S.
225
† VICTOR TAUSK
Zu den glücklicherweise nicht zahlreichen Opfern, die der Krieg
in den Reihen der Psychoanalytiker gefordert hat, muß man auch den
ungewöhnlich begabten Wiener Nervenarzt rechnen, der – noch ehe der
Frieden zum Abschluß gelangte — freiwillig aus dem Leben geschieden ist.Dr. Tausk, der erst im 42. Lebensjahre stand, gehörte seit mehr
als einem Jahrzehnt dem engeren Kreise der Anhänger Freuds an. Ur-
sprünglich Jurist, war Dr. Tausk bereits längere Zeit als Richter in
Bosnien tätig, als er unter dem Eindruck schwerer persönlicher Erlebnisse
seine Laufbahn aufgab und sich der Journalistik zuwandte, zu der ihn
seine umfassende allgemeine Bildung besonders befähigte. Nachdem er
längere Zeit in Berlin journalistisch tätig gewesen war, kam er in der-
selben Eigenschaft nach Wien, wo er die Psychoanalyse kennen lernte
und bald beschloß, sich ihr ganz zuzuwenden. Bereits als gereifter Mann
und Familienvater scheute er nicht vor den großen Schwierigkeiten und
Opfern eines neuerlichen Berufswechsels zurück, der eine mehrjährige
Unterbrechung in seinem Erwerbsleben bedeuten mußte. Sollte ihm das
langwierige Studium der Medizin doch nur ein Mittel sein, um die
Psychoanalyse praktisch ausüben zu können.Kurz vor Ausbruch des Weltkrieges hatte Tausk das zweite Dok-
torat erworben und etablierte sich als Nervenarzt in Wien, wo er nach
verhältnismäßig kurzer Zeit im Begriffe war, sich eine ansehnliche Praxis
zu schaffen, in der er schöne Erfolge erzielte. Aus dieser Tätigkeit,
die dem ehrgeizigen jungen Arzt volle Befriedigung und Existenzmög-
lichkeit verhieß, wurde er durch den Krieg plötzlich gewaltsam gerissen.
Sofort zur aktiven Dienstleistung einberufen hat Dr. Tausk, der bald
zum Oberarzt avancierte, auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen im
Norden und auf dem Balkan (zuletzt in Belgrad) seine ärztlichen Pflichten
mit Aufopferung erfüllt und dafür auch offizielle Anerkennung geerntet.
Es muß hier rühmend hervorgehoben werden, daß Dr. Tausk während
des Krieges mit Einsetzung seiner ganzen Persönlichkeit und mit Zurück-
setzung aller Rücksichten gegen die zahlreichen Mißbräuche offen auf-
getreten ist, die leider so viele Ärzte stillschweigend geduldet oder sogar
mitverschuldet haben.Die mehrjährige aufreibende Felddienstleistung konnte an dem
äußerst gewissenhaften Menschen nicht ohne schwere seelische Schädigung
vorübergehen. Schon auf dem letzten psychoanalytischen Kongreß im
September 1918 in Budapest, der die Analytiker nach langen JahrenS.
226
der Trennung wieder zusammenführte, zeigte der seit Jahren körperlich
Leidende Zeichen besonderer Gereiztheit.Als Dr. Tausk dann bald darauf, im Spätherbst vorigen Jahres,
aus dem Militärdienst schied und nach Wien zurückkehrte, stand der
innerlich Erschöpfte vor der schwierigen Aufgabe, sich zum drittenmal
– diesmal unter den ungünstigsten äußeren und inneren Verhältnissen –
eine neue Existenz zu gründen. Dazu kam, daß Dr. Tausk, der zwei
herangewachsene Söhne hinterläßt, denen er ein fürsorglicher Vater war,
vor einer neuen Eheschließung stand. Den vielfachen Anforderungen,
welche die harte Wirklichkeit an den Leidenden stellte, war er nun
nicht mehr gewachsen. Am Morgen des 3. Juli machte er seinem Leben
ein Ende.Dr. Tausk, der seit dem Herbst 1909 Mitglied der Wiener psycho-
analytischen Vereinigung war, ist den Lesern dieser Zeitschrift durch
verschiedene Beiträge bekannt, die sich durch scharfe Beobachtung,
treffendes Urteil und eine besondere Klarheit des Ausdrucks auszeichnen.
In diesen Arbeiten kommt deutlich die philosophische Schulung, die der
Autor glücklich mit den exakten Methoden der Naturwissenschaft
zu verbinden wußte, zum Ausdruck. Sein Bedürfnis nach philosophischer
Fundierung und erkenntnistheoretischer Klarheit zwang ihn, die so schwie-
rigen Probleme in ihrer ganzen Tiefe und umfassenden Bedeutung zu
erfassen, aber auch bewältigen zu wollen. In seinem ungestümen For-
scherdrang ist er vielleicht manchmal in dieser Richtung zu weit ge-
gangen; vielleicht war es auch noch nicht an der Zeit, der im Werden
begriffenen Wissenschaft der Psychoanalyse eine allgemeinere Grund-
lage dieser Art zu geben. Die psychoanalytische Betrachtung philo-
sophischer Probleme, für die Tausk eine besondere Begabung bewies, ver-
spricht immer mehr fruchtbar zu werden; eine der letzten Arbeiten des
Verstorbenen, über die Psychoanalyse der Urteilsfunktion, die – bis-
her noch unveröffentlicht – auf dem letzten psychoanalytischen Kon-
greß in Budapest von ihm vorgetragen wurde, beweist diese Richtung
seines Interesses.Neben seiner philosophischen Begabung und Neigung zeigte Tausk
auch ganz hervorragende medizinisch‑psychologische Fähigkeiten und hatte
auch auf diesem Gebiete schöne Leistungen aufzuweisen. Seine klinische
Tätigkeit, der wir wertvolle Untersuchungen über verschiedene Psychosen
(Melancholie, Schizophrenie) verdanken, berechtigte zu den schönsten
Hoffnungen und gab ihm die Anwartschaft auf eine Dozentur, um die er
in Bewerbung stand.Ein ganz besonderes Verdienst um die Psychoanalyse hat sich
Dr. Tausk, der über eine glänzende Rednergabe verfügte, durch die
Abhaltung von Vortragskursen erworben, in denen er, mehrere Jahre
hindurch, zahlreiche Zuhörer beiderlei Geschlechtes in die Grundlagen
und Probleme der Psychoanalyse einführte. Seine Zuhörer wußten die
pädagogische Geschicklichkeit und Klarheit seiner Vorträge ebenso zu
bewundern wie die Tiefe, mit der er einzelne Themata behandelte.Alle, die den Verstorbenen näher kannten, schätzten seinen lauteren
Charakter, seine Ehrlichkeit gegen sich und andere und seine vornehme
Natur, die ein Bestreben nach dem Vollendeten und Edlen auszeichnete.
Sein leidenschaftliches Temperament äußerte sich in scharfer, manchmal
überscharfer Kritik, die sich aber mit einer glänzenden Darstellungsgabe
verband. Diese persönlichen Eigenartigkeiten hatten für viele eine großeS.
227
Anziehung, mögen aber auch manche abgestoßen haben. Keiner jedoch
konnte sich dem Eindruck entziehen, daß er einen bedeutenden Menschen
vor sich habe.Was ihm die Psychoanalyse – bis zum letzten Augenblick – be-
deutet hat, davon zeugen hinterlassene Briefe, in denen er sich rück-
haltlos zu ihr bekennt und die Hoffnung auf ihre Anerkennung in nicht
allzu ferner Zeit ausspricht. Der allzu früh unserer Wissenschaft und
dem Wiener Kreise Entrissene hat gewiß dazu beigetragen, daß dieses
Ziel erreicht werde. In der Geschichte der Psychoanalyse und ihrer
ersten Kämpfe ist ihm ein ehrenvolles Andenken sicher.Die Redaktion.
InternationaleZeitschriftFuumlrPsychoanalyseBandV1919Heft3
225
–227