S.
VORREDE
von
Prof. Dr. Sigm. Freud.Die Psychoanalyse wurde aus der ärztlichen Not geboren, sie
entsprang dem Bedürfnis, nervös Kranken zu helfen, denen Ruhe,
Wasserheilkünste und Elektrizität keine Linderung bringen konnten.
Eine höchst merkwürdige Erfahrung von Josef Breuer hatte die
Hoffnung geweckt, ihnen um so ausgiebiger helfen zu können, je mehr
man von der bis dahin unergründeten Entstehung ihrer Leidens-
symptome verstünde. So wurde die Psychoanalyse, ursprünglich eine
rein ärztliche Technik, von ihrem Anfang an auf Erforschen, auf
die Aufdeckung weitreichender verborgener Zusammenhänge hin-
gewiesen.Ihr weiterer Weg lenkte sie von dem Studium der körper-
lichen Bedingungen des nervösen Krankseins in einem für den Arzt
befremdenden Maße ab. Dafür bekam sie es mit allem seelischen
Inhalt zu tun, der das menschliche Leben erfüllt, auch auf das der Ge-
sunden, der Normalen und Übernormalen. Sie mußte sich um Affekte
und Leidenschaften kümmern, vor allem um jene, welche die Dichter
darzustellen und zu verherrlichen nicht müde werden, um die Affekte
des Liebeslebens, lernte die Macht der Erinnerungen kennen, die
ungeahnte Bedeutung der frühen Kindheitsjahre für die Gestaltung
der späteren Reife, die Stärke der Wünsche, die das Urteil des
Menschen verfälschen und seinem Streben feste Bahnen vorschreiben.S.
VIII VORREDE.
Eine Zeitlang schien es ihr beschieden, in Psychologie aufzugehen,
ohne angeben zu können, warum sich die Psychologie des Kranken
von der des Normalen unterscheide.Auf ihrem Wege stieß sie aber auf das Problem des Traumes,
der ein abnormes seelisches Produkt ist, von normalen Menschen
unter regelmäßig wiederkehrenden physiologischen Bedingungen ge-
schaffen. Als sich der Psychoanalyse das Rätsel der Träume löste,
hatte sie im unbewußten Seelischen den gemeinsamen Boden ge-
funden, in dem die höchsten wie die niedrigsten Seelenregungen
wurzeln, aus dem sich die normalsten wie die krankhaft irregehenden
Seelenleistungen erheben. Nun gestaltete sich immer deutlicher und
vollständiger das Bild des seelischen Betriebs. Dunkle, aus dem
Organismus stammende Triebkräfte, die nach mitgebrachten Zielen
streben, über ihnen ein Instanzenzug von höher organisierten seeli-
schen Formationen — Erwerbungen der Menschheitsentwicklung unter
dem Zwang der Menschheitsgeschichte —, welche Anteile dieser
Triebregungen aufgenommen, weitergebildet oder ihnen selbst höhere
Ziele zugewiesen haben, auf jeden Fall aber sie durch feste Ver-
knüpfungen binden und mit ihren Triebkräften nach ihren eigenen
Absichten walten. Einen anderen Anteil derselben elementaren Trieb-
regungen hat aber diese höhere Organisation, die uns als das Ich
bekannt ist, als unbrauchbar von sich gewiesen, weil sie sich in
die organische Einheit des Individuums nicht fügen konnten oder weil
sie sich gegen die kulturellen Ziele desselben sträubten. Das Ich
ist nicht imstande, diese ihm unterworfenen seelischen Mächte
auszurotten, aber es wendet sich von ihnen ab, beläßt sie auf dem
primitivsten psychologischen Niveau, schützt sich gegen ihre An-
sprüche durch energische Schutz- und Gegensatzausbildungen oder sucht
sich durch Ersatzbefriedigungen mit ihnen abzufinden. Ungebändigt
und unzerstörbar, doch an jeder Betätigung gehemmt, bilden diese
der Verdrängung verfallenen Triebe und ihre primitive seelische
Repräsentanz die seelische Unterwelt, den Kern des eigentlich Un-
bewußten, stets bereit, ihre Ansprüche geltend zu machen und aufS.
IX
VORREDE
jeden Umweg zur Befriedigung vorzudringen. Daher die Labilität
des stolzen psychischen Oberbaues, der nächtliche Vorstoß des Ver-
pönten und Verdrängten im Traume, die Eignung, an Neurosen und
Psychosen zu erkranken, sobald das Kräfteverhältnis zwischen dem
Ich und dem Verdrängten zu ungunsten des Ichs verschiebt.
Die nächste Überlegung mußte sagen, daß eine solche Auf-
fassung vom Leben der menschlichen Seele unmöglich auf das Gebiet
des Traumes und der nervösen Erkrankungen eingeschränkt werden
konnte. Wenn sie etwas Richtiges getroffen hatte, so mußte sie auch
für das normale seelische Geschehen zutreffend sein, und selbst die
höchsten Leistungen des Menschgengeistes mußten eine Beziehung zu
den in der Pathologie erkannten Momenten, zur Verdrängung, zu
den Bemühungen um die Bewältigung des Unbewußten, zu den Be-
friedigungsmöglichkeiten der primitiven Triebe erkennen lassen. Es
wurde von da an eine unwiderstehliche Versuchung, ein wissen-
schaftliches Gebot, die Untersuchungsmethoden der Psychoanalyse
weit weg von ihrem Mutterboden auf die mannigfaltigsten Geistes-
wissenschaften anzuwenden. Ja selbst die psychoanalytische Arbeit
an den Kranken mahnte unaufhörlich an diese neue Aufgabe, denn
es war unverkennbar, daß die einzelnen Formen der Neurose die
stärksten Anklänge an die höchstwertigen Schöpfungen unserer
Kultur vernehmen ließen. Der Hysteriker ist ein unzweifelhafter
Dichter, wenngleich er seine Phantasien im wesentlichen mimisch
und ohne Rücksicht auf das Verständnis der anderen darstellt;
das Zeremoniell und die Verbote des Zwangsneurotikers nötigen uns zum
Urteil, er habe sich eine Privatreiigion geschaffen, und selbst die
Wahnbiidungen der Paranoiker zeigen eine unerwünschte äußere
Ähnlichkeit und innere Verwandtschaft mit den Systemen unserer
Philosophen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier
Kranke in asozialer Weise doch dieselben Versuche zur Lösung
ihrer Konflikte und Beschwichtigung ihrer drängenden Bedürfnisse
unternehmen, die Dichtung, Religion und Philosophie heißen, wenn
sie in einer für eine Mehrzahl verbindlichen Weise ausgeführt werden.S.
X
VORREDE.
O. Rank und H. Sachs haben 1913 in einer überaus gedanken-
reichen Schrift („Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Geistes-
wissenschaften“) zusammengestellt, welche Ergebnisse die Anwendung
der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften bis dahin geliefert
hatte. Mythologie, Literatur- und Religionsgeschichte scheinen die
am leichtesten zugängliche Gebiete zu sein. Für den Mythus ist
die endgültige Formel, welche ihm seinen Platz in solchem Zu-
sammenhange anweist, noch nicht gefunden. In einem großen Buche
über den Inzestkomplex hat Otto Rank¹ den überraschenden
Nachweis erbracht, daß die Stoffwahl insbesondere der dramatischen
Dichtung vorwiegend durch den Umfang des von der Psychoanalyse
so genannten Ödipuskomplexes bestimmt wird, durch dessen Be-
arbeitung in den mannigfachsten Abänderungen, Entstellungen und
Verhüllungen der Dichter sein eigenes, persönlichstes Verhältnis zu
diesem affektiven Thema zu erledigen sucht. Der Ödipuskomplex,
d. i. die affektive Einstellung zur Familie, im engeren Sinne zu Vater
und Mutter, ist jener Stoff, an dessen Bewältigung der einzelne Neu-
rotiker scheitert und der darum regelmäßig den Kern seiner Neurose
bildet. Er verdankt aber seine Bedeutung keineswegs einem uns
unverständlichen Zusammentreffen, sondern die biologischen Tatsachen
der langen Unselbständigkeit und langsamen Reifung des jungen
Menschen, sowie des komplizierten Entwicklungsganges seiner Liebes-
fähigkeit drücken sich in dieser Betonung des Verhältnisses zu den
Eltern aus und haben zur Folge, daß die Überwindung des Ödipus-
komplexes mit der zweckmäßigsten Bewältigung der archaischen,
animalischen Erbschaft des Menschen zusammenfällt. In dieser sind
zwar alle Kräfte enthalten, welche für die spätere Kulturentwick-
lung des Einzelnen benötigt werden, aber sie müssen erst ausgesondert
und verarbeitet werden. So wie es der einzelne Mensch mitbringt,
ist dieses archaische Erbgut für die Zwecke des sozialen Kulturlebens
nicht zu brauchen.
¹ O. Rank, Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Leipzig und
Wien, 1912.S.
XI VORREDE.
Es bedarf eines Schrittes weiter, um den Ausgangspunkt für
die psychoanalytische Betrachtung des religiösen Lebens zu finden.
Was heute für den Einzelnen Erbgut ist, das war einmal vor einer
langen Reihe von Generationen, die es einander übertragen haben,
Neuerwerb. Auch der Ödipuskomplex kann also seine Entwicklungs-
geschichte haben und das Studium der Prähistorie kann dazu führen,
diese zu erraten. Die Forschung nimmt an, daß das menschliche
Familienleben sich in entlegenen Urzeiten ganz anders gestaltet hatte,
als wir es heute kennen, und bestätigt diese Vermutung durch Be-
funde bei den heute lebenden Primitiven. Unterzieht man das prä-
historische und ethnologische Material darüber einer psychoana-
lytischen Bearbeitung, so stellt sich ein unerwartet präzises Ergebnis
heraus: daß Gottvater dereinst leibhaftig auf Erden gewandelt und
als Häuptling der Urmenschenhorde seine Herrschermacht gebraucht
hat, bis ihn seine Söhne im Vereine erschlugen. Ferner, daß durch
die Wirkung dieser befreienden Untat und in der Reaktion auf die-
selbe die ersten sozialen Bindungen entstanden, die grundlegenden
moralischen Beschränkungen und die älteste Form einer Religion,
der Totemismus. Daß aber auch die späteren Religionen von dem-
selben Inhalt erfüllt und bemüht sind, einerseits die Spuren jenes
Verbrechens zu verwischen oder es zu sühnen, indem sie andere
Lösungen für den Kampf zwischen Vater und Söhnen einsetzen,
anderseits aber nicht umhin können, die Beseitigung des Vaters von
neuem zu wiederholen. Dabei läßt sich auch im Mythus der Nach-
hall jenes, die ganze Menschheitsentwicklung riesengroß über-
schattenden Ereignisses erkennen.
Diese auf den Einsichten von Robertson Smith fußende, von
mir in „Totem und Tabu“ 1912 entwickelte Hypothese hat
Th. Reik seinen Studien über Probleme der Religionspsychologie
zugrunde gelegt, von denen hier der erste Band ausgegeben wird.
Der psychoanalytischen Technik getreu gehen diese Arbeiten von
bisher unverstandenen Einzelheiten des religiösen Lebens aus, um
durch deren Aufklärung Aufschluß über die tiefsten VoraussetzungenS.
XII VORREDE.
und letzten Ziele der Religionen zu gewinnen, und behalten die
Beziehung zwischen dem Urzeitlichen und dem heutigen Primitiven
sowie den Zusammenhang kultureller Leistung mit neurotischer
Ersatzbildung unverrückt im Auge. Im übrigen darf auf die Ein-
leitung des Verfassers verwiesen und die Erwartung ausgesprochen
werden, daß sein Werk sich der Beachtung Fachkundiger selbst
empfehlen wird.—
ProblemeDerReligionspsychologieI.TeilDasRitual
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