S.
Aus dem I. öffentlichen Kinderkrankeninstitute in Wien.
II.
Ueber Hemianopsie im frühesten Kindesalter.
Vom Docenten Dr. SIGM. FREUD, ordinirendem Arzt des Institutes.
(Schluss.)Diese beiden Beobachtungen zeigen eine Reihe von
gemeinsamen Zügen: Plötzliche fieberhafte Erkrankung unter
Konvulsionen bei den sonst gesunden, nicht kachektischen
Kindern, rasches Auftreten einer halbseitigen Lähmung, die
sich später am Bein zurückbildet, an der Hand ihre grösste
Intensität behält, Entwicklung von Kontraktur der gelähmten
Muskeln, dazu die halbseitige Sehstörung. Hemianästhesie
oder ein Grad von Hemianalgesie liess sich im Falle I directS.
nachweisen, für den Fall II wird sie durch die Beobachtung
der Mutter wahrscheinlich gemacht, dass das Kind nicht
schrie, als es sich durch Anstreifen an den bösen Herd nicht
störte, Hände, Stirnseite. Sie hat mir auf eine fehlgeschlagene
Hirnprozess bezogen werden muss, zeigt aussern Spasmen
der Sprachschatz des Kindes war auf die mit grossen Aus-
druck hervorgebrachte Interjection „Aha!“ eingeschränkt.
Es gelang uns nicht, von diesem Kinde jemals eine andere
Sprachäusserung zu hören, nach Angabe der Mutter aber
zeigte es das Sprechen der Kindes stets zunehmende Besserung.
In Fall I war die Halbsichtigkeit von Einstellung des Kopfes
und der Augen nach der erhaltenen Seite des Gesichtsfeldes
begleitet, was in Fall II fehlte. Wir haben unter nur die Hemi-
anopsie war in beiden Fällen, soweit unsere Untersuchungs-
methoden ein Urtheil gestatteten, uncomplicirt, eine Störung der
centralen Sehnervenbahnen, des Bewusstseins des Kindes resp. der
Sicherheit ihrer Bewegungen etc. auszuschliessen. Wir bekamen
in beiden Fällen den Eindruck, dass es sich nur auf die Halb-
anopsie der Gesichtsfeldes abzielte, natürlich ohne hierfür
durch exakte Untersuchung den Erweis bringen zu können.
In Fall I, den wir über ein Jahr lang verfolgen konnten,
war eine Besserung der Hemianopsie, ein Heraussetzen
des Sehens weit über die Mittellinie ganz unverkennbar; bei Fall II,
der noch jetzt in Beobachtung steht, hat sich bis jetzt
in dieser Hinsicht nichts geändert. Die Retina reflexe waren
in beiden Fällen erhalten, die Untersuchung des Augenhinter-
grundes war nur im zweiten Falle möglich und fiel negativ
aus (Dr. Königstein). Beide Kinder zeichneten sich vor
allen unseren Fällen von centraler Halbseitenkrankung,
(abgesehen von den Idioten) durch grosse Weisheit und rasch-
lose Bewegungsmanahme aus, während wir bei den rein motori-
schen Hemiplegien zumeist ein ruhiges, etwas apathisches
Wesen beobachten konnten.
Was die Localisation der anzunehmenden Erkrankung
und damit die Frage betrifft, ob die Hemianopsie der beiden
Kinder kortikalen Ursprungs war, so muss ich den Pro-
bierungsgestellen, dass ein sicherer Aufschluss aus den Sta-
dium der klinischen Erscheinungen nicht zu gewinnen ist.
Wenn der Standpunkt R e i n h a r d’s berechtigt wäre, dass
die halbseitigen Lähmungen der Kinder auf Processe zurück-
gehen, welche der Poliomyelitis im Rückenmarke gleichzu-
stellen sind, läge die Diagnose allerdings klar. Man muss
ohne Weiteres annehmen, dass eine Erkrankung der grauen
Rinde des Occipitalhirns die Ursache der Hemianopsie ist,
gerade so wie die cerebrale Kinderlähmung nur der Fall von
einer Erkrankung der grauen Rinde der sogenannten motori-
schen Region herrührt. Allein die Einheit des Prozesses,
welche die cerebrale Kinderlähmung daches, ist nicht zu
stehen; es unterliegt keinem Zweifel, dass Symptome wie
die oben beschriebenen durch die mannigfaltigsten Erkran-
kungen an den verschiedenen Localitäten des Gehirns zu
Stande kommen können. Dasselbe muss also auch für die
Hemianopsie gelten, die bei Erwachsenen bekanntlich durch
Erkrankung der grauen Sehrinde oder typische Leitungsbahn
vom Chiasma an bis zur Rinde des Occipitalhirns in gleicher
Weise ausgelöst werden kann. Ich möchte an dieser Stelle
doch die Vermuthung aussprechen, dass die Hemianopsie
keit einer subkortikalen Begründung für eine Hemianopsie
um so mehr steigt, je typischer und an sich unkomplicirter
dieselbe ist.
Da die Hemianopsie in unseren beiden Fällen Hemi-
plegie und Hemianästhesie als aneinander Anfallsymptomen
entstanden, liegt gerade einer Anfallpunkt für die Dia-
gnose der erkrankten Lokalität in diesem Zusammentreffen von
Symptomen zu sehen. Es ist nun klar, dass die Kombina-
tion von Hemianopsie mit Hemiplegie und Hemianästhesie
eher durch eine Läsion im Bereiche der inneren Kapsel, wo
alle grossen Leitungsbahnen nahe beisammen liegen, zu Stande
*) Dieselben werden demnächst in einer mit Dr. O. Rie gemeinsanmen
Arbeit behandelt werden.kommen kann, als durch eine Rindenläsion, wo dieselben
Bahnen dem relativ grössten Raume einnehmen. Die Bestim-
mung eher ist in folgender Weise zu verstehen: Es bedarf
für die Erzeugung des in Rede stehenden Symptomkom-
plexes von der inneren Kapsel aus nur einer einzigen, viel
kleineren Läsion, welche beiläufig leichter erfüllt werden
dürfte, als die einer von Edi. H. und mir vertretenen. Das
Vorkommen von Hemiplegie und Hemianästhesie in unseren
beiden Fällen deutet also auf die Wahrscheinlichkeit hin,
dass die Läsion altes nicht dem Gebiete der grauen Rinde,
auf irgend einer Strecke der subkortikalen optischen Leitung
vorfindlich sei. Ein ähnliches Ergebnis erhält man, wenn
man die Berücksichtigungen der Zusammenstellung von S e g u i n,
welche 46 (oder rektifiziert 41) Fälle von Hemianopsie umfasst,
zu Rathe zieht. Unter diesen 41 Fällen von Hemianopsie mit
cerebralen Krankheiten findet der Forscher nur in 14 Fällen einen
hemiplegischen Symptomes und halbseitiger Sensibilitäts-
störung. Sie waren von diesen 14 Fällen in nur 4 Fällen
(H a g u n a d) in dessen Vermuthung unsicher bleibt; in 4 Fällen ($^{1}$)
schliesst die Läsion ausschliesslich im Bereiche des hinteren
Schenkels der inneren Kapsel, jenseits des Thalamus und in
in 2 Fällen ($^{2}$) war die optische Bahn an mehreren Stellen,
in der Nähe des Thalamus und durch Zerstörung der Win-
dungen unterbrochen, und nur in 3 Fällen ($^{3}$) war die Hemi-
anopsie ausschliesslich auf Zerstörung des Occipitalhirns zu
führen, während die anderen Symptome von ausgedehnten
Erkrankungen anderer Hirnpartieen herrührten. Man er-
drückt macht die Statistik S e g u i n’s vielleicht, wenn man
seinen Fällen die in den citirten Arbeiten gegebenen Beob-
tung beibehält, Seguin stellt 6 Fälle von Hemianopsie zusam-
men, bei denen die Sehstörung durch Läsion im Bereiche der
Thalamus opticus ist, während bei von diesen 5 Fälle mit
Hemiplegie und Hemianästhesie complicirt. Er führt ferner
18 Fälle an, in denen die Hemianopsie auf Erkrankungen
der Occipitalrinde und des unmittelbar unter derselben liegen-
den Markes zurückging; von diesen ist es nur ein einziger,
der die Komplication mit Hemiplegie und Hemianästhesie
zeigt.
S e g u i n s stellt dementsprechend den Satz auf, dass
die laterale Hemianopsie ohne flankirender Hemiplegie und
Hemianästhesie mit Wahrscheinlichkeit auf eine Läsion im
Bereiche des hinteren Schenkels der inneren Kapsel zu
beziehen sei.
Versuchen wir nun zu errathen, welcher Natur die
Läsion in unseren beiden Fällen ist. Erkrankungen progres-
siver Natur wie einem Tumoren, chronisch entzündliche Pro-
zesse lassen sich mit Sicherheit ausschliessen; ebenso wenig
berechtigt wäre die Annahme eines Prozesses aus Grund
einer Allgemeinerkrankung (Syphilis, Pertussis, Bright’sche
Krankheit). Es ist vielmehr um eine ziemlich rasch auftretende
und bald abgeschlossene Erkrankung handeln, deren Sti-
mungen und Ausgange hiebei günstig sind. Dieser Hergang
entspricht am ehesten die Annahme einer Gefässverschlussung
mit und rückschluss auf die Lokalisation der beobachteten
Symptome oder das Geschehnisse (R e i n h a r d kann ein anderes
sein als die Arteria cerebri media, welche bekanntlich in
hervorragender Weise zu solchen Erkrankungen disponirt ist.
Die Annahme einer verschliessenden Läsion (Thrombose oder
Embolie) der Arteria cerebri media in Folge eher akut
fieberhaften Erkrankung giebt die einzigste, welche alle Symp-
tome unserer beiden Fälle mit Einschluss der Hemianopsie,
wie gleich gezeigt werden soll. Wir haben nämlich gesehen,
dass die Hemianopsie unserer Fälle wahrscheinlich nicht die
$^{1}$ ) Sul. (8) Haguna d, (9) Jackson und Gowers, (20) P o o l e y,
(30) und (31) Deschoal., (32) G e r h a r d, (33) Schmalz, (36) Westphal,
(39) Stengel., sämmtlich nicht nach Seguin.
$^{2}$ ) (24) N a t a l e und G e r h a r d, (30) und 31) D r e s c h f e l d,
Senator.
$^{3}$ ) (9) P o o l e y, (32) S t e n g e r.
$^{4}$ ) (39) S c h m a l z, (36) W e s t p h a l.
$^{5}$ ) l. c. p. 512.1*
S.
Folge einer Läsion in der Rindensubstanz des Occipitalhirns,
sondern einer Läsion eines subkortikalen Streckes dieser Bahn von
reiner sein dürfte. Die subkortikale Strecke dieser Bahn, im
Ellbogengelenk rechtwinkelig gebeugt, führt aber in’s Ernährungsbereich
der Arteria cerebri media, wie der hintere Schenkel der
inneren Kapsel und die benachbarte Stammzelle überhaupt.
Unter den 9 Fällen der Seguin’schen Zusammenstellung,
die wir unseren beiden Fällen an Lokalisation eines Embolie
dieser grossen Arterie angegeben (Hagunad), ein
zweites Mal in einem Falle von Förster und Wernicke,
(7) in welchem aber Sensibilitätsstörungen fehlen. Es ist
aber unzweifelhaft durch die Lokalisation der vereinfachten
Erscheinung vorgeführt, dass noch eine ganze Reihe von
Fällen der S e g u i n’schen Sammlung durch Verschluss der
Arteria cerebri media bedingt ist. Seguin stellt selbst den
diagnostischen Satz auf, dass man die Hemianopsie, die von
typischer (spasmodischer) Hemiplegie begleitet ist, bei welcher
die Hemianästhesie fehlt oder geringfügig erscheint, auf eine
ausgedehntere verschliessende Erkrankung der von der Arteria
c. m. versorgten Region des Gehirns beziehen darf.
Dieser Satz war unseren beiden Fällen sogar besser entsprechen,
als der vorhin angeführte, denn die Hemianästhesie unserer
Fälle war keine absolute, im Falle II schien sie überhaupt
nicht bedeuten zu sein.
Es liegt kein Widerspruch darin, dass wir uns durch
das Fehlen oder die Geringfügigkeit der halbseitigen Emfin-
dungsstörung in der Annahme eines Verschlusses der Arteria
c. m. nicht beirren lassen, nachdem wir eben gerade das
Zusammentreffen von Hemianopsie mit Hemiplegie und Hemi-
anästhesie als charakteristisch für diese Läsion angeführt
haben. Ob Verschluss dieser Arterie Hemianopsie hervor-
ruft oder nicht, hängt davon ab, ob der Verschluss der Ar-
terie in das Ästchenstück derselben fällt, ans dem die Ge-
fässe der subkortikalen Leitung und die innere Kapsel ab-
springen, oder ob der Embolus, wie so häufig, weiter gescho-
ben wird und nur die Rindenversorgung der Arterie trifft.
Es wird bekanntlich angenommen, dass beide Gesichtshälfte
für alle praktischen Zwecke völlig getrennt sind. In allen
Fällen ist die Hemianopsie durch Verschluss der Sylv’schen
Arterie eine subkortikale, die Begleitung derselben mit
Hemianästhesie würde auf Embolie im Bereich der Stamm-
zelle, deren Fehlen dieses Symptoms auf Embolie im Rinden-
gebiete (der Parietallappens) deuten.
Da Embolien der Arteria fossae Sylvii so häufig zur
Beobachtung kommen, könnte man die Frage aufwerfen,
warum die Hemianopsie nicht eine stete Folge dieser Läsion
darstellt und als solche in die klinische Beschreibung des
cerebralen Insultes aufgenommen ist. Die Antwort
findet sich in einer Bemerkung W e r n i c k e’s (8), es dürfe bei
der Natur dieser Störung, die gewöhnlich nur durch eine
bestimmte Ursache nachgewiesen wird, nicht besonders ver-
wundern, dass die homonyme Hemianopsie oder hemiplegische
Defekte so häufig übersehen werden seien. Dazu kommt
ferner, dass für das Auftreten der Hemianopsie vor Allem
die Tiefe der Erweichung massgebend sein wird, da die
optische Leitungsbahn zur Occipitalrinde (die Gratiolete’sche
Strahlenkrone) nicht unmittelbar unter der Rinde des unteren
Scheitelläppchens hinzieht.
Wir waren also zur Annahme gelangt, dass die Läsion
unserer beiden Fälle in einem (vielleicht embolischen) Ver-
schlusse der Arteria cerebri media besteht, die Ausdehnung
und Lage der einzelnen Erweichungsherde mag in beiden
Fällen einigermaassen verschieden sein, die Hemianopsie in-
selbst ist subkortikaler Natur. Ich möchte mich den Autoren
anschliessen, welche annehmen, dass die Embolie der Gehirn-
arterien die häufigste Ursache der cerebralen Kinderlähmung
$^{6}$ ) p. 212 ($^{5}$).
$^{7}$ ) Lehrbuch der Gehirnkrankheiten II, pag. 188. 1881.
ist, der Hemianopsie und Hemianästhesie mit ihr (Einstel-
lung des nach der sichtbaren Hälfte des Gesichtsfeldes) zu be-
obachten war.
R e i n h a r d ⁴), hat dieses Symptom fast in allen seinen
„positiven“ Fällen beobachtet und vermuthet, dass der Geistes-
zustand seiner Patienten (er hatte in der Irrenanstalt Fried-
richsberg zumeist Insulte Kranke) das Zustandekommen des-
selben erleichterte, da er eine Erwähnung dieser Erscheinung in
der Beschreibung anderer Fälle von Hemianopsie vermisst.
Die seitliche Einstellung des Kopfes und der Augen ist be-
kanntlich keine Lähmungserscheinung. So weit sich das in
dieser Beziehung gesammelte Material überblicken, kann die
Erscheinung zweifacher Natur sein, erstens ein Reizphänomen,
zweitens ein Begleitsymptom der Hemianopsie. Für die spasti-
sche Form der Ueberlähmung zeigte sich eine hochinteres-
sante Fall von G. T h o m s o n ⁵) an. Ein 14jähriger Kranke
erlitt ein schweres Schädel trauma, welches zu einer Fraktur
von $1^{1}/_{2}$ inches extendirt, führte. Nach temporärer Geburts-
erschütterung kam eine Zeit von psychischer Veränderung,
während welcher er die Augen stets fest geschlossen hielt
Öffnete er dieselbe nach dem Zuruf, kam eine Veranlagung
und öffnete die Augen, welche aber jetzt dauernd nach rechts
eingestellt waren, und zwar in so excessiven Grade, dass
die Pupillen hinter den Lidwinkeln verschwanden und der
Knabe für alle praktischen Zwecke blind war. Auf Cura-
tion von Dr. R o s s trennte an der Stelle der Schädel fraktur
welche die untere Theile der Schläfen Gegend und Agen-
zwang überlagert), trepanirt, und zwei in der Gehirnsub-
stanz steckende Knochensplitter entfernt. Nach der Opera-
tion nahm die seitliche Einstellung der Augen ab und der
Knabe gelangte allmälig dahin, dieselbe durch Willensanstrean-
gungen zu überwinden. Er stellte sich aber sofort wieder ein,
sobald der Einfluss des Willens nachliess. Der Knabe war
nicht hemianopsisch, er trug den Kopf nach der Seite ge-
wendet, welche er über seine Gesichtshälfte blicken wollte.
Ueber den Endausgang des Falles ist nichts berichtet.
Wenn die konjugirte Ablenkung ein spastisches Phäno-
men ist, wie in diesen Fällen, zeigt es sich darin, dass
die Einstellung der Augen unzerstörlich und unüberwindbar
ist. Dies ist nicht der Fall, wenn die konjugirte Ablenkung
eine Begleiterscheinung der Hemianopsie ist. Bei unserem
Knaben Ferdinand G. bewegten sich beide Augen frei von der
Mittellinie bis in die rechten Augenwinkel, sie blieben selbst in
Mittelstellung stehen oder gingen mit Augenblicke nach links
letzteres aber nur dann, wenn das Kind zerstreut und un-
beschäftigt war. Sobald seine Aufmerksamkeit erwachte,
stellten sich die Augen nach rechts ein. Die Reizung der
Augenablenkung zu Hemianopsie ist demnach eine durchstich-
tigen, die Augen richteten sich beim Sehen nach der erhaltenen
Seite des Gesichtsfeldes, weil kein Anlass bestand, sie nach
der ausgefallenen Seite zu richten, in welcher nicht etwa
dunkel gesehen wird, sondern die überhaupt nicht existiert.
Die Augenablenkung ist demnach weder eine Lähmungs-
noch eine Reizerscheinung, sondern ein automatisches Inner-
vationsphänomen.
Eine zweckmässige Bewegung ist die Einstellung der
Augen nach der erhaltenen Gesichtsfeldhälfte keinesfalls,
denn die Ausdehnung des Gesichtsfeldes kann sie selbst-
verständlich nicht ändern, und die durch Hemianopsie ge-
störte Uebereinstimmung von Sehraum und Greifraum kann
durch sie nicht verschlechtert werden. Wenn rechtseitige
Hemianopsie ohne Deviation conjuguée vorhanden ist, reicht
das Gesichtsfeld wenigstens bis zur Mitte des vorne befind-
lichen Greifraumes; stellen sich aber die Augen nach der
⁴) l. c. pag. 454.
⁵) Remark on fracture of the Skull, in which conjugate deviation of the
eyes, which had existed for four months, was removed by trephining.
Brain VI, 1884.S.
erhaltenen Gesichtsfeldhälfte, also nach links, so wird auch
das erhaltene Gesichtsfeld noch weiter nach links verlegt,
was unzweckmässig ist. Man kann sich demnach vorstellen,
dass ein besonderer Zustand des Bewusstseins nöthig ist,
damit diese reflektorische, aber unzweckmässige Augenbewe-
gung zu Stande komme, und man hat in der That die De-
viation conjuguée als Begleiterscheinung der Hemianopsie
bisher blos unter Verhältnissen beobachtet, denen eine
Schwäche oder Abschwächung des Bewusstseins gemeinsam
ist, nämlich: 1. Bei dementen Personen (R e i n h a r d),
2. bei Kindern (unser Fall I), und 3. im apoplektischen
Koma. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass die kon-
jugirte Deviation des apoplektischen Komas, deren Erklärung
noch aussteht, als Anzeichen der vorhandenen, nicht bemerk-
baren Hemianopsie aufzufassen ist. Die Deviation richtet sich
bekanntlich (Prévost) nach der Seite des Herdes, also bei
rechtsseitiger Lähmung, bei der auch rechtsseitige Hemian-
opsie anzunehmen ist, nach links, d. i. nach der erhaltenen
Seite des Gesichtsfeldes. Warum dieses interessante Symptom
im Falle II unserer Beobachtung nicht vorhanden war, weiss
ich freilich nicht anzugeben.
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