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VORWORT
zu „Die psychischen Störungen der männlichen Potenz“ von
Dr. Maxim. Steiner, Wien 1915Der Autor dieser kleinen Monographie, welche die Pathologie
und Therapie der psychischen Impotenz des Mannes behandelt,
gehört zu jener kleinen Schar von Ärzten, welche frühzeitig die
Bedeutung der Psychoanalyse für ihr Spezialfach erkannt und
seitdem nicht aufgehört haben, sich in deren Theorie und Technik
zu vervollkommnen. Wir wissen ja, daß nur ein kleiner Anteil
der neurotischen Leiden – welche wir jetzt als Folgen von Störung
der Sexualfunktion erkannt haben – in der Neuropathologie selbst
abgehandelt wird. Der größere Teil derselben fällt unter die Er-
krankungen des betreffenden Organs, welches von der neurotischen
Störung heimgesucht wird. Es ist nur zweckmäßig und billig, wenn
auch die Behandlung dieser Symptome oder Syndrome die Sache
des Spezialarztes wird, welcher allein die Differentialdiagnose
gegen eine organische Affektion stellen, bei Mischformen den Anteil
des organischen Elements von dem des neurotischen abgrenzen und
im allgemeinen Aufschluß über die gegenseitige Förderung von
beiderlei Krankheitsfaktoren geben kann. Sollen aber die „nervösen“
Organkrankheiten nicht als ein Anhang zu den materiellen Er-
krankungen derselben Organe einer Vernachlässigung anheimfallen,
welche sie bei ihrer Häufigkeit und praktischen Bedeutsamkeit keines-
wegs verdienen, so muß der Spezialist, sei er Magen-, Herz- oder
Urogenitalarzt, außer seinen allgemeinen ärztlichen und seinen
Spezialkenntnissen auch die Gesichtspunkte, Einsichten und Tech-
niken des Nervenarztes für sein Gebiet verwerten können.S.
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Geleitworte
Es wird einen großen therapeutischen Fortschritt bedeuten, wenn
der Spezialarzt den mit einem nervösen Organleiden Behafteten
nicht mehr mit dem Bescheid entlassen wird: „Ihnen fehlt nichts;
es ist bloß nervös.“ Oder mit der nicht viel besseren Fortsetzung:
„Gehen Sie zum Nervenarzt, er wird Ihnen eine leichte Kalt-
wasserkur verordnen.“ Man wird gewiß auch eher vom Organ-
spezialisten verlangen dürfen, daß er die nervösen Störungen seines
Gebietes verstehe und behandeln könne, als vom Nervenarzt, daß
er sich zum Universalspezialisten für alle Organe ausbilde, an denen
die Neurosen Symptome machen. Demnach ist vorauszusehen, daß
nur die Neurosen mit wesentlich psychischen Symptomen die
Domäne des Nervenarztes bleiben werden.Die Zeit ist dann hoffentlich nicht ferne, in welcher die Einsicht
allgemein wird, daß man keinerlei nervöse Störung verstehen und
behandeln kann, wenn man nicht die Gesichtspunkte, oft auch die
Technik der Psychoanalyse zu Hilfe nimmt. Diese Behauptung mag
heute wie eine anmaßende Übertreibung klingen; ich getraue mich
vorherzusagen, daß sie dazu bestimmt ist, ein Gemeinplatz zu
werden. Es wird aber ein bleibendes Verdienst des Autors dieser
Schrift sein, daß er diese Zeit nicht abgewartet hat, um die Psycho-
analyse in die Therapie der nervösen Leiden seines Spezialgebietes
einzulassen.
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