Victor Tausk † 1919-052/1919
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    VICTOR TAUSK 

    Zu den glücklicherweise nicht zahlreichen Opfern, die der Krieg 
    in den Reihen der Psychoanalytiker gefordert hat, muß man auch den 
    ungewöhnlich begabten Wiener Nervenarzt rechnen, der – noch ehe der 
    Frieden zum Abschluß gelangte — freiwillig aus dem Leben geschieden ist.

    Dr. Tausk, der erst im 42. Lebensjahre stand, gehörte seit mehr 
    als einem Jahrzehnt dem engeren Kreise der Anhänger Freuds an. Ur-
    sprünglich Jurist, war Dr. Tausk bereits längere Zeit als Richter in 
    Bosnien tätig, als er unter dem Eindruck schwerer persönlicher Erlebnisse 
    seine Laufbahn aufgab und sich der Journalistik zuwandte, zu der ihn 
    seine umfassende allgemeine Bildung besonders befähigte. Nachdem er 
    längere Zeit in Berlin journalistisch tätig gewesen war, kam er in der-
    selben Eigenschaft nach Wien, wo er die Psychoanalyse kennen lernte 
    und bald beschloß, sich ihr ganz zuzuwenden. Bereits als gereifter Mann 
    und Familienvater scheute er nicht vor den großen Schwierigkeiten und 
    Opfern eines neuerlichen Berufswechsels zurück, der eine mehrjährige 
    Unterbrechung in seinem Erwerbsleben bedeuten mußte. Sollte ihm das 
    langwierige Studium der Medizin doch nur ein Mittel sein, um die 
    Psychoanalyse praktisch ausüben zu können.

    Kurz vor Ausbruch des Weltkrieges hatte Tausk das zweite Dok-
    torat erworben und etablierte sich als Nervenarzt in Wien, wo er nach 
    verhältnismäßig kurzer Zeit im Begriffe war, sich eine ansehnliche Praxis 
    zu schaffen, in der er schöne Erfolge erzielte. Aus dieser Tätigkeit, 
    die dem ehrgeizigen jungen Arzt volle Befriedigung und Existenzmög-
    lichkeit verhieß, wurde er durch den Krieg plötzlich gewaltsam gerissen. 
    Sofort zur aktiven Dienstleistung einberufen hat Dr. Tausk, der bald 
    zum Oberarzt avancierte, auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen im 
    Norden und auf dem Balkan (zuletzt in Belgrad) seine ärztlichen Pflichten 
    mit Aufopferung erfüllt und dafür auch offizielle Anerkennung geerntet. 
    Es muß hier rühmend hervorgehoben werden, daß Dr. Tausk während 
    des Krieges mit Einsetzung seiner ganzen Persönlichkeit und mit Zurück-
    setzung aller Rücksichten gegen die zahlreichen Mißbräuche offen auf-
    getreten ist, die leider so viele Ärzte stillschweigend geduldet oder sogar 
    mitverschuldet haben.

    Die mehrjährige aufreibende Felddienstleistung konnte an dem 
    äußerst gewissenhaften Menschen nicht ohne schwere seelische Schädigung 
    vorübergehen. Schon auf dem letzten psychoanalytischen Kongreß im 
    September 1918 in Budapest, der die Analytiker nach langen Jahren 

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    der Trennung wieder zusammenführte, zeigte der seit Jahren körperlich 
    Leidende Zeichen besonderer Gereiztheit.

    Als Dr. Tausk dann bald darauf, im Spätherbst vorigen Jahres, 
    aus dem Militärdienst schied und nach Wien zurückkehrte, stand der 
    innerlich Erschöpfte vor der schwierigen Aufgabe, sich zum drittenmal 
    – diesmal unter den ungünstigsten äußeren und inneren Verhältnissen – 
    eine neue Existenz zu gründen. Dazu kam, daß Dr. Tausk, der zwei 
    herangewachsene Söhne hinterläßt, denen er ein fürsorglicher Vater war, 
    vor einer neuen Eheschließung stand. Den vielfachen Anforderungen, 
    welche die harte Wirklichkeit an den Leidenden stellte, war er nun 
    nicht mehr gewachsen. Am Morgen des 3. Juli machte er seinem Leben 
    ein Ende.

    Dr. Tausk, der seit dem Herbst 1909 Mitglied der Wiener psycho-
    analytischen Vereinigung war, ist den Lesern dieser Zeitschrift durch 
    verschiedene Beiträge bekannt, die sich durch scharfe Beobachtung, 
    treffendes Urteil und eine besondere Klarheit des Ausdrucks auszeichnen. 
    In diesen Arbeiten kommt deutlich die philosophische Schulung, die der 
    Autor glücklich mit den exakten Methoden der Naturwissenschaft 
    zu verbinden wußte, zum Ausdruck. Sein Bedürfnis nach philosophischer 
    Fundierung und erkenntnistheoretischer Klarheit zwang ihn, die so schwie-
    rigen Probleme in ihrer ganzen Tiefe und umfassenden Bedeutung zu 
    erfassen, aber auch bewältigen zu wollen. In seinem ungestümen For-
    scherdrang ist er vielleicht manchmal in dieser Richtung zu weit ge-
    gangen; vielleicht war es auch noch nicht an der Zeit, der im Werden 
    begriffenen Wissenschaft der Psychoanalyse eine allgemeinere Grund-
    lage dieser Art zu geben. Die psychoanalytische Betrachtung philo-
    sophischer Probleme, für die Tausk eine besondere Begabung bewies, ver-
    spricht immer mehr fruchtbar zu werden; eine der letzten Arbeiten des 
    Verstorbenen, über die Psychoanalyse der Urteilsfunktion, die – bis-
    her noch unveröffentlicht – auf dem letzten psychoanalytischen Kon-
    greß in Budapest von ihm vorgetragen wurde, beweist diese Richtung 
    seines Interesses.

    Neben seiner philosophischen Begabung und Neigung zeigte Tausk 
    auch ganz hervorragende medizinisch‑psychologische Fähigkeiten und hatte 
    auch auf diesem Gebiete schöne Leistungen aufzuweisen. Seine klinische 
    Tätigkeit, der wir wertvolle Untersuchungen über verschiedene Psychosen 
    (Melancholie, Schizophrenie) verdanken, berechtigte zu den schönsten 
    Hoffnungen und gab ihm die Anwartschaft auf eine Dozentur, um die er 
    in Bewerbung stand.

    Ein ganz besonderes Verdienst um die Psychoanalyse hat sich 
    Dr. Tausk, der über eine glänzende Rednergabe verfügte, durch die 
    Abhaltung von Vortragskursen erworben, in denen er, mehrere Jahre 
    hindurch, zahlreiche Zuhörer beiderlei Geschlechtes in die Grundlagen 
    und Probleme der Psychoanalyse einführte. Seine Zuhörer wußten die 
    pädagogische Geschicklichkeit und Klarheit seiner Vorträge ebenso zu 
    bewundern wie die Tiefe, mit der er einzelne Themata behandelte.

    Alle, die den Verstorbenen näher kannten, schätzten seinen lauteren 
    Charakter, seine Ehrlichkeit gegen sich und andere und seine vornehme 
    Natur, die ein Bestreben nach dem Vollendeten und Edlen auszeichnete. 
    Sein leidenschaftliches Temperament äußerte sich in scharfer, manchmal 
    überscharfer Kritik, die sich aber mit einer glänzenden Darstellungsgabe 
    verband. Diese persönlichen Eigenartigkeiten hatten für viele eine große 

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    Anziehung, mögen aber auch manche abgestoßen haben. Keiner jedoch 
    konnte sich dem Eindruck entziehen, daß er einen bedeutenden Menschen 
    vor sich habe.

    Was ihm die Psychoanalyse – bis zum letzten Augenblick – be-
    deutet hat, davon zeugen hinterlassene Briefe, in denen er sich rück-
    haltlos zu ihr bekennt und die Hoffnung auf ihre Anerkennung in nicht 
    allzu ferner Zeit ausspricht. Der allzu früh unserer Wissenschaft und 
    dem Wiener Kreise Entrissene hat gewiß dazu beigetragen, daß dieses 
    Ziel erreicht werde. In der Geschichte der Psychoanalyse und ihrer 
    ersten Kämpfe ist ihm ein ehrenvolles Andenken sicher.

    Die Redaktion.