sichtsfeldes, in der sich das fixirte Object befindet. Dr. Königsstein constatirt 
    Atrophia nervi optici auf beiden Augen und theilt mir mit, dass eine allmähliche 
    Besserung des Sehvermögens zu erwarten steht. Das Kind erkennt übrigens 
    grosse Buchstaben, wie sie die Titel einer Zeitung bilden, und findet sich in der 
    Umgebung gut zurecht. Die Pupillen sind mittelweit, reagiren prompt. 

    Die Kopfhaltung ist natürlich; bei Versuchen, den Kopf passiv zu bewegen, 
    fällt ein ganz erheblicher Widerstand nach allen Richtungen auf. Leichtere, 
    aber immer noch unverkennbare Spannung bei passiver Bewegung der Arme, 
    im groben Gebrauche der Arme ist das Kind jetzt nicht eingeschränkt, vielleicht 
    dass die Greifbewegungen spurweise spastisch sind; in der Regel tritt dabei auch 
    ein Intentionstremor auf, der an den der multiplen Sklerose erinnert, nur dass 
    er sich mit der Annäherung an's Ziel nicht steigert. In früheren Jahren war 
    das Kind sehr ungeschickt mit den Händen, jetzt hat es selbst schreiben gelernt. 

    Die Muskeln des Kindes sind mässig entwickelt, an den Beinen entschieden 
    schlechter als anderswo. Hier besteht auch ein Grad von Parese: die Bewegungen 
    im Fussgelenk und mit den Zehen kann das Kind nicht willkürlich produciren. 
    Die Prüfung auf passive Beweglichkeit weist an den Beinen einen mässigen 
    Grad von Starre nach, der übrigens an den Adductoren nicht so auffällig ist, 
    wie man es bei starren Kindern gewöhnlich findet; immerhin ist die Starre der 
    Beine noch deutlicher als die des Nackens, weit stärker als die der Arme. 
    Patellarreflexe rechts gesteigert, beiderseits Fusspänomen. Das Kind sitzt recht 
    gut, steht aber nicht allein; es pflegt oft auf den Hinterkopf zu stürzen, wenn 
    es sich allein aufgestellt hat, und nach einem solchen Sturze vor mehreren 
    Monaten waren die Beine angeblich durch Wochen völlig gelähmt. Der Gang 
    (nur mit Unterstützung möglich) ist spastisch, die Füsse sind nahe beisammen, 
    schleifen bei jedem Schritt lange am Boden; jeder der langsam vollzogenen 
    Schritte wird durch eine Circumduction in der Hüfte eingeleitet; übrigens keine 
    Spitzfussstellung, keine Ueberkreuzung, kein Schwanken und keine Richtungs- 
    änderung bei der Locomotion. 

    Alle vegetativen Functionen sind normal. 

    Die Sprache gewinnt durch einen hohen Grad von Bradyllalie ein eigen- 
    thümliches Gepräge. Die Articulation des ganzen Wortes ist gedehnt, die Pausen 
    zwischen den einzelnen Silben und nach jedem Worte sind verlängert, die Be- 
    tonung höchst einförmig, und so bekommt man den Eindruck, als ob eine Sprech- 
    maschine in Bewegung gesetzt wäre, wozu die laute Stimme und die Promptheit 
    der Antworten noch weiterhin beiträgt. 

    Man merkt aber, wenn man sich mit dem Kinde unterhält und dessen 
    Sprache verstehen lernt, mit Erstaunen, dass seine Intelligenz, wie die Mutter 
    mit Recht rühmt, nach keiner Richtung einen Defect oder eine Minderentwickelung 
    erkennen lässt. Das Nämliche gilt von dem um 1 Jahr jüngeren Bruder, dessen 
    Beschreibung weiter unten folgen wird. Als ich die Knaben nach ihrem Alter 
    fragte, gab der eine zur Antwort: „6 Jahre und 5 Monate”; der andere „5 Jahre 
    und 5 Tage”, wie es richtig war. Nachdem ich sie zu einem Colleg... [Text truncated by page break]

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    hatte, der mir Auskunft geben sollte, ob sie etwa adenoïde Wucherungen im 
    Rachen hätten, riefen dann Beide bei ihrem nächsten Besuch: „Wir haben nichts 
    im Halse“. Die Prüfungen, die ich mit ihnen anstellte, ergaben so viel In- 
    telligenz und gute Laune, dass ich gern den Angaben der Mutter Glauben 
    schenkte, nach deren Bericht die beiden kranken Knaben mit einander über 
    Geographie disputirten, vorzüglich Rechenaufgaben lösten und ihrem 3jährigen, 
    in jeder Hinsicht normalen Bruder gerne ihre geistige Ueberlegenheit fühlbar 
    machten. Auch den Charakter der beiden Kranken wusste die sonst sehr be- 
    kümmerte Mutter nur zu loben. 

    Der jüngere der beiden Patienten, Pepi, 5 Jahre alt, zeigt so viel Aehn- 
    lichkeit mit seinem Bruder, dass man den Eltern Recht geben muss, wenn sie 
    behaupten, „er leide an derselben Krankheit, nur in geringerem Grade“. Um 
    so interessanter und bedeutungsvoller für die Auffassung einiger Punkte in der 
    Klinik der cerebralen Diplegien sind die Abweichungen, welche die Kranken- 
    geschichte des jüngeren Knaben von der des älteren erkennen lässt. 

    Die Geburt dieses Kindes erfolgte gleichfalls leicht und rechtzeitig; während 
    aber beim älteren das Leiden von Geburt an bemerkt wurde, versichert die 
    Mutter, dass dieses Kind anfänglich normal war und sich normal entwickelte. 
    Mit 7 Monaten begann es, sich aufzustellen und bald darauf Gehversuche zu 
    machen, welche die Eltern „aber nicht förderten, um nicht den ehrgeizigen 
    älteren Knaben zu kränken“. Mit 1 Jahre sprach es fast correct und reich- 
    lich, entwickelte sich rasch zu ganz besonderer Intelligenz. Erst gegen Ende 
    des zweiten Lebensjahres trat plötzlich der Nystagmus auf, verschlechterte sich 
    die Sprache und stellte sich der eigenthümliche Gang des Kindes her; Alles in 
    ziemlich rascher Aufeinanderfolge. 

    Der Knabe ist grösser und kräftiger entwickelt als sein älterer Bruder, 
    der Schädel eher klein, sonst dem des Bruders sehr ähnlich. Die Augen zeigen den- 
    selben Nystagmus, beim Fixiren eines seitlich vorgehaltenen Gegenstandes gleich- 
    falls Strabismus convergens alternans, der aber minder hochgradig ist (Atrophia 
    nervi optici nach Königsstein auch hier). Die Sprache hat denselben Charakter 
    der Bradyllalie, die Pausen zwischen den einzelnen Silben sind kleiner, die Ar- 
    ticulation im Ganzen besser. Die Arme sind frei von Spannung und Bewegungs- 
    hemmung und waren es auch immer, am Nacken zeigt sich eine Spur von Starre. 
    Die Beine sind mager, Patellarreflexe gesteigert, kein Fusspänomen; die Starre 
    derselben deutlich, wenngleich geringer als beim älteren Knaben. Alle Be- 
    wegungen des Fusses und der Zehen können willkürlich vollführt werden. 

    Das Kind steht ohne Unterstützung, aber breit, mit vorgebeugtem Ober- 
    körper, sein Gang macht einen anderen Eindruck als der des älteren Bruders. 
    Während dieser nur geführt gehen konnte, die Beine nahe beisammen hielt und 
    mit den Sohlen am Boden schleifte, geht der jüngere allein, selbst ausdauernd, 
    wie er auch vorzüglich turnt und klettert, er schleift weniger am Boden, geht 
    aber mit sehr breiter Basis, mit deutlicher Circumduction und mit steifer 
    gehaltenen Beinen.