Ueber Hemianopsie im frühesten Kindesalter 1888-001/1890
  • S.

    I.

    Ueber Hemianopsie im frithesten Kindesalter.

    Vom Dozeuten Dr, SIGM, FREUD.

    Jn einer kiirzlich erschienenen Arbeit. Zur Frage der
    Hirnloks ion, mit besonderer Beriicksichtigung der cere:
    bralen Sehstirungen* (Archiv fiir Psychiatrie XVIT, 3, und
    XVII, 1, 2, 1887) spricht ©. Reiihard die anregende
    Vermuthung aus, dass die Bedeutung der Grosshirnrinde fiir
    das Sehen beim Kinde nicht dieselhe sein mige, wie beim
    Krwachsenen. Auf dieser Differenz i
    welche die Grosshirmrinde (speziell
    hirns) beim Erwachsenen und beim Kinde spi
    auch beruhen, dass beim letzteren keine cereb
    gen oder doch wenigstens keine absolute Hemianops
    kommen scheint, obgleich bei imbecillen, vektive idiotis
    Kindern mit oder ohne halbseitige Motil oder Sensibil
    stérungen nicht gar selten anch bis in das Occipitalhim
    reichende atrophisch-sklerotische Prozesse am Hirnmantel ge-
    funden werden. Uns selbst ist es, wenigstens bisher, nicht
    geluugen, einen cinschliigigen Fall za beobachten, und auch
    Nollege Wilbrand, mit dem ich hieriiber mehrfach ge-
    sprochen habe, cntsinnt sich keines derartigen Falles weder
    aus seiner eigenen Praxis, noch ans der Literatur. Wenn bei
    Kindern iiberhaupt cerebrale Nehstérung entstehen kann
    _woran a priori nicht zu zweifeln ist — so wird dieselbe woltl
    nur in dem Ausfalle des Farben- und Raumsinnes bestehen.*
    Teh habe nun nicht die Absicht, die Wahrscheinlichkeit
    der erwiilnten Aufstellang Reinhard’s zu belenchten,
    sondern nehme blos seine Bemerkungen zum Anlasse, um

    hen

  • S.

    37

    wei Beobachtungen von Hemianopsie bei zwei- und drei-
    hrigen Kindern einzuleiten, Ich muss diese Mittheilungen
    wie Reinhard und Wilbrand fiir die ersten dieser Art
    halten. Ks fehlt fiberhaupt an Beobachtungen yon Hemianopsic
    im frithen Kindesalter; der jiingste Fall in dex Zusammen-
    stelling von Seguin (( ‘ontribution & Pétude de Phémianopsie
    Worigine — centrale [Lémianopsi » vorticale|; Archives de
    Neurologie XI, 82, 1886) bezieht sich auf ein Kind yon
    acht Jahren.

    Meine heiden Beobachtungen sind allerdings mit Miingeln
    lchaftet, wie sie bei poliklinischem Material schwer vermieden
    werden kénnen; dem ersten Falle felilt die Untersuchung des
    Augenhintergrundes, beiden der Sektionshefund und damit die
    Miglichkeit, einen sicheren Aufschluss iiber die Lokalitiit des
    Krankheitsherdes zu gewinnen. Doch halte ich dafiir, dass
    die Mittheilung der beiden Krankengeschichten gerechtfertigt

    ;, und erwarte, dass die Hemianopsie sich hei Kindern als
    nicht selten heransstellen wird. wenn einmal die Aufmerk-
    samkeit auf dieses interessante Symptom gerichtet ist.

    Den kleinen Kranken der 1. Beobachtung habe ich schon
    im Mai 886 gesehen, zu welcher Zeit Herr Direktor Kasso-
    witz die Giite hatte, mich zu seiner Untersuchung aufzu-
    fordern. Nach Eriffiung der Ordination fiir nervenkranke
    Kinder im Ninderkrankeninatitute sah ich den Knaben mehr
    mals wieder (znletzt Ende Juni 1887), bis er sich endlich
    durch seine Ungebiirdigkeit der Beobachtung entzog. Fall U1
    steht noch gegenwiirtig in poliklinischer Behandlung.

    I.

    Normale Gehurt; wiederholte Konyulsionen im
    Siuglingsalter, darauf gute Entwicklung: Akut
    fieherhatte Krkrankung mit 2*, Jahren. Hemiplegia
    spastiea sinistra. Hemianaesthesia sinistra. He-
    mianopsia sinistra, Wonjugirte Ablenkung des
    Kopfes und der Augen, Status epilepticus.
    Ferdinand G., zur Zeit der Aufnahme (1. Juli 1886) 8 Jahre.
    und 3 Monate alt, ist das vierte Kind von anscheinend gesunden
    Eltern, Die anderen Kinder sind an ,1usten* im Alter von 3, 6
    und 18 Monaten gestorben. Der Vater soll kein Trinker sein.
    Der kleine Ferdinand ist ansgetragen zur Welt. gekommen, die
    Entbindung war eine leieh! | Kind hatte mit 7 Wochen
    Fraisen, die sich cinige Monate spiiter wiederholten. Es entwickelte
    sich jedoch normal, zeigte keinerlei Lithmungen und blieb von

  • S.

    vo AN

    sehweren Krankheiten versehont. Vor 6 Monaten krankte es
    eines Tages ohne bekannte Veranlassung mit allgemeinen Konvul-
    sionen und unter Fieber, Schon am niichsten ‘Tage wurde eine
    linksseitige Liihmung bemerkt, die eigenthiimliche Kopfhaltung und
    Augenstellung des Kindes sollen ganz gewiss vor dieser Erkran-
    kung nicht vorhanden gewesen sein. Seit der Erkrankung sinkt
    das Kind) mehrmals im ‘Tage (bis 30 Mal) plitzlich um, er-
    hebt sich aber rasch wieder und setzt seine Beschiiftigung, als ob
    nichts vorgefallen wiire, fort. Is schreit dabei niemals, hat auch
    keine Kriimpfe, wird aber manchmal roth im Gesichte. (Wir haben
    selbst einige solebe Anfiille beobachtet. Das sitzende, mit einem
    Spielzeuge beschiiftigte, itheraus lebhafte Kind wurde plitzlich roth,
    zeigte einen starren Gesichtsausdruck und sank nach einer Seite
    wm, Nach 30 Sekunden spielte es wieder, als ob keine Unter-
    brechung eingetreten wire.) Diese Anfiille haben in 6 Monaten
    kanm 3 Tage ausgesetzt. Alle vegetativen Funktionen sollen un-
    gestirt sein.

    Status. Vortreflich geniihrtes und gut entwickeltes Kind
    von grosser Lebhaftigkeit und Intelligenz, Die inneren Organe
    sind normal, Am Schiidel dusserlich nichts Auffilliges zu sehen,
    Hochgradige linksseitige Facialisliihmung von cerebralem Charakter.
    Die Stirn- und Augenlidfalten sind heiderseits nahezn gleich, aber
    der linke Mundwinkel hiingt herab; bei mimischen Bewegungen,
    selbst bei starkem Schreien werden auf der linken Seite keine Be-
    wegungen sichthar. Ueber das Verhalten der Zunge ist nichts
    beobachtet. Der linke Arm in starker Kontraktur nach dem ‘Typus
    der cerebralen Hemiplegie, adduzirt, im Ellbogen fast spitawinkelig
    gebeugt, die Hand pronirt, die Finger gebeugt und eingeschlagen.
    Der linke Arm wird fast gar nicht willkiirlich bewegt. Das linke
    Bein stark hypertonisch , Patellarretlexe beiderseits recht lebhatt.
    Keine Spontanbewegungen (Chorea) der gelithmten Glieder, Das
    Kind kann sitzen, aber nicht stehen oder gehen.

    Die Sensibilitat der linken Kérperhiilfte ist stark herab-
    gesetzt, wenn anch nicht aufgehoben. Man kann an der linken
    Hilfte des Rumpfes und an den linken Extremitiiten Ivichte Nadel-
    stiche anbringen oder Hautfalten sanft kneipen, olne dass das
    Kind darauf reagirt, withrond die leiseste Borilhrung rechts sofort
    die Aufmerksamkeit des Kleinen erregt. Mitunter reagirt das
    Kind erst nach wiederbolten, links angebrachten Reizen, aber nie
    mals so heftig wie auf den gleichen Reiz, der an der rechten
    Kirperhilfte angreift.

    Der Kopf wird bestiindig nach rechts gedreht und etwas
    nach riickwiirts geneigt getragen. Die Augen sind in dic rechten

  • S.

    — By

    Winkel der Lidspalten cingestellt, gehen mitunter bis zur Mittel-
    linie, uber jiusserst selten nach links hiniiber. Lets! Bewegung
    wurde mur einige Male beobachtet, als das Kind unbeseliif-
    tigt schien, und reichte eben zum Beweise hin, dass die Kinstel-
    ng der Augen nicht die Folge vines Krampfes oder einer asso-
    1 Lithmung ist. Auch die Kopfstellung wird mitunter ver-
    i ndert, aber sofort wieder hergestellt, wenn das Kind seine Auf:
    auf irgend etwas richtet. Die Augen zeigen, von

    penen Kinstellung abgesehen, nichts Abnormes. — Die
    ich, nicht anffillig weit, verengern sich aut Lieht-
    ne Reaktion wurde nicht gepriift. Es ist un-
    das Kind, wenn es einen Gegenstand verfolgt,
    giebigere Kopfhewegungen als Augenbewegnngen macht. — Ins-
    hesondere sind die Bewegungen der Augen nach oben und unten
    durch Kopthewegungen ersetat.
    Das Kind sieht und birt vortret!
    vchten Armes in sehr ges i Es ahmt Gesten sehr
    chtig nach und triflt’ mit einem Perkussionshammer —jed
    ver den 1 Ct, im Durchmesser haltenden Knopf
    freut sich auch fiber d Klang. Es ist aber links-
    Es greift) ohne Zigern auf Alles zu, was sich ihm in
    hiten HBilfte des Gesichtstildes: bietet , ve sich hingegen
    < links Befindliche gleichgiltig. Man kanu mit dem Fin-

    ich und bedient sich des

    een

    von
    Kind sich striiubt; wenn man dasselbe
    folgen sofort: Abwelirmngsbewegmgen, Wen m
    nem Gegeustande beschiiftigt aud dann von Links
    deren Gegenstand yor seinen Augen vorbeifiihet, som
    selben erst, wenn er in die Blickebene kommt; fiihrt man 4
    vinen Gegenstand von rechts her ein, so liisst das Kind sofort
    sein Spielzeug fallen und hascht nach der neuen Erscheinung.
    Dieser Versuch misslingt nur, wenn das Kind wiihrend desselben
    cine plitzliche Bewegung anf fatze macht und so des:
    links befindlichen Objektes an: Ferner: wenn man
    dem Kinde in der rechten Gesichtsfeldhiilfte einen Gegenstand zeigt,
    den man ihm vorenthiilt, so kann man dasselbe zur unausgesetzten
    Verfolgung des Gegenstandes zwingen. Pibrt man nin mit dem
    Gegenstande plot: h links hinitber, so lésst das Kind den
    ausgestreckten Arm sinken und gibt seiner Enttiuschung durch
    lautes Sehreien Ausdruck, Es hat den Gegenstand offenbar aus
    den Augen verloren, was nic geschieht, su lange man das gezeigte
    Kt in der rechten Hiiltte des Gesichtsfeldes versehiebt. Andere
    sieht man, dass das Kind bei letzterer Priifung nicht un-
    erfolgung des Objektes aufgibt, sondern die Hand auf

    cen her gegen das linke Auge fahren, ole dass das
    un rechten Auge versucht,
    das Kind) mit
    her einen an

  • S.

    — 4 —

    die Tischplatte stemmt und sich mit Rumpf und Kopf ein Stitck
    nach links dreht, bis es wieder aus giinstigerer Position nach dem
    verlangten Objekte hascht. Es ist nicht schwer, dieses charak-
    teristische Benehmen des Kindes zu erkliiven, Wenn das vorent-
    haltene Objekt mit einem plitzlichen Ruck aus der rechten in die
    linke Gesichtsfeldhalfte fihrt, behiilt das Kind anstatt desselben
    cin Stick des Armes im Auge, welcher das Objekt trigt. Es ist
    intelligent genug, zu erkennen, dass die Verfolgung des Armes
    zum Objekt fiihren miisse, und dreht sich deshalb demselben nach,
    bis es das Objekt wieder sieht. Verbanden wir dem Kinde das
    linke Auge, so beruhigte es sich nach einer Weile und benahm
    sich dann ebenso sicher in seinen Bewegungen wie vorhin, Nach
    Verbinden des rechten Auges begann es jedesmal so heftig au
    schreien, dass wir keine Priifung anstellen konnten.

    Von einer Untersuchung des Augenhintergrundes mussten wir
    nach wiederholten erfolglosen Bemiihungen abstehen. Das Kind
    zeigte sich bei jedem neuen Besuche in der Ambulanz unbiindiger
    und zwang uns endlich durch sein Schreien, unsere weitere Be-
    obachtung aufzugeben,

    Ende Juni 1887 habe ich den Kranken wieder gesehen. Er
    hat sich kirperlich wie geistig weiter entwickelt, ist noch immer
    sehr ungestiim in seinen Bewegungen, verstelt Alles, was zu ihm
    gesagt wird, und kann nahezu seinem Alter angemessen sprechen.
    Die Linksblindheit besteht noch, scheint aber nicht mehr absolut
    zu sein. Man braucht vor dem linken Auge nicht mehr bis an
    den Fixirpunkt heranzuriicken, um seine Aufmerksamkeit zu er-
    regen; auch hat der Kleine gelernt, alle Vorgiinge in seinem Ge-
    sichtsfelde genau zu beachten, welche ihn yeranlassen kinnen, den
    Kopf nach links zu drehen. Der Kopf wird noch nach rechts ge-
    dreht getragen, ist aber nicht mehr nach riiekwiirts gezogen. Die
    Augen stellen sich wiihrend der Beobachtung mehrmals nach links
    cin, dabei zeigen die Gesichtsziige des Kleinen immer einen leeren,
    unaufmerksamen Ausdruck. Die linke Pupille ist etwas weiter
    als die rechte; beide reagiren prompt und ausgiebig auf Licht-
    einfall. Die linksseitige Gesichtslihmung ist sowohl in der Ruhe
    als beim Lachen sehr anffiillig, die Kontraktur des linken Armes:
    gegen das letzte Mal (Juli 1886) etwas gemildert, die Iéihmung:
    noch vollstiindig, wenn man von Schulterbewegungen absicht, Dax
    Kind hat aber wieder gehen gelernt und gebt mun mit wagrecht
    ausgestrecktem Arme, der im Ellbogengelenk rechtwinkelig gebeugt
    ist. Die Mutter klagt iiber die Hiufigkeit der epileptischen An-
    fille, bei denen das Kind sich mehrmals Kontusionen zugezogen hat.

  • S.

    —~ Aa —

    i
    Akut fieberhafte Erkrankung mit) Wonvul-
    sionen im Alter von 25 Monaten, — Hemiplegia
    spastica dextra in Besserung. — Hemianaesthesia
    dextra? »- Aphasia. Hemianopsia dextra bei

    normalem Spiegelbefund,

    Marie V., 26 Monate alt, am 13, Dezember 1887 zuerst ge-
    sehen. Die Elter und cin 4jiihriger Bruder angeblich gesund.
    Von anderen hereditiiren Verhiiltnissen ist nichts bekannt. Das
    Kind selbst normal geboren und entwickelt, bis vor 4 Wochen
    gesund. Damals traf in einer Nacht plitzlich Erbrechen und
    »Fraisen*-Anfiille auf, welch’ letztere bis zum niichsten Mittag an-
    dauerten. Das Kind fieberte durch etwa 8 Tage, zeigte gleich
    nach Beginn der Exkrankung grosse allgemeine Schwiiche, so dass
    eine Lithmung erst am vierten ‘Tage bemerkt wurde, Von einer
    Lokalisation der Erkrankung in anderen Organen wird nichts be-
    riehtet. Der rechte Arm und das reche Bein sollen in der ersten
    Zeit ,steif® powesen sein, erst in der letzten Woche hat die Steif-
    heit nachgelassen und ist theilweise Beweglichkeit der gelilmten
    Glieder eingetreten, Seit der Erkrankung hat das Kind aufgehirt
    zu sprechen und zu gehen.

    Status praesens. 13. Dezember 1887. Kriiftig gebaute
    gut entwickeltes Kind von keineswegs kachektischem Ausschen,
    sehr ungebiirdig. Die Fontanellen sind geschlossen, die Schidelform
    nicht auffiillig, keine Zeichen iiberstandener Rachitis, Ierzaktion
    sehr beschleunigt, iiber 160; keine Erkrankung der Brust- und
    Baucheingeweide, leichte Cutis marmorata.

    Das Kind kann sitzen und stellt sich ziemlich gut auf dic
    Beine. Der rechte Mundwinkel erscheint selbst bei heftigem Weinen
    hiingend. Der hte Arm wird im Schultergelenk adduzirt, im
    Elibogengelenk rechtwinkelig gebengt getragen, der Handriicken
    sieht gerade nach oben, die Finger sind gebeugt und itber dem
    eingebogenen Daumen geschlossen, kebren nach Streckung sofort
    in die frithere Lage zuritek, Der Widerstand gegen passive Be-
    wegungen in den Armgelenken ist miissig, aber deutlich, Triceps-
    und Beugesehnenreflexe sind reehts nicht lebhafter als links.
    Spontan erfolgen nur leichte Veriinderungen in der Haltung der
    Schulter und bei Greifyersuchen schwingende Bewegungen des
    ganzen Armes, Keine spontane Chorea An beiden Beinen
    sind die Patellarreflexe lebhaft, rechts mehr. Die Spannung des
    rechten Beines ist kaum vermehrt, die Beweglichkeit desselben im
    Groben erhalten, — Auf Nadelstiche erfolgt beiderseits schmerz-
    hafte Reaktion, rechts vielleicht schwiichere.

  • S.

    — pS

    Die Pupillen sind amittelweit, gleich, reagiven Iebhaft. Die
    Augenbewegungen sind normal, Von einer Kinstellung der Augen
    oder Richtung des Kopfes nach viner Seite ist nichts zu bemerken ;
    es besteht aber rechtsseitige laterale Hemianopsic. Das
    Kind, welches mit grosser Aufmerksamkeit umberspibt und jedes-
    mal, wenn sein Interesse in Auspruch genommen wird, ein lautes
    »Ahl* bei verwundertem Gesichtsausdruck ausstixst, beachtet nie-
    mals einen Gegenstand, der sich in der rechten Hlilfte seines
    jeweiligen Gesichtsfeldes befindet. Man kann ein brennendes Ziind-
    hélzchen yon vechts her in's Gesichtsfeld cinfiihren, oline dass es
    bemerkt wird, wiihrend es von links her sofort die Aufmerksam-
    keit des Kindes anf sich zieht. Wenn man dem Kinde in der
    linken Halfte des Gesichtsfeldes einen Gegenstand zeigt und ihm
    denselben eine Weile vorenthilt, wird es ungeduldig und sucht
    denselben init. sehr richtig zielenden Arm- und Handbewegungen
    zu haschen. Bringt man diesen Gegenstand nun mit einer raschen
    Bewegung in die rechte Hilfte des Gesichtsfeldes, so schaut das
    Kind verwundert auf und stellt seine Bemithungen, ihn zu ergrei-
    fen, ein; der Gegenstand ist fiir ihn verloren, auch wenn er sich
    dicht vor seinen Angen befindet. Bei zufiilligen Drehungen des
    Kopfes entdeckt. es ihn wieder und greift yon Neuem ihm.
    Wenn man in die rechte Hand einen kleinen, unauffiilligen Gegen-
    stand, z. B. einen dunklen Knopf, in die linke aber cine grosse,
    glinzende Metallkugel nimmt und beide Objekte dem Kinde vor-
    hilt, so greift es regelmiissig nach dem unscheinbaren Knopf, der
    sich in seinem linken Gesichtsfelde befindet; verwechselt- man die
    Gegenstiinde, so greift es nm nach der Kugel u. dgl. mehr. Ver-
    suche, das Sehen des Kindes bei Versehluss des einen Auges durch
    cine Verband zn priifen, seheitern an der Ungebiirdigkvit des
    Kindes, welches sofort zu sebreien beginnt und den Verband ab-
    reisst. Doch ist es unverkennbar, dass der Verschluss des rechten
    Auges leichter ertragen wird als der des linken, Die Abgrenzung
    der Hemianopsic liisst sich nicht genau feststellen.

    20. Dezember. Die Kontraktur des reehten Armes ist erheb:
    lich stiirker, Das Kind hat in den letzten Tagen Geh- und Sprech-
    versuche gemacht.

    3. Jimmer 1888. Das Gehen besser. Dax Kind soll ausser
    dem lauten ,Ah!, das es bei jeder Gelegenheit hiren Iiisst, bereits
    einige Worte sprechen. Die Hemianopsie im Gleichen. |

    10. Jiimner. Das Hiingen des rechten Mundwinkels bei hefti-
    gem Sehreien ist sehr deutlich, An der dorsalen Daumentliiche der
    rechten Hand werden mehrere kleine Brandwanden bemerkt, die
    nach der Angabe der Mutter daher rithren, dass das Kind hiiutig,
    ohne es zu bemerken, an die heisse Herdplatte anstreift, wenn

  • S.

    es durch die Kiiche geht. Auch soll das Kind bei diesen Verletaungen
    nicht geschricen haben (Hetianiisthesie?). Uebrigens ist die Orien-
    tirung nach rechts cin wenig gebessert.

    17. Jinn
    entstanden.
    spricht be

    Zwei neue Brandwunden in der gleichen Weise
    Das Kind ist immer heiter und r lebhatt, geht und
    . Die Herianopsie jedesmal nachzuweisen,

    24. dinner. Die Kontraktur in Ellbogen und Hand ist. stir-
    ker, die Beweglichkeit aber gebessert, Die Hand wird gelegentlich
    gedllnet: und zum Greifen verwendet, dabei werden die Finger
    itbermiissig gespreizt und extendirt. Ataktisch-spastischer Charakter
    dieser Bewegungen.

    28. Februar. Hemianopsie nachweisbar. Der Augenhintergrund
    nach einer freundlichen Mittheilung von Dr, Kénigstein normal.
    Nprechen besser. Gang. steif, hemiplegiseh, der ataktisch-spastische
    Charakter der Handbewegungen sehr deutlich. Keine Facialis-
    parese mehr,

    20,

    z. Die Hemianopsic besteht noch immer.

    Die heiden Beobachtungen zeigen eine Reihe von
    gemeinsamen Giigen: Plitzliche fieberhafte Erkrankung unter
    Wonyulsionen hei den sonst gesunden, nicht kachektischen
    Windern, rasches Auftreten ciner halbseitigen Lihmung, dic
    sich spiiter am Bein zuriickbildet, an der Hand ihre griisste
    Intensitiit behilt, Entwicklhing vou Kontraktur der geliihmten
    Muskeln, wi die halbseitige Schstirung. Hemianiisthesie
    oder cin Grad von Hemianalgesie liess sich im Falle 1 direkt
    nachweisen, fiir den Fall IL wird sie durch die Beobachtung
    der Mutter wahrscheinlich gemacht, dass das Kind nicht
    schrie, als es sich durch Anstreifen an den heissen Herd die
    rechte Hand verbrannte. Fall Il, der auf einen linksseitigen
    Hirnprozess bezogen werden muss, zeigt ausserdem Aphasie;
    der Sprachschatz des Kindes war auf die mit grossem Aus-
    druck hervorgebrachte Interjektion ,Ahah* eingeschriinkt.
    Kis gelang uns nicht, von diesem Kinde jemals eine andere
    Sprachiiusserung zu héren; mach Angabe der Mutter aber
    zeigte das Sprechen des Nindes stetig zunchmende Besserung.
    In Fall L war die Halbsichtigkeit von Eimstellung des Kopfes
    und der Augen nach der erhaltenen Scite des Gesichtsfeldes
    begleitet, was in Pall LI fehlte. Dariiber unten mehr, Die Hemi-
    anopsic war in heiden Killen, sowie unsere Untersuchungs-
    methoden ein Urtheil gestatteten, unkomplizirt, eine Stirung der
    zentralen Sehschiirfe nach dem Benehmen der Kinder, der Treff-
    sicherheit ihrer Bewegungen ete. auszuschliessen. Wir bekamen

  • S.

    ~~ i

    in beiden Fiillen den Kindruck, dass das Schen mit der Halbi-
    rungslinic des Gesichtsfeldes abschnitt, natiirlich ohne hietiir
    durch exakte Untersuchung den Erweis bringen zu kénnen,
    In Fall f, den wir iiber cin Jahr lang verfolgen
    war eine Besserung der Hemianopsie, ein Hinausg:
    Sehens weit iiber die Mittellinie ganz unverkenubar; bei Fall 1,
    der noch jetzt in Beobachtung steht, hat sich bis jetat
    in dieser Hinsicht nichts geiindert, Die Retinalreflexe waren
    in beiden Fiillen erhalten, die Untersuchung des Augenhinter-
    grundes war nur im aweiten Falle méglich und fiel negativ
    aus (Dr. Nénigstein). Beide Kinder zeichneten sich vor
    allen unseren Killen yon zentraler Halbseitenerkrankung
    (abgesehen yon den Idioten) durch grosse Wildheit und rast-
    lose Bewegungsunruhe aus, wihrend wir bei den rein motori-
    sehen Hemiplegien zumeist ein ruhiges, etwas apathisches
    Wesen beobachten konnten.

    Was die Lokalisation der anzunchmenden Erkrankung
    und damit die Frage betrifft, ob die Hemianopsic der beiden
    Kinder kortikalen Ursprungs war, so muss ich das Ergeb-
    niss voranstellen, dass ein sicherer Aufschluss aus dem Stn-
    dium der klinischen Erseheinungen nicht zu gewinnen_ ist.
    Wenn der Standpunkt Striimpell's gerechtfertigt wire, dass
    die halbseitigen Lithmuangen der Kinder auf Prozesse zurii
    gehen, welche der Poliomyelitis im Riickenmarke gle
    stellen sind, liige die Diagnose allerdings klar. Man diiv
    ohne Weiteres annchmen, dass cine Erkvankung der grauen
    Rinde des Occipitalhirns die Ursache der Hemianopsie ist,
    gerade so wie die zevebrale Kinderlihmung unserer Hille you
    einer Erkrankung der grauen Rinde der sogenannten motori-
    schen Region herrithrt. Allein die Einheit der Prozesse.
    welche die cerebrale Kinderliihmung machen, ist nicht 20
    halten; es wnterliegt keinem Zweifel, dass Symptome wie
    die oben beschriebenen durch die mannigfaltigsten Erkran-
    kungen an den verschiedensten Lokalitiiten des Gehirns 20
    Stande kommen kiunen, Dasselbe muss also auch tiir die
    Hemianopsie gelten, die bei Erwachsenen bekanntlich dureh
    Erkranktng der ganzen Streeke der optischen Leitungsbahn
    vom Chiasma an bis zur Rinde des Oceipitalhirns in gleicher
    Weise ausgelést werden kann, leh michte an dieser Stelle
    noch die Vermuthung aussprechen, dass die Wahrscheintich-
    keit einer subkortikalen Begriindung fiir eine Hemiane
    um so mehr steigt, je typischer und an sich unkomplizirter
    dieselbe ist.

  • S.

    — 4

    Da die Hemianopsie in unseren beiden Killen neben
    Hemiplegic und Hemianiisthesic als danernden Austallssymp-
    tomen besteht, liegt ex nahe, einen Anhaltspunkt fiir die Dia-
    gnose der erkrankten Lokalitiit in diesom Zusammentreffen von
    Symptomen zu suchen, Ks ist nun klar, dass die Kombina-
    tion von Hemianopsie mit Hemiplegie und Hemianiisthesie
    cher durch eine Liision im Bereiche der inneren Kapsel, wo
    alle grossen Leitungsbalinen nahe beisammen liegen, zu Stande
    kommen kann, als durch eine Rindenlision, wo dieselben
    Bahnen den relativ grissten Raum cinnehmen, Die Bestim-
    mung ,cher* ist in folgender Weise zu verstehen ; Es bedarf
    fiir die Evzeugung des in Rede stehenden Symptomenkom-
    plexes von der inneren Kapsel ans nur einer einzigen und
    kleineren Liision, welche Bedingung leichter erfiillt werden
    diirfte, als die einer vielfachen und verbreiteten, Das
    Vorkommen von Hemiplegie und Hemianiisthesie in unseren
    beiden Willen dentet also aut die Wahrscheinlichkeit hin,
    dass die Liision, welche der Hemianopsie zu Grunde liegt,
    aut irgend einer Strecke der subkortikalen optischen Leitung
    vortindlich s in thes Ergebniss erhiilt man, wenn
    man die bereits oben zitirte Zusammonstellung von Seguin,
    welche 46 (oder rektifizirt 41) Fille von Hemianopsie amfasst,
    zu Rathe zicht. Unter diesen 41 Fiillen von Hemianopsie mit
    Nektionsbefunden findet sich die Kombination mit. danernden
    hemiplegischen Symptomen und halbseitiger — Sensibilit
    stirung neun Mal, Von diesen 9 Fiillen ist einer ({8|
    Hugnenin), ¢ 1 Verwerthung unsicher bleibt; in 4 Fill
    sass die jon ausschliesslich im Bereiche des hinteren
    Schenkels der imeren Kapsel, respektive des Thalamus optiens,
    in 2 Killen) war die optische Bahn an mehreren Stellen,
    in der Nihe des Thalamus und durch Zerstérang der Win-
    dungen unterbrochen, und nur in 2 Willen 4) war die Hemi-
    anopsie aussehliesslich auf Zerstérung des Oceipitalhirns zt
    beziehen, withrend die anderen Symptome von ausgedelnten
    Erkrankungen anderer Rindenpartion herviihyten. Mehr Kin-
    druck macht die Statistik Seg uin's vielleicht, wenn man
    seinen Iillen die in den zitirten Arbeiten gegebene Anord-

    1) Fall (8) Hnguenin, (6) Jackson und Gowers, (9) Pooley,
    40 und BI) Dresehfold, (24) Senator, (39) Nehmalty, (26) Westphal,
    82) Stenger, simmtlich aitirt nach Neguin,

    4) (6) Jackson vad Gowers, (30 and 31) Dresehteld, (24)
    Senator,

    “) Pooley, (82) Stenger,

    4 (89) Sehmalty, (26) Westphal

  • S.

    nang belasst. Seguin stellt 6 Palle von Hemianopsie zusam-
    men, bei denen die Sehstirang durch Liision im Berciche des
    Thalamus opticus zu erkliren ; von diesen sind 4 mit
    Hemiplegie und Hemianiisthesie komplizirt. Kr fiihrt ferner
    16 Bille an, in denen die. Hemianopsie auf Krkrankungen
    der Occipitalrinde und des umnittelbar unter der Rinde liegen-
    den Markes zuriickging: yon diesen ist es nur cin einziger,
    der die Komplikation mit Hemiplegie und Hemianiisthesie

    zeigt.

    Seguin’) stellt dementsprechend den Satz auf, dass
    die laterale Hemianopsie mit dauernder Hemiplegie und
    Hemianiisthesie iit Wahrscheinlichkeit auf cine Liision im
    Bereiche des hinteren Schenkels der inneren Kapsel au
    bezichen sei,

    Versuchen wir nun zu errathen, welcher Natur die
    Liision in unseren beiden Fallen ist. Erkrankungen progres-
    siver Natur wie etwa Tumoren, chronisch entziindliche Pro-
    gesse lassen sich mit Sicherheit ausschliessen ; ebenso wenig
    herechtigt wiire die Annahme eines Prozesios auf Grund
    einer Allgemcinerkrankung, Syphilis, Morbus Brightii ete.
    Es muss sich vielmehr um cine ziemlich rasch auftretende
    und bald abgeschlossene Erkvankung handeln, deren Sté-
    rungen ciner stetigen Abnahme fuhig sind. Diesen Bedingungen
    entspricht am ehesten die Annahme einer Gefiissverschliessung
    und mit Riicksicht auf die Lokalisation der beobachteten
    Symptome kann das verschlossene Gefiiss kaum ein anderes
    sein als die Arteria cerebri media, welehe bekanntlich in
    hervorragender Weise zu solvhen Erkrankungen disponirt ist.
    Die Annahme einer verschliessenden Liision (Thrombose oder
    Embolic) der Arteria cerebri media in Folge einer akut
    fieberhaften, Erkrankung deckt den Verlauf, sowie alle Symp-
    tome unserer beiden Fille mit Einschluss der Hemianopsie,
    wie gleich gezeigt werden soll. Wir haben niimlich gesehen,
    dass die Hemianopsie unserer lille wahrscheinlich nicht dic
    Folge einer Liision in der Rindensubstanz des Occipitalhirns,
    sondern einer Liision eines subkortikalen Stiieckes der optischon
    Bahn sein diirfte. Die subkortikale Strecke dieser Balin von
    den Vierhiigeln an dureh die innere Kapsel und das Mark
    des unteren Scheitellappehens fallt aber in’s Erniihrungsbereich
    der Arteria cerebri media, wie der hintere Schenkel der
    immeren Kapsel und die benachbarten Stammtheile iiberhaupt.
    Un den 9 Fiillen der Se guin’schen Zusummenstellung,

    p.2ta,

  • S.

    die wir unseven beiden wegen der iihnlichen Symptomengrup-
    pirnng nahe stellten, findet sich als Létsion cinmal Embolie
    dieser grossen Arterie angegeben (Hugueniny; ein
    zweites Mal in einem Balle v rster uid Wernicke
    (7), in welchem aber Sensibiliti ingen fellten. Es ist
    r ungzweifelhaft durch die Lokalisation der vortindlichen
    Erweichungen verbiirgt, dass noch eine ganze Reihe von
    Killen der Se guin'schen Sammlung durch Verschluss der
    Arteria cerebri media hedingt ist. Seguin. stellt selbst den
    diagnostischen Satz anf, dass man eine Hemianopsie, die von
    typischer (spasmodischer) Hemiplegic begleitet ist, bei welcher
    die Hemianiisthesie fehlt oder geringfiigig erscheint, auf eine
    ausgedehnte obertlichliche Erweichung der von der Arteria
    «. m. versorgten Region des Gehirns beziehen darf. Dieser
    Satz") wiirde unseren beiden Fiillen sogar besser entsprechen,
    ws der vorhin angefithrte, denn die Hem
    Iille war keine absolute, im Malle [1 schien sie ithe
    nicht bedeutend zu sein.

    Es liegt kein Widerspruch darin, dass wir uns dareh
    das Fehlen oder die Geringtiigigkeit der halbseitigen Emptin-
    dungsstérang in der Annahme eines Verschlusses der Arteria
    m. nieht beirren lassen, nachdem wir oben gerade das
    Ausammentretfen von Hemianopsie mit Hemiplegie und Hemi-
    aniisthesie als charakteristisch fiir diese Liision angefiilrt
    haben. Ob Versehluss dieser Arterie Hemianiisthesic hervor-
    rift oder nicht, hiingt davon ab, oh der Verschlass der Ar-
    terie in das Anfangsstiiek derselben fillt, ans dem die Ge-
    fisschen fiir den Gehirnstanm und die innere Kapsel ent:
    springen, oder ob der Embolus, wie so hiiulig, weiter gescho-
    hen wird und nur die Rindenveriisteluaug der Arterie trilft.
    Ks wird bekanntlich angenommen, dass heide Gefissgebiete
    fiir alle praktischen Zwecke villig getrennt sind. In allen
    Millen ist die Hemianopsie durch Verschluss der Sylvi'schen
    Arterie eine subkortikale, die Begleitung derselben mit
    Jemianisthesie wiirde auf Kmbolie im Bereich der Stamm-
    gefiisse, das Fehlen dieses Symptoms auf Embolie im Rinden-
    gebiete (les Parietallappens) deuten.

    Da Kmbolien der Arteria fossae Sylvii so hitufig zur
    Beobachtung kommen, kénnte man die Frage aufwerfen,
    warum die Hemianopsic nicht eine stete Folge dieser Liision
    darstellt und als solehe in die klinische Beschreibung des
    oft) studirten Ereignisses aufgenommen ist. Die Antwort,

    haupt

    op 212)

  • S.

    — 48 =

    findet sich in einer Bemerkung Wernicke’s %), es diirfe bei
    der Natur dieser Stirung, die gewihnlich nur durch eine
    besondere Untersuchung festzustellen ist, nicht besonders ver-
    wundern, dass die homonyme Hemiopie oder heminpisehe
    Defekte so hiiufig tibersehen worden seien. Daz kommt
    ferner, dass fiir das Auftreten der Hemianopsie vor Allem
    die Tiefe der Erweiching massgebend sein wird, da die
    optische Leitungsbahn zur Occipitalrinde (die Gratiolet'sche
    Sehstrahlung) nicht unmittelhar unter der Rinde des unteren
    Scheitelliippehens hinzieht.

    Wir wiiren also zur Annahme gelangt, dass die Liision
    unserer beiden Fille in einem (vielleicht embolischen) Ver-
    schlusse der Arteria cerebri. media besteht, die Ausdehnung
    und Lage der einzelnen Erweichungsherde mag in beiden
    “illen einigermassen verschieden sein; die Hemianopsie der-
    Iben ist subkortikaler Natur. Ich michte mich den Autoren
    schliessen, welche annehmen, dass die Embolie der Gehirn-
    rien die hiinfigste Ursache der cerebralen Winderlihmung
    ist, —— Nun noch einige Worte iiber die seitliche Kin-
    stellung des Kopfes und der Augen, welche im Falle I
    neben der Hemianopsie und ungleichsinnig mit ihr (Kinstel-
    Iung nach der sichtbaren Hiilfte des Gesichtsfeldes) zu be-
    obachten war.

    Reinhard *) hat dieses Symptom fast in allen seinen
    »positiven® Fiillen beobachtet und vermuthet, dass der Geistes-
    zustand seiner Patienten (er hatte in der [rrenanstalt Fried-
    zumeist. demente Kranke) das Zustandekommen des-
    htere, da er eine Erwiihnung dieser Erscheinung
    in der Beschreibung anderer Ville von Hemianopsie vermisst.
    Die seitliche Kinstellung des Kopfes und der Augen ist he-
    kanotlich keine Lithmungserscheinung. So weit ich das in
    dieser Beziehung gesammelte Material iiberblicke, kann die
    {rscheinung zweifacher Natur sein, erstens cin Reizphiinomen,
    zweitens ein Begleitsymptom der Hemianopsie, Mitr die spasti-
    sche Form der Deviation conjuguée fithre ich nachstchenden
    schinen Fall von G. Thomson") an: Kin t4jihriger Knabe
    evlitt ein schweres Schiideltrauma, we au oiner Fraktur
    am linken Scheitelbein fithrte. Nach iiberstandener Gehirn-
    erschiitterung kam eine Zeit von psychischer Veriinderung,

    ') Lehrbuch der Gehirnkrankheiten II, pag. 188, 1881.

    ye. pag ABA.

    *) Case of ure of the Skull, in which conjugate deviation of the
    eyes, which had existed for four months, was removed hy trephining.
    Brain VI, 1884.

  • S.

    — a9 =

    wihrend welcher er die Augen stets fest geschlossen hielt.
    Ktwa 2 Monate nach dem ‘Prauma kam er zur Besimung
    und Githete die Augen, welche aber jetzt dauernd nach rechts
    cingestellt, waren, und zwar in so exzersivem Grade, dass
    die Pupillen hinter den Lidwinkeln versehwanden, und der
    Knabe fiir alle praktischen Zweeke blind war. Auf Anra-
    then von Dr. Ross wurde an der Stelle der Schiidelfraktur
    (welche die unteren Theile der Supramarginal- und) Angular-
    windung iiberlagerte) trepanirt, und zwei in der Gehirnsub-
    anz steckende Nnochensplitter entfernt. Nach der Opera-
    tion nahm die scitliche Kinstellung der Augen ab, und der
    Knabe gelangte alliniilig dahin, dieselbe durch Willensanstren-
    gung zu iiberwinden, sie stellte sich aber sofort. wieder her,
    sobald der Mintliss des Willens nachliess. Der Knabe war
    nicht hemianopisch, er trug den Kopf nach der Seite ge-
    wendet, ,als ob er iiber seine rechte Schulter blicken wolle®.
    Ueber den Endausgang des Falles ist nichts berichtet.

    Wenn die konjugirte Ablenkung ein spastisehes Phiino-
    men ist, wie in diesem Falle, zeigt es sich darin, dass
    die Kinstellung der Augen unverinderlich und uniiberwindbar

    -. Dies ist nicht der Fall, wenn die konjugirte Ablenkung:
    ne Begleiterscheinung der Hemianopsie ist. Bei unserem
    Knaben Ferdinand G. hewegten sich heide Augen frei von der
    Mittellinie bis in die rechten Augenwinkel, sie blieben selbst. in
    Mittelstellung stehen oder gingen auf Augenblicke nach links,
    letzteres aber aur dann, wenn das Kind zerstreat und un-
    Sobald seine Aufmerksamkeit —erwachte,
    stellten sich die Augen nach rechts ein. Die Beziehung der
    Augenablenkung zi Hemianopsie ist demnach eine durchsieh-
    tige, die Augen 1 yosich beim Sehen nach der erhaltenen
    Seite des Gesichtsfeldes, weil kein Anlass besteht, sie nach
    der ausgefallenen Seite zu richten, in welcher nicht etwa
    dunkel geschen wird, sondern dic iiberhaupt nicht existirt.
    Die Augenablenkung ist demnach weder eine Lihmungs-,
    noch eine Reizerscheinmng, sondern ein automatisches Liner-
    vationsphiinomen,

    Kine zweckmiixsige Bewegung ist die Kinstellung der
    Angen nach der erhaltenen Gesichtsfeldhiilfte keinesfalls,
    denn an der Ausdehnung des Gesichtsfeldes kann sie selbst-
    verstiindlich nichts dindern, und die durch Hemianopsie ge-
    stirte Uebereinstimmung yon Sehraum und Greiframn kann
    durch sie nur versehlechtert werden. Wenn rechtasseitige
    Hemianopsie ohne Deviation conjuguée vorhanden ist, reicht
    das Gesichtsfeld wenigstens bis zur Mitte des vorne befind-

    4

  • S.

    §

    — 50 —

    lichen Greifraumes ; stellen sich aber die Augen nach der
    erhaltenen Gesichtsfeldhiilfte, also nach links, se wird auch
    das crhaltene Gesichtsfeld noch weiter nach links yerlegt,
    was unzweekmiisaig ist. Man kann sich denmach vorstellen,
    dass cin besonderer Zustand des Bewusstseins uiithig ist,
    damit diese reflektorische, aber unzweekimiissige Angenbewe-
    gung zu Stande komme, und man hat in der ‘That die De-
    viation conjuguée als Begleiterscheinung der Hemianopsie
    bisher blos unter Verldiltnissen heobachtet, denen eine
    Nehwiiche oder Abschwiichung des Bewusstseins gemeinsam
    ist, nimlich: 1. Bei dementen Personen (Reinhard),
    2. bei Kindern (unser Fall 2), und 3. im apoplektischen
    Koma. Ich halte es fiir sel wahrscheinlich, dass die kon-
    jugirte Deviation des apoplektischen Komas, deven KErklivung
    noch aussteht, als Anzeichen der vorhandenen, nicht bemerk-
    baren Hemianopsie aufzufassen ist. Die Deviation richtet sich
    bekanntlich (V ost) nach der Seite des Herdes, also bei
    rechtsseitiger Lalmung, bei der auch rechtsscitige Hemian-
    opsie anzunehmen ist, nach links, d. i. nach der erhaltenen
    Seite des Gesichtsfeldes. Warum dieses interessante Symptom
    im Falle IL unserer Beobachtung nicht vorhanden war, weiss
    ich freilich nicht anzugeben.