Vorwort 1908-061/1921
  • S.

    Vorwort


    Die im Jahre 1908 erschienene erste Auflage dieses Buches wurde 
    durch ein Vorwort von Sigmund Freud eingeleitet. Ich stand damals 
    als Schüler den genialen Psychologen unter seinem Einflusse und gestattete 
    ihm eine strenge Kontrolle über das Werk. Freud handelte es sich 
    vornehmlich darum, die »A n g s t n e u r o s e«, als »A k t u a l n e u r o s e«, 
    d. h. als ein durch eine physische Irritation der Sexuallebens entstandenes 
    Leiden, darzustellen. Ich hatte frühzeitig durch Freud das Wesen der 
    Angstneurose kennen gelernt, die er als selbständigen Symptomen­ 
    komplex von der »N e u r a s t h e n i e«, seiner zweiten »A k t u a l n e u r o s e«, 
    abgetrennt hatte. Ich erkannte im Beginne meiner psychotherapeutischen 
    »P r a x i s« noch nicht, daß Freud einfach die Angstkomponente des Zustandes, 
    welchen die Ärzte damals »N e u r a s t h e n i e« benannten, entdeckte und als 
    Krankheit sui generis beschrieben hatte. Bald wurde mir klar, daß diese 
    Angstneurose immer psychogene Wurzeln hatte. Freud schlug mir vor, 
    die psychogenen Angstneurosen »A n g s t h y s t e r i e n« zu benennen und 
    gesondert zu beschreiben.


    Aber schon die im Jahre 1912 erschienene zweite Auflage dieses 
    Werkes betonte, daß die Grenzen zwischen Angstneurose und Angst­ 
    hysterie willkürlich wären. Sie stellte sich ganz auf den Boden der 
    »P s y c h o g e n i e  a l l e r  N e u r o s e n«. Diese tiefgehende Differenz der An­ 
    schauungen über das Wesen der Neurosen mußte zu einer Trennung 
    von Schüler und Meister führen. So schmerzlich diese Trennung für 
    mich war, weil sie manche häßliche Erscheinung im Gefolge hatte, so 
    segensreich war sie für mein Schaffen. Erst in der Distanz von dem 
    gewaltigen Schöpfer der Psychoanalyse konnte ich Falsches von Wahrem 
    trennen, das Sichere erhalten, das Schwankende überdenken, das Neue 
    einfügen, die Übertreibungen vermeiden und alte Fehler korrigieren. 
    Es wurde mir bald klar, daß die Libidotheorie Freuds ein Mißgriff war. 
    Ich konnte den fast mystischen Ausführungen des Lehrers und seiner 
    Schüler über die Schicksale und Wandlungen der Libido nicht mehr

  • S.

    VI.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      **VI** 
    folgen. Ich konnte auch die »m o n o s e x u e l l e  Ä t i o l o g i e« der Neurosen 
    nicht mehr aufrechthalten, da die Erfahrungen des Weltkrieges mich 
    eines Besseren belehrten. Ich zog mich auf meine alte Formel zurück, 
    die ich schon 1907 in »U r s a c h e n  d e r  N e r v o s i t ä t« vertreten hatte: Die 
    Ursache aller Neurosen ist ein psychischer Konflikt! 
    Aber auch die Grenzen zwischen den einzelnen Neurosen, die 
    Freud scharf gezogen hatte, verschwanden bei tieferer Einsicht. Ich sah 
    immer nur Affektstörungen, die sich bald in dem einen, bald in dem 
    anderen Bilde äußerten. Neurasthenie und Hysterie wurden für mich 
    leere Worte. Ich prägte daher das neue Wort: P a r a p a t h i e. 
    In der vorliegenden dritten Auflage sind die neuesten Erfahrungen 
    aufgenommen. Die Krankheitsbilder sind die gleichen. Aber die Art, 
    wie ich sie sehe, ist eine andere. Der erste Teil ist wohl für den Praktiker 
    der wichtigste. Er enthält das Riesengebiet der »O r g a n s p r a c h e  d e r  S e e l e«. 
    Der zweite Teil zeigt uns die Psychogenie der Phobien, wobei die 
    »A n a l y s e  e i n e r  V o g e l p h o b i e« die Wiedergabe einer Analyse aus der 
    jüngsten Zeit darstellt. Auch die Kapitel über »A n g s t  v o r  G e s p e n s t e r n« 
    und »Z o o p h o b i e n« wurden neu eingerneit, dem alten Material wurden 
    einige neue Beobachtungen hinzugefügt; die neue Literatur wurde nach 
    Möglichkeit berücksichtigt.

    Leider habe ich nicht mehr die Erfahrungen der gewöhnlichen 
    »P r a x i s«. Die Tätigkeit eines Spezialisten bringt es mit sich, daß ich 
    nur die schweren und schwersten Fälle sehe. Auch erfordert der Ausbau 
    des gesamten Werkes eine Kraft, die einem Einzelnen kaum zur Ver­ 
    fügung steht. Ich habe mich aber bemüht, das alte Werk auf der Höhe 
    zu erhalten und hoffe, daß es auch in der neuen Gestalt eine so freund­ 
    liche Aufnahme finden wird, wie sie den beiden ersten Auflagen 
    beschieden war.

    Ich möchte diese Ausführungen nicht beschließen, ohne darauf 
    aufmerksam zu machen, daß mich die persönlichen und wissenschaftlichen 
    Differenzen mit Freud nicht ungerecht und undankbar gemacht haben. 
    Es wird das unsterbliche Verdienst von Freud bleiben, uns allen den 
    Weg zu einer neuen Wissenschaft gewiesen zu haben. Erst die Zukunft 
    wird es erweisen, wieviel von seiner gigantischen Arbeit Ewigkeitswert 
    hat. Eines ist sicher: Er hat wie kein zweiter die dornenden Geister 
    der Gegenwart angeregt und ihnen die Pfade in den Urwald der Neu­ 
    rosen gebahnt.

    Wenn ich also gezwungen bin, in diesem Werke eigene Wege zu 
    gehen und mit dem Lehrer zu polemisieren, so geschieht es nicht, um 
    mich als der Klügere und Stärkere zu erweisen. Ich habe schon in 
    einem anderen Werke betont, daß der Zwerg auf den Schultern eines

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    VII 
    Vorwort

    Riesen weiter sieht als der Riese selbst. Nun bin ich unbescheiden 
    genug, mich nicht mit einem Zwerge zu vergleichen. Und ich habe 
    auch aus den Fehlern gelernt und mancher Irrtum erwies sich als 
    heuristisch sehr wertvoll.

    Nun will ich mein Werk sprechen lassen. Ich schließe mit den 
    Worten Freuds, die der ersten Auflage entnommen sind: »Ich darf 
    sagen, daß Stekels Werke auf reicher Erfahrung fußt und daß es dazu 
    bestimmt ist, andere Ärzte anzuregen, unsere Ansichten über die Ätiologie 
    dieser Zustände durch eigene Bemühungen zu bestätigen. Es eröffnet oft 
    unerwartete Einblicke in die Wirklichkeiten des Lebens, die sich hinter 
    den neurotischen Symptomen zu verbergen pflegen, und wird die Kollegen 
    wohl überzeugen, daß es nicht gleichgültig sein kann, welche Stellung 
    sie zu den hier gegebenen Winken und Aufklärungen einnehmen wollen.«

    Wien, im Oktober 1920.

    Der Verfasser