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V O R R E D E
V O N
S I G M. F R E U D
(1919)Die Psychoanalyse wurde aus der ärztlichen Not geboren, sie entsprang
dem Bedürfnis, nervös Kranken zu helfen, denen Ruhe, Wasserheilkünste
und Elektrizität keine Linderung bringen konnten. Eine höchst merkwürdige
Erfahrung von Josef Breuer hatte die Hoffnung geweckt, ihnen um so aus-
giebiger helfen zu können, je mehr man von der bis dahin unergründeten
Entstehung ihrer Leidenssymptome verstünde. So wurde die Psychoanalyse,
ursprünglich eine rein ärztliche Technik, von ihrem Anfang an auf Er-
forschen, auf die Aufdeckung weitreichender verborgener Zusammenhänge
hingewiesen.Ihr weiterer Weg lenkte sie von dem Studium der körperlichen Bedin-
gungen des nervösen Krankseins in einem für den Arzt befremdenden Maße
ab. Dafür bekam sie es mit allem seelischen Inhalt zu tun, der das mensch-
liche Leben erfüllt, auch das der Gesunden, der Normalen und Übernormalen.
Sie mußte sich um Affekte und Leidenschaften kümmern, vor allem um
jene, welche die Dichter darzustellen und zu verherrlichen nicht müde werden,
um die Affekte des Liebeslebens, lernte die Macht der Erinnerungen kennen,
die ungeahnte Bedeutung der frühen Kindheitsjahre für die Gestaltung der
späteren Reife, die Stärke der Wünsche, die das Urteil des Menschen ver-
fälschen und seinem Streben feste Bahnen vorschreiben. Eine Zeitlang schien
es ihr beschieden, in Psychologie aufzugehen, ohne angeben zu können, warum
sich die Psychologie des Kranken von der des Normalen unterscheide.S.
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Auf ihrem Wege stieß sie aber auf das Problem des Traumes, der
ein abnormes seelisches Produkt ist, von normalen Menschen unter regel-
mäßig wiederkehrenden physiologischen Bedingungen geschaffen. Als sich der
Psychoanalyse das Rätsel der Träume löste, hatte sie im unbewußten
Seelischen den gemeinsamen Boden gefunden, in dem die höchsten wie die
niedrigsten Seelenregungen wurzeln, aus dem sich die normalsten wie die
krankhaft irregehenden Seelenleistungen erheben. Nun gestaltete sich immer
deutlicher und vollständiger das Bild des seelischen Betriebs. Dunkle,
aus
dem Organischen stammende Triebkräfte, die nach mitgebrachten Zielen
streben, über ihnen ein Instanzenzug von höher organisierten seelischen
Formationen — Erwerbungen der Menschheitsentwicklung unter dem Zwang
der Menschheitsgeschichte — welche Anteile dieser Triebregungen auf-
genommen, weitergebildet oder ihnen selbst höhere Ziele zugewiesen haben,
auf jeden Fall aber sie durch feste Verknüpfungen binden und mit ihren
Triebkräften nach ihren eigenen Absichten walten. Einen anderen Anteil
derselben elementaren Triebregungen hat aber diese höhere Organisation,
die uns als das Ich bekannt ist, als unbrauchbar von sich gewiesen, weil
sie sich in die organische Einheit des Individuums nicht fügen konnten oder
weil sie sich gegen die kulturellen Ziele desselben sträubten. Das Ich
ist nicht imstande, diese ihm unterworfenen seelischen Mächte auszurotten,
aber es wendet sich von ihnen ab, beläßt sie auf dem primitivsten psycho-
logischen Niveau, schützt sich gegen ihre Ansprüche durch energische Schutz-
und Gegensatzausbildungen oder sucht sich durch Ersatzbefriedigungen mit
ihnen abzufinden. Ungebändigt und unzerstörbar, doch an jeder Betätigung
gehemmt, bilden diese der Verdrängung verfallenen Triebe und ihre pri-
mitive seelische Repräsentanz die seelische Unterwelt, den Kern des eigentlich
Unbewußten, stets bereit, ihre Ansprüche geltend zu machen und auf
jeden Umweg zur Befriedigung vorzudringen. Daher die Labilität des stolzen
psychischen Oberbaues, der nächtliche Vorstoß des Verpönten und Verdrängten
im Traume, die Eignung, an Neurosen und Psychosen zu erkranken, sobald
sich das Kräfteverhältnis zwischen dem Ich und dem Verdrängten zu un-
gunsten des Ichs verschiebt.
Die nächste Überlegung mußte sagen, daß eine solche Auffassung vom
Leben der menschlichen Seele unmöglich auf das Gebiet des Traumes undS.
9 Vorrede von Sigm. Freud
der nervösen Erkrankungen eingeschränkt werden konnte. Wenn sie etwas
Richtiges getroffen hatte, so mußte sie auch für das normale seelische Ge-
schehen zutreffend sein, und selbst die höchsten Leistungen des Menschen-
geistes mußten eine Beziehung zu den in der Pathologie erkannten Momenten,
zur Verdrängung, zu den Bemühungen um die Bewältigung des Unbewußten,
zu den Befriedigungsmöglichkeiten der primitiven Triebe erkennen lassen.
Es wurde von da an eine unwiderstehliche Versuchung, ein wissenschaftliches
Gebot, die Untersuchungsmethoden der Psychoanalyse weit weg von ihrem
Mutterboden auf die mannigfaltigsten Geisteswissenschaften anzuwenden. Ja
selbst die psychoanalytische Arbeit an den Kranken mahnte unaufhörlich an
diese neue Aufgabe, denn es war unverkennbar, daß die einzelnen Formen
der Neurose die stärksten Anklänge an die höchstwertigen Schöpfungen unserer
Kultur vernehmen ließen. Der Hysteriker ist ein unzweifelhafter Dichter,
wenngleich er seine Phantasien im wesentlichen mimisch und ohne Rück-
sicht auf das Verständnis der anderen darstellt; das Zeremoniell und
die Verbote des Zwangsneurotikers nötigen uns zum Urteil, er habe sich eine
Privatreligion geschaffen, und selbst die Wahnbiidungen der Paranoiker
zeigen eine unerwünschte äußere Ähnlichkeit und innere Verwandtschaft mit
den Systemen unserer Philosophen. Man kann sich des Eindrucks nicht er-
wehren, daß hier Kranke in asozialer Weise doch dieselben Versuche zur
Lösung ihrer Konflikte und Beschwichtigung ihrer drängenden Bedürfnisse
unternehmen, die Dichtung, Religion und Philosophie heißen, wenn
sie in einer für eine Mehrzahl verbindlichen Weise ausgeführt werden.
O. Rank und H. Sachs haben 1913 in einer überaus gedankenreichen
Schrift („Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Geisteswissenschaften“)
zusammengestellt, welche Ergebnisse die Anwendung der Psychoanalyse auf
die Geisteswissenschaften bis dahin geliefert hatte. Mythologie, Literatur-
und Religionsgeschichte scheinen die am leichtesten zugänglichen Gebiete zu
sein. Für den Mythus ist die endgültige Formel, welche ihm seinen Platz
in solchem Zusammenhange anweist, noch nicht gefunden. In einem großen
Buche über den Inzestkomplex hat Otto Rank den überraschenden Nach-
weis erbracht, daß die Stoffwahl insbesondere der dramatischen Dichtung
vorwiegend durch den Umfang des von der Psychoanalyse so genannten
Ödipuskomplexes bestimmt wird, durch dessen Bearbeitung in den mannig-
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10 Vorrede von Sigm. Freud.
fachsten Abänderungen, Entstellungen und Verhüllungen der Dichter sein
eigenes, persönlichstes Verhältnis zu diesem affektiven Thema zu erledigen sucht.
Der Ödipuskomplex, d. i. die affektive Einstellung zur Familie, im engeren
Sinne zu Vater und Mutter, ist jener Stoff, an dessen Bewältigung der ein-
zelne Neurotiker scheitert und der darum regelmäßig den Kern seiner Neu-
rose bildet. Er verdankt aber seine Bedeutung keineswegs einem uns unver-
ständlichen Zusammentreffen, sondern die biologischen Tatsachen der langen
Unselbständigkeit und langsamen Reifung des jungen Menschen, sowie des
komplizierten Entwicklungsganges seiner Liebesfähigkeit drücken sich in
dieser Betonung des Verhältnisses zu den Eltern aus und haben zur Folge,
daß die Überwindung des Ödipuskomplexes mit der zweckmäßigsten Bewäl-
tigung der archaischen, animalischen Erbschaft des Menschen zusammen-
fällt. In dieser sind zwar alle Kräfte enthalten, welche für die spätere
Kulturentwicklung des Einzelnen benötigt werden, aber sie müssen erst aus-
gesondert und verarbeitet werden. So wie es der einzelne Mensch mitbringt,
ist dieses archaische Erbgut für die Zwecke des sozialen Kulturlebens
nicht zu brauchen.
Es bedarf eines Schrittes weiter, um den Ausgangspunkt für die psycho-
analytische Betrachtung des religiösen Lebens zu finden. Was heute für den
Einzelnen Erbgut ist, das war einmal vor einer langen Reihe von Gene-
rationen, die es einander übertragen haben, Neuerwerb. Auch der Ödipus-
komplex kann also seine Entwicklungsgeschichte haben und das Studium der
Prähistorie kann dazu führen, diese zu erraten. Die Forschung nimmt an,
daß das menschliche Familienleben sich in entlegenen Urzeiten ganz anders
gestaltet hatte, als wir es heute kennen, und bestätigt diese Vermutung durch
Befunde bei den heute lebenden Primitiven. Unterzieht man das prähistorische
und ethnologische Material darüber einer psychoanalytischen Bearbeitung, so
stellt sich ein unerwartet präzises Ergebnis heraus: daß Gottvater dereinst
leibhaftig auf Erden gewandelt und als Häuptling der Urmenschenhorde
seine Herrschermacht gebraucht hat, bis ihn seine Söhne im Vereine er-
schlugen. Ferner, daß durch die Wirkung dieser befreienden Untat und in
der Reaktion auf dieselbe die ersten sozialen Bedingungen entstanden, die
grundlegenden moralischen Beschränkungen und die älteste Form einer
Religion, der Totemismus. Daß aber auch die späteren Religionen von dem-S.
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selben Inhalt erfüllt und bemüht sind, einerseits die Spuren jenes Verbrechens
zu verwischen oder es zu sühnen, indem sie andere Lösungen für den Kampf
zwischen Vater und Söhnen einsetzen, anderseits aber nicht umhin können,
die Beseitigung des Vaters von neuem zu wiederholen. Dabei läßt sich auch
im Mythus der Nachhall jenes, die ganze Menschheitsentwicklung riesen-
groß überschattenden Ereignisses erkennen.
Diese auf den Einsichten von Robertson Smith fußende, von mir in
„Totem und Tabu“ 1912 entwickelte Hypothese hat Th. Reik seinen
Studien über Probleme der Religionspsychologie zugrunde gelegt, von denen
hier der erste Band ausgegeben wird. Der psychoanalytischen Technik getreu,
gehen diese Arbeiten von bisher unverstandenen Einzelheiten des religiösen
Lebens aus, um durch deren Aufklärung Aufschluß über die tiefsten Vor-
aussetzungen und letzten Ziele der Religionen zu gewinnen, und behalten
die Beziehung zwischen dem Urzeitlichen und dem heutigen Primitiven
sowie den Zusammenhang kultureller Leistung mit neurotischer Ersatzbildung un-
verrückt im Auge. Im übrigen darf auf die Einleitung des Verfassers ver-
wiesen und die Erwartung ausgesprochen werden, daß sein Werk sich der
Beachtung Fachkundiger selbst empfehlen wird.
XI_Reik_1928_Das_Ritual_2te_k
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