Vorwort 1913-062/1926
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    Vorwort

    von Prof. Sigm. Freud (Wien).

    Der Autor dieser kleinen Monographie, welche die Patho-
    logie und Therapie der psychischen Impotenz des Mannes
    behandelt, gehört zu jener kleinen Schar von Ärzten, welche
    frühzeitig die Bedeutung der Psychoanalyse für ihr Spezial-
    fach erkannt und seitdem nicht aufgehört haben, sich in deren
    Theorie und Technik zu vervollkommnen. Wir wissen ja,
    daß nur ein kleiner Anteil der neurotischen Leiden — welche
    wir jetzt als Folgen von Störung der Sexualfunktion erkannt
    haben — in der Neuropathologie selbst abgehandelt wird. Der
    größere Teil derselben fällt unter die Erkrankungen des be-
    treffenden Organs, welches von der neurotischen Störung
    heimgesucht wird. Es ist nur zweckmäßig und billig, wenn
    auch die Behandlung dieser Symptome oder Syndrome die
    Sache des Spezialarztes wird, welcher allein die Differential-
    diagnose gegen eine organische Affektion stellen, bei Misch-
    formen den Anteil des organischen Elements von dem des
    neurotischen abgrenzen und im allgemeinen Aufschluß über
    die gegenseitige Förderung von beiderlei Krankheitsfaktoren
    geben kann. Sollen aber die „nervösen“ Organkrankheiten
    nicht als ein Anhang zu den materiellen Erkrankungen der
    selben Organe einer Vernachlässigung anheimfallen, welche
    sie bei ihrer Häufigkeit und praktischen Bedeutsamkeit keines-
    wegs verdienen, so muß der Spezialist, sei er Magen-, Herz-
    oder Urogenitalarzt, außer seinen allgemeinen ärztlichen und
    seinen Spezialkenntnissen auch die Gesichtspunkte, Ein-
    sichten und Techniken des Nervenarztes für sein Gebiet ver-
    werten können.

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    IV                                                                                                                                                                                

    Es wird einen großen therapeutischen Fortschritt be-
    deuten, wenn der Spezialarzt den mit einem nervösen Organ-
    leiden Behafteten nicht mehr mit dem Bescheid entlassen
    wird: „Ihnen fehlt nichts; es ist bloß nervös.“ Oder mit der
    nicht viel besseren Fortsetzung: „Gehen Sie zum Nerven-
    arzt, er wird ihnen eine leichte Kaltwasserkur verordnen.“
    Man wird gewiß auch eher vom Organspezialisten verlangen
    dürfen, daß er die nervösen Störungen seines Gebietes ver-
    stehe und behandeln könne, als vom Nervenarzt, daß er
    sich zum Universalspezialisten für alle Organe ausbilde, an
    denen die Neurosen Symptome machen. Demnach ist vorauszu-
    sehen, daß nur die Neurosen mit wesentlich psychischen Sym-
    ptomen die Domäne des Nervenarztes bleiben werden.

    Die Zeit ist dann hoffentlich nicht ferne, in welcher die
    Einsicht allgemein wird, daß man keinerlei nervöse Störung
    verstehen und behandeln kann, wenn man nicht die Gesichts-
    punkte, oft auch die Technik der Psychoanalyse zu Hilfe
    nimmt. Diese Behauptung mag heute wie eine anmaßende
    Übertreibung klingen; ich getraue mich vorherzusagen, daß
    sie dazu bestimmt ist, ein Gemeinplatz zu werden. Es wird
    aber ein bleibendes Verdienst des Autors dieser Schrift sein,
    daß er diese Zeit nicht abgewartet hat, um die Psychoanalyse
    in die Therapie der nervösen Leiden seines Spezialgebietes
    einzulassen.

    Wien, im März 1913.