Vorwort 1913-062/1931
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    Vorwort

    von Prof. Sigm. Freud (Wien).

    Der Autor dieser kleinen Monographie, welche die Patho-
    logie und Therapie der psychischen Impotenz des Mannes
    behandelt, gehört zu jener kleinen Schar von Ärzten, welche
    frühzeitig die Bedeutung der Psychoanalyse für ihr Spezial-
    fach erkannt und seitdem nicht aufgehört haben, sich in deren
    Theorie und Technik zu vervollkommnen. Wir wissen ja,
    daß nur ein kleiner Anteil der neurotischen Leiden — welche
    wir jetzt als Folgen von Störung der Sexualfunktion erkannt
    haben — in der Neuropathologie selbst abgehandelt wird. Der
    größere Teil derselben fällt unter die Erkrankungen des be-
    treffenden Organs, welches von der neurotischen Störung heim-
    gesucht wird. Es ist nur zweckmäßig und billig, wenn auch
    die Behandlung dieser Symptome oder Syndrome die Sache
    des Spezialarztes wird, welcher allein die Differentialdiagnose
    gegen eine organische Affektion stellen, bei Mischformen den
    Anteil des organischen Elements von dem des neurotischen
    abgrenzen und im allgemeinen Aufschluß über die gegen-
    seitige Förderung von beiderlei Krankheitsfaktoren geben kann.
    Sollen aber die „nervösen“ Organkrankheiten nicht als ein
    Anhang zu den materiellen Erkrankungen derselben Organe
    einer Vernachlässigung anheimfallen, welche sie bei ihrer
    Häufigkeit und praktischen Bedeutsamkeit keineswegs ver-
    dienen, so muß der Spezialist, sei er Magen-, Herz- oder
    Urogenitalarzt, außer seinen allgemeinen ärztlichen und seinen
    Spezialkenntnissen auch die Gesichtspunkte, Einsichten und
    Techniken des Nervenarztes für sein Gebiet verwerten können.

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    IV                                                                                                                                                                                      Vorwort. 
     

    Es wird einen großen therapeutischen Fortschritt bedeu-
    ten, wenn der Spezialarzt den mit einem nervösen Organ-
    leiden Behafteten nicht mehr mit dem Bescheid entlassen
    wird: „Ihnen fehlt nichts; es ist bloß nervös.“ Oder mit der
    nicht viel besseren Fortsetzung: „Gehen Sie zum Nerven-
    arzt, er wird Ihnen eine leichte Kaltwasserkur verordnen.“
    Man wird gewiß auch eher vom Organspezialisten verlangen
    dürfen, daß er die nervösen Störungen seines Gebietes ver-
    stehe und behandeln könne, als vom Nervenarzt, daß er sich
    zum Universalspezialisten für alle Organe ausbilde, an denen
    die Neurosen Symptome machen. Demnach ist vorauszusehen,
    daß nur die Neurosen mit wesentlich psychischen Symptomen
    die Domäne des Nervenarztes bleiben werden. 
     

    Die Zeit ist dann hoffentlich nicht ferne, in welcher die
    Einsicht allgemein wird, daß man keinerlei nervöse Störung
    verstehen und behandeln kann, wenn man nicht die Gesichts-
    punkte, oft auch die Technik der Psychoanalyse zu Hilfe
    nimmt. Diese Behauptung mag heute wie eine anmaßende
    Übertreibung klingen; ich getraue mich vorherzusagen, daß
    sie dazu bestimmt ist, ein Gemeinplatz zu werden. Es wird
    aber ein bleibendes Verdienst des Autors dieser Schrift sein,
    daß er diese Zeit nicht abgewartet hat, um die Psychoanalyse
    in die Therapie der nervösen Leiden seines Spezialgebietes
    einzulassen. 
     

    Wien, im März 1913.