Zur Einführung des Narzissmus 1914-003/1931
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    ZUR EINFÜHRUNG DES 
    NARZISSMUS

    (1914)

    I

    Der Terminus Narzißmus entstammt der klinischen 
    Deskription und ist von P. Näcke 1899 zur Bezeichnung 
    jenes Verhaltens gewählt worden, bei welchem ein Individuum 
    den eigenen Leib in ähnlicher Weise behandelt wie sonst den 
    eines Sexualobjekts, ihn also mit sexuellem Wohlgefallen be-
    schaut, streichelt, liebkost, bis es durch diese Vornahmen zur 
    vollen Befriedigung gelangt. In dieser Ausbildung hat der 
    Narzißmus die Bedeutung einer Perversion, welche das ge-
    samte Sexualleben der Person aufgesogen hat, und unterliegt 
    darum auch den Erwartungen, mit denen wir an das Studium 
    aller Perversionen herantreten.

    Es ist dann der psychoanalytischen Beobachtung auf-
    gefallen, daß einzelne Züge des narzißtischen Verhaltens bei 
    vielen mit anderen Störungen behafteten Personen gefunden 
    werden, so nach Sadger bei Homosexuellen, und endlich 
    lag die Vermutung nahe, daß eine als Narzißmus zu be-
    zeichnende Unterbringung der Libido in viel weiterem Um-
    fang in Betracht kommen und eine Stelle in der regulären

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    Sexualentwicklung des Menschen beanspruchen könnte.1 Auf 
    die nämliche Vermutung kam man von den Schwierigkeiten 
    der psychoanalytischen Arbeit an Neurotikern her, denn es 
    schien, als ob ein solches narzißtisches Verhalten derselben 
    eine der Grenzen ihrer Beeinflußbarkeit herstellte. Narzißmus 
    in diesem Sinne wäre keine Perversion, sondern die libidinöse 
    Ergänzung zum Egoismus des Selbsterhaltungstriebes, von 
    dem jedem Lebewesen mit Recht ein Stück zugeschrieben wird.

    Ein dringendes Motiv, sich mit der Vorstellung eines 
    primären und normalen Narzißmus zu beschäftigen, ergab 
    sich, als der Versuch unternommen wurde, das Verständnis 
    der Dementia praecox (K r a e p e l i n) oder Schizophrenie 
    (B l e u l e r) unter die Voraussetzung der Libidotheorie zu 
    bringen. Zwei fundamentale Charakterzüge zeigen solche 
    Kranke, die ich vorgeschlagen habe als Paraphreniker zu 
    bezeichnen: den Größenwahn und die Abwendung ihres 
    Interesses von der Außenwelt (Personen und Dingen). Infolge 
    der letzteren Veränderung entziehen sie sich der Beeinflussung 
    durch die Psychoanalyse, werden sie für unsere Bemühungen 
    unheilbar. Die Abwendung des Paraphrenikers von der 
    Außenwelt bedarf aber einer genaueren Kennzeichnung. 
    Auch der Hysteriker und Zwangsneurotiker hat, soweit seine 
    Krankheit reicht, die Beziehung zur Realität aufgegeben. Die 
    Analyse zeigt aber, daß er die erotische Beziehung zu Per-
    sonen und Dingen keineswegs aufgehoben hat. Er hält sie 
    noch in der Phantasie fest, das heißt er hat einerseits die 
    realen Objekte durch imaginäre seiner Erinnerung ersetzt oder 
    sie mit ihnen vermengt, anderseits darauf verzichtet, die 
    motorischen Aktionen zur Erreichung seiner Ziele an diesen 
    Objekten einzuleiten. Für diesen Zustand der Libido sollte 
    man allein den von Jung ohne Unterscheidung gebrauchten

    1)O. Rank, Ein Beitrag zum Narzißmus. Jahrbuch f. psycho-
    analyt. Forschungen, Bd. III, 1911.

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    Ausdruck: I n t r o v e r s i o n der Libido gelten lassen. 
    Anders der Paraphreniker. Dieser scheint seine Libido von 
    den Personen und Dingen der Außenwelt wirklich zurück-
    gezogen zu haben, ohne diese durch andere in seiner Phan-
    tasie zu ersetzen. Wo dies dann geschieht, scheint es sekundär 
    zu sein und einem Heilungsversuch anzugehören, welcher die 
    Libido zum Objekt zurückführen will.2

    Es entsteht die Frage: Welches ist das Schicksal der den 
    Objekten entzogenen Libido bei der Schizophrenie? Der 
    Größenwahn dieser Zustände weist hier den Weg. Er ist wohl 
    auf Kosten der Objektlibido entstanden. Die der Außenwelt 
    entzogene Libido ist dem Ich zugeführt worden, so daß ein 
    Verhalten entstand, welches wir Narzißmus heißen können. 
    Der Größenwahn selbst ist aber keine Neuschöpfung, son-
    dern, wie wir wissen, die Vergrößerung und Verdeutlichung 
    eines Zustandes, der schon vorher bestanden hatte. Somit 
    werden wir dazu geführt, den Narzißmus, der durch Ein-
    beziehung der Objektbesetzungen entsteht, als einen sekun-
    dären aufzufassen, welcher sich über einen primären, durch 
    mannigfache Einflüsse verdunkelten, aufbaut.

    Ich bemerke nochmals, daß ich hier keine Klärung oder 
    Vertiefung des Schizophrenieproblems geben will, sondern nur 
    zusammentrage, was bereits an anderen Stellen gesagt worden 
    ist, um eine Einführung des Narzißmus zu rechtfertigen.

    Ein dritter Zufluß zu dieser, wie ich meine, legitimen 
    Weiterbildung der Libidotheorie ergibt sich aus unseren Be-
    obachtungen und Auffassungen des Seelenlebens von Kindern 
    und von primitiven Völkern. Wir finden bei diesen letzteren 
    Züge, welche, wenn sie vereinzelt wären, dem Größenwahn

    2)Vgl. für diese Aufstellungen die Diskussion des „Weltunter-
    ganges“ in der Analyse des Senatspräsidenten Schreber. 
    (Ges. Schriften, Bd. VIII), 1911. Ferner: Abraham, Die 
    psychosexuellen Differenzen der Hysterie und der Dementia 
    praecox. 1908. (Klinische Beiträge zur Psychoanalyse. S. 23 ff.)

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    zugerechnet werden könnten, eine Überschätzung der Macht 
    ihrer Wünsche und psychischen Akte, die „Allmacht der Ge-
    danken“, einen Glauben an die Zauberkraft der Worte, eine 
    Technik gegen die Außenwelt, die „Magie“, welche als kon-
    sequente Anwendung dieser größensüchtigen Voraussetzungen 
    erscheint.3 Wir erwarten eine ganz analoge Einstellung zur 
    Außenwelt beim Kinde unserer Zeit, dessen Entwicklung für 
    uns weit undurchsichtiger ist.4 Wir bilden so die Vorstellung 
    einer ursprünglichen Libidobesetzung des Ichs, von der später 
    an die Objekte abgegeben wird, die aber, im Grunde genom-
    men, verbleibt und sich zu den Objektbesetzungen verhält wie 
    der Körper eines Protoplasmatierchens zu den von ihm aus-
    geschickten Pseudopodien. Dieses Stück der Libidounterbrin-
    gung mußte für unsere von den neurotischen Symptomen aus-
    gehende Forschung zunächst verdeckt bleiben. Die Ema-
    nationen dieser Libido, die Objektbesetzungen, die ausgeschickt 
    und wieder zurückgezogen werden können, wurden uns allein 
    auffällig. Wir sehen auch im groben einen Gegensatz zwischen 
    der Ichlibido und der Objektlibido. Je mehr die eine ver-
    braucht, desto mehr verarmt die andere. Als die höchste Ent-
    wicklungsphase, zu der es die letztere bringt, erscheint uns 
    der Zustand der Verliebtheit, der sich uns wie ein Aufgeben 
    der eigenen Persönlichkeit gegen die Objektbesetzung dar-
    stellt und seinen Gegensatz in der Phantasie (oder Selbst-
    wahrnehmung) der Paranoiker vom Weltuntergang findet.5 
    Endlich folgern wir für die Unterscheidung der psychischen 
    Energien, daß sie zunächst im Zustande des Narzißmus beisammen

    3)Siehe die entsprechenden Abschnitte in meinem Buch „Totem
     und Tabu“, 1913.

    4)S. Ferenczi, Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. 
    Intern. Zschr. f. PsA. I, 1913.

    5)Es gibt zwei Mechanismen dieses Weltunterganges, wenn alle 
    Libidobesetzung auf das geliebte Objekt abströmt, und wenn alle 
    in das Ich zurückfließt. 

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    und für unsere grobe Analyse ununterscheidbar sind, 
    und daß es erst mit der Objektbesetzung möglich wird, eine 
    Sexualenergie, die Libido, von einer Energie der Ichtriebe zu 
    unterscheiden.

    Ehe ich weiter gehe, muß ich zwei Fragen berühren, welche 
    mitten in die Schwierigkeiten des Themas leiten. Erstens: Wie 
    verhält sich der Narzißmus, von dem wir jetzt handeln, zum 
    Autoerotismus, den wir als einen Frühzustand der Libido 
    beschrieben haben? Zweitens: Wenn wir dem Ich eine primäre 
    Besetzung mit Libido zuerkennen, wozu ist es überhaupt noch 
    nötig, eine sexuelle Libido von einer nicht sexuellen Energie 
    der Ichtriebe zu trennen? Würde die Zugrundelegung einer 
    einheitlichen psychischen Energie nicht alle Schwierigkeiten 
    der Sonderung von Ichtriebenergie und Ichlibido, Ichlibido 
    und Objektlibido ersparen? Zur ersten Frage bemerke ich: 
    Es ist eine notwendige Annahme, daß eine dem Ich ver-
    gleichbare Einheit nicht von Anfang an im Individuum vor-
    handen ist; das Ich muß entwickelt werden. Die autoerotischen 
    Triebe sind aber uranfänglich; es muß also irgend etwas zum 
    Autoerotismus hinzukommen, eine neue psychische Aktion, 
    um den Narzißmus zu gestalten.

    Die Aufforderung, die zweite Frage in entschiedener Weise 
    zu beantworten, muß bei jedem Psychoanalytiker ein merk-
    liches Unbehagen erwecken. Man wehrt sich gegen das Gefühl, 
    die Beobachtung für sterile theoretische Streitigkeiten zu ver-
    lassen, darf sich dem Versuch einer Klärung aber doch nicht 
    entziehen. Gewiß sind Vorstellungen, wie die einer Ichlibido, 
    Ichtriebenergie und so weiter, weder besonders klar faßbar noch 
    inhaltsreich genug; eine spekulative Theorie der betreffenden 
    Beziehungen würde vor allem einen scharf umschriebenen 
    Begriff zur Grundlage gewinnen wollen. Allein ich meine, 
    das ist eben der Unterschied zwischen einer spekulativen 
    Theorie und einer auf Deutung der Empirie gebauten Wissenschaft.

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    Die letztere wird der Spekulation das Vorrecht einer 
    glatten, logisch unantastbaren Fundamentierung nicht neiden, 
    sondern sich mit nebelhaft verschwindenden, kaum vorstell-
    baren Grundgedanken gerne begnügen, die sie im Laufe ihrer 
    Entwicklung klarer zu erfassen hofft, eventuell auch gegen 
    andere einzutauschen bereit ist. Diese Ideen sind nämlich 
    nicht das Fundament der Wissenschaft, auf dem alles ruht; 
    dies ist vielmehr allein die Beobachtung. Sie sind nicht das 
    Unterste, sondern das Oberste des ganzen Baues und können 
    ohne Schaden ersetzt und abgetragen werden. Wir erleben 
    dergleichen in unseren Tagen wiederum an der Physik, deren 
    Grundanschauungen über Materie, Kraftzentren, Anziehung 
    und dergleichen kaum weniger bedenklich sind als die ent-
    sprechenden der Psychoanalyse.

    Der Wert der Begriffe: Ichlibido, Objektlibido liegt darin, 
    daß sie aus der Verarbeitung der intimen Charaktere 
    neurotischer und psychotischer Vorgänge stammen. Die Son-
    derung der Libido in eine solche, die dem Ich eigen ist, und 
    eine, die den Objekten angehängt wird, ist eine unerläßliche 
    Fortführung einer ersten Annahme, welche Sexualtriebe und 
    Ichtriebe voneinander schied. Dazu nötigte mich wenigstens 
    die Analyse der reinen Übertragungsneurosen (Hysterie und 
    Zwang), und ich weiß nur, daß alle Versuche, von diesen 
    Phänomenen mit anderen Mitteln Rechenschaft zu geben, 
    gründlich mißlungen sind.

    Bei dem völligen Mangel einer irgendwie orientierenden 
    Trieblehre ist es gestattet oder besser geboten, zunächst irgend 
    eine Annahme in konsequenter Durchführung zu erproben, 
    bis sie versagt oder sich bewährt. Für die Annahme einer 
    ursprünglichen Sonderung von Sexualtrieben und anderen, 
    Ichtrieben, spricht nun mancherlei nebst ihrer Brauchbarkeit 
    für die Analyse der Übertragungsneurosen. Ich gebe zu, daß 
    dieses Moment allein nicht unzweideutig wäre, denn es könnte

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    sich um indifferente psychische Energie handeln, die erst durch 
    den Akt der Objektbesetzung zur Libido wird. Aber diese 
    begriffliche Scheidung entspricht erstens der populär so ge-
    läufigen Trennung von Hunger und Liebe. Zweitens machen 
    sich biologische Rücksichten zu ihren Gunsten geltend. 
    Das Individuum führt wirklich eine Doppelexistenz als sein 
    Selbstzweck und als Glied in einer Kette, der es gegen, jeden-
    falls ohne seinen Willen dienstbar ist. Es hält selbst die 
    Sexualität für eine seiner Absichten, während eine andere Be-
    trachtung zeigt, daß es nur ein Anhängsel an sein Keimplasma 
    ist, dem es seine Kräfte gegen eine Lustprämie zur Verfügung 
    stellt, der sterbliche Träger einer – vielleicht – unsterblichen 
    Substanz, wie ein Majoratsherr nur der jeweilige Inhaber 
    einer ihn überdauernden Institution. Die Sonderung der 
    Sexualtriebe von den Ichtrieben würde nur diese doppelte 
    Funktion des Individuums spiegeln. Drittens muß man sich 
    daran erinnern, daß all unsere psychologischen Vorläufigkeiten 
    einmal auf den Boden organischer Träger gestellt werden 
    sollen. Es wird dann wahrscheinlich, daß es besondere Stoffe 
    und chemische Prozesse sind, welche die Wirkungen der 
    Sexualität ausüben und die Fortsetzung des individuellen 
    Lebens in das der Art vermitteln. Dieser Wahrscheinlichkeit 
    tragen wir Rechnung, indem wir die besonderen chemischen 
    Stoffe durch besondere psychische Kräfte substituieren.

    Gerade weil ich sonst bemüht bin, alles andersartige, auch 
    das biologische Denken, von der Psychologie ferne zu halten, 
    will ich an dieser Stelle ausdrücklich zugestehen, daß die An-
    nahme gesonderter Ich‑ und Sexualtriebe, also die Libido-
    theorie, zum wenigsten auf psychologischem Grunde ruht, 
    wesentlich biologisch gestützt ist. Ich werde also auch kon-
    sequent genug sein, diese Annahme fallen zu lassen, wenn sich 
    aus der psychoanalytischen Arbeit selbst eine andere Voraus-
    setzung über die Triebe als die besser verwertbare erheben

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    würde. Dies ist bisher nicht der Fall gewesen. Es mag dann 
    sein, daß die Sexualenergie, die Libido – im tiefsten Grund 
    und in letzter Ferne – nur ein Differenzierungsprodukt der 
    sonst in der Psyche wirkenden Energie ist. Aber eine solche 
    Behauptung ist nicht belangreich. Sie bezieht sich auf Dinge, 
    die bereits so weit weg sind von den Problemen unserer Be-
    obachtung und so wenig Kenntnisinhalt haben, daß es ebenso 
    müßig ist, sie zu bestreiten, wie sie zu verwerten; möglicher-
    weise hat diese Uridentität mit unseren analytischen Inter-
    essen so wenig zu tun, wie die Urverwandtschaft aller Men-
    schenrassen mit dem Nachweis der von der Erbschaftsbehörde 
    geforderten Verwandtschaft mit dem Erblasser. Wir kommen 
    mit all diesen Spekulationen zu nichts; da wir nicht warten 
    können, bis uns die Entscheidungen der Trieblehre von einer 
    anderen Wissenschaft geschenkt werden, ist es weit zweck-
    mäßiger, zu versuchen, welches Licht durch eine Synthese 
    der psychologischen Phänomene auf jene biologischen Grund-
    rätsel geworfen werden kann. Machen wir uns mit der Mög-
    lichkeit des Irrtums vertraut, aber lassen wir uns nicht ab-
    halten, die ersterwählte Annahme eines Gegensatzes von Ich‑ 
    und Sexualtrieben, die sich uns durch die Analyse der Über-
    tragungsneurosen aufgedrängt hat, konsequent fortzuführen, 
    ob sie sich widerspruchsfrei und fruchtbringend entwickeln 
    und auch auf andere Affektionen, z. B. die Schizophrenie, 
    anwenden läßt.

    Anders stünde es natürlich, wenn der Beweis erbracht wäre, 
    daß die Libidotheorie an der Erklärung der letztgenannten 
    Krankheit bereits gescheitert ist. C. G. Jung hat diese Be-
    hauptung aufgestellt6 und mich dadurch zu den letzten Aus-
    führungen, die ich mir gern erspart hätte, genötigt. Ich hätte 
    es vorgezogen, den in der Analyse des Falles Schreber betretenen

    6)Wandlungen und Symbole der Libido. Jahrbuch für psa. For-
    schungen, Bd. IV, 1912.

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    Weg unter Stillschweigen über dessen Voraussetzun-
    gen bis zum Ende zu gehen. Die Behauptung von Jung ist 
    aber zum mindesten eine Voreiligkeit. Seine Begründungen 
    sind spärlich. Er beruft sich zunächst auf mein eigenes Zeugnis, 
    daß ich selbst mich genötigt gesehen habe, angesichts der 
    Schwierigkeiten der Schreber‑Analyse den Begriff der Libido 
    zu erweitern, das heißt seinen sexuellen Inhalt aufzugeben, 
    Libido mit psychischem Interesse überhaupt zusammenfallen 
    zu lassen. Was zur Richtigstellung dieser Fehldeutung zu 
    sagen ist, hat Ferenczi in einer gründlichen Kritik der 
    Jungschen Arbeit bereits vorgebracht.7 Ich kann dem 
    Kritiker nur beipflichten und widerholen, daß ich keinen 
    derartigen Verzicht auf die Libidotheorie ausgesprochen habe. 
    Ein weiteres Argument von Jung, es sei nicht anzunehmen, 
    daß der Verlust der normalen Realfunktion allein durch die 
    Zurückziehung der Libido verursacht werden könne, ist kein 
    Argument, sondern ein Dekret; it begs the question, es nimmt 
    die Entscheidung vorweg und erspart die Diskussion, denn ob 
    und wie das möglich ist, sollte eben untersucht werden. In 
    seiner nächsten großen Arbeit8 ist Jung an der von mir 
    längst angedeuteten Lösung knapp vorbeigekommen: „Dabei 
    ist nun allerdings noch in Betracht zu ziehen – worauf 
    übrigens Freud in seiner Arbeit in dem Schreberschen Falle 
    Bezug nimmt – daß die Introversion der Libido sexualis 
    zu einer Besetzung des „Ich“ führt, wodurch möglicherweise 
    jener Effekt des Realitätsverlustes herausgebracht wird. Es ist 
    in der Tat eine verlockende Möglichkeit, die Psychologie des 
    Realitätsverlustes in dieser Art zu erklären.“ Allein Jung 
    läßt sich mit dieser Möglichkeit nicht viel weiter ein. Wenige 
    Seiten später tut er sie mit der Bemerkung ab, daß aus dieser

    7)Intern. Zschr. f. PsA., Bd. I, 1913.

    8)Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie. 
    Jahrbuch, Bd. V, 1913.

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    Bedingung „die Psychologie eines asketischen Anachoreten 
    hervorgehen würde, nicht aber eine Dementia praecox.“ Wie 
    wenig dieser ungeeignete Vergleich eine Entscheidung bringen 
    kann, mag die Bemerkung lehren, daß ein solcher Anachoret, 
    der „jede Spur von Sexualinteresse auszurotten bestrebt ist“ 
    (doch nur im populären Sinne des Wortes „sexual“), nicht 
    einmal eine pathogene Unterbringung der Libido aufzuweisen 
    braucht. Er mag sein sexuelles Interesse von den Menschen 
    gänzlich abgewendet und kann es doch zum gesteigerten 
    Interesse für Göttliches, Natürliches, Tierisches sublimiert 
    haben, ohne einer Introversion seiner Libido auf seine Phan-
    tasien oder einer Rückkehr derselben zu seinem Ich verfallen 
    zu sein. Es scheint, daß dieser Vergleich die mögliche Unter-
    scheidung vom Interesse aus erotischen Quellen und anderen 
    von vornherein vernachlässigt. Erinnern wir uns ferner daran, 
    daß die Untersuchungen der Schweizer Schule trotz all ihrer 
    Verdienstlichkeit doch nur über zwei Punkte im Bilde der 
    Dementia praecox Aufklärung gebracht haben, über die 
    Existenz der von Gesunden wie von Neurotikern bekannten 
    Komplexe und über die Ähnlichkeit ihrer Phantasiebildungen 
    mit den Völkermythen, auf den Mechanismus der Erkrankung 
    aber sonst kein Licht werfen konnten, so werden wir die 
    Behauptung Jungs zurückweisen können, daß die Libido-
    theorie an der Bewältigung der Dementia praecox gescheitert 
    und damit auch für die anderen Neurosen erledigt sei.

    II

    Ein direktes Studium des Narzißmus scheint mir durch 
    besondere Schwierigkeiten verwehrt zu sein. Der Haupt-
    zugang dazu wird wohl die Analyse der Paraphrenien bleiben. 
    Wie die Übertragungsneurosen uns die Verfolgung der libidi-
    nösen Triebregungen ermöglicht haben, so werden uns die

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    Dementia praecox und Paranoia die Einsicht in die Ich-
    psychologie gestatten. Wiederum werden wir das anscheinend 
    Einfache des Normalen aus den Verzerrungen und Ver-
    gröberungen des Pathologischen erraten müssen. Immerhin 
    bleiben uns einige andere Wege offen, um uns der Kenntnis 
    des Narzißmus anzunähern, die ich nun der Reihe nach 
    beschreiben will: Die Betrachtung der organischen Krankheit, 
    der Hypochondrie und des Liebeslebens der Geschlechter.

    Mit der Würdigung des Einflusses organischer Krankheit 
    auf die Libidoverteilung folge ich einer mündlichen Anregung 
    von S. Ferenczi. Es ist allgemein bekannt und erscheint 
    uns selbstverständlich, daß der von organischem Schmerz und 
    Mißempfindungen Gepeinigte das Interesse an den Dingen der 
    Außenwelt, soweit sie nicht sein Leiden betreffen, aufgibt. 
    Genauere Beobachtung lehrt, daß er auch das libidinöse Inter-
    esse von seinen Liebesobjekten zurückzieht, aufhört zu lieben, 
    solange er leidet. Die Banalität dieser Tatsache braucht uns 
    nicht abzuhalten, ihr eine Übersetzung in die Ausdrucksweise 
    der Libidotheorie zu geben. Wir würden dann sagen: Der 
    Kranke zieht seine Libidobesetzungen auf sein Ich zurück, 
    um sie nach der Genesung wieder auszusenden. „Einzig in der 
    engen Höhle,“ sagt W. Busch vom zahnschmerzkranken 
    Dichter, „des Backenzahnes weilt die Seele.“ Libido und Ich-
    interesse haben dabei das gleiche Schicksal und sind wiederum 
    voneinander nicht unterscheidbar. Der bekannte Egoismus 
    der Kranken deckt beides. Wir finden ihn so selbstverständlich, 
    weil wir gewiß sind, uns im gleichen Falle ebenso zu ver-
    halten. Das Verscheuchen noch so intensiver Liebesbereitschaft 
    durch körperliche Störungen, der plötzliche Ersatz derselben 
    durch völlige Gleichgültigkeit, findet in der Komik ent-
    sprechende Ausnützung.

    Ähnlich wie die Krankheit bedeutet auch der Schlafzustand 
    ein narzißtisches Zurückziehen der Libidopositionen auf die

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    eigene Person, des Genaueren, auf den einen Wunsch zu 
    schlafen. Der Egoismus der Träume fügt sich wohl in diesen 
    Zusammenhang ein. In beiden Fällen sehen wir, wenn auch 
    nichts anderes, Beispiele von Veränderungen der Libidover-
    teilung infolge von Ichveränderung.

    Die Hypochondrie äußert sich wie das organische Krank-
    sein in peinlichen und schmerzhaften Körperempfindungen 
    und trifft auch in der Wirkung auf die Libidoverteilung mit 
    ihm zusammen. Der Hypochondrische zieht Interesse wie 
    Libido – die letztere besonders deutlich – von den Objekten 
    der Außenwelt zurück und konzentriert beides auf das ihn 
    beschäftigende Organ. Ein Unterschied zwischen Hypochon-
    drie und organischer Krankheit drängt sich nun vor: im 
    letzteren Falle sind die peinlichen Sensationen durch nach-
    weisbare Veränderungen begründet, im ersteren Falle nicht. 
    Es würde aber ganz in den Rahmen unserer sonstigen Auf-
    fassung der Neurosenvorgänge passen, wenn wir uns ent-
    schließen würden zu sagen: Die Hypochondrie muß recht 
    haben, die Organveränderungen dürfen auch bei ihr nicht 
    fehlen. Worin bestünden sie nun?

    Wir wollen uns hier durch die Erfahrung bestimmen 
    lassen, daß Körpersensationen unlustiger Art, den hypochon-
    drischen vergleichbar, auch bei den anderen Neurosen nicht 
    fehlen. Ich habe schon früher einmal die Neigung aus-
    gesprochen, die Hypochondrie als dritte Aktualneurose neben 
    die Neurasthenie und die Angstneurose hinzustellen. Man 
    geht wahrscheinlich nicht zu weit, wenn man es so darstellt, 
    als wäre regelmäßig bei den anderen Neurosen auch ein 
    Stückchen Hypochondrie mitausgebildet. Am schönsten sieht 
    man dies wohl bei der Angstneurose und der sie überbauenden 
    Hysterie. Nun ist das uns bekannte Vorbild des schmerzhaft 
    empfindlichen, irgendwie veränderten und doch nicht im 
    gewöhnlichen Sinne kranken Organs das Genitale in seinen

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    Erregungszuständen. Es wird dann blutdurchströmt, ge-
    schwellt, durchfeuchtet und der Sitz mannigfaltiger Sen-
    sationen. Nennen wir die Tätigkeit einer Körperstelle, sexuell 
    erregende Reize ins Seelenleben zu schicken, ihre Erogeneität 
    und denken daran, daß wir durch die Erwägungen 
    der Sexualtheorie längst an die Auffassung gewöhnt sind, 
    gewisse andere Körperstellen – die erogenen Zonen – 
    könnten die Genitalien vertreten und sich ihnen analog ver-
    halten, so haben wir hier nur einen Schritt weiter zu wagen. 
    Wir können uns entschließen, die Erogeneität als allgemeine 
    Eigenschaft aller Organe anzusehen, und dürfen dann von 
    der Steigerung oder Herabsetzung derselben an einem be-
    stimmten Körperteile sprechen. Jeder solchen Veränderung 
    der Erogeneität in den Organen könnte eine Verände-
    rung der Libidobesetzung im Ich parallel gehen. In solchen 
    Momenten hätten wir das zu suchen, was wir der Hypochon-
    drie zugrunde legen und was die nämliche Einwirkung auf 
    die Libidoverteilung haben kann wie die materielle Er-
    krankung der Organe.

    Wir merken, wenn wir diesen Gedankengang fortsetzen, 
    stoßen wir auf das Problem nicht nur der Hypochondrie, 
    sondern auch der anderen Aktualneurosen, der Neurasthenie 
    und der Angstneurose. Wir wollen darum an dieser Stelle 
    halt machen; es liegt nicht in der Absicht einer rein psycho-
    logischen Untersuchung, die Grenze so weit ins Gebiet der 
    physiologischen Forschung zu überschreiten. Es sei nur er-
    wähnt, daß sich von hier aus vermuten läßt, die Hypochon-
    drie stehe in einem ähnlichen Verhältnis zur Paraphrenie 
    wie die anderen Aktualneurosen zur Hysterie und Zwangs-
    neurose, hänge also von der Ichlibido ab, wie die anderen 
    von der Objektlibido; die hypochondrische Angst sei das Gegen-
    stück von der Ichlibido her zur neurotischen Angst. Ferner: 
    Wenn wir mit der Vorstellung bereits vertraut sind, den

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    Mechanismus der Erkrankung und Symptombildung bei den 
    Übertragungsneurosen, den Fortschritt von der Introversion 
    zur Regression, an eine Stauung der Objektlibido zu 
    knüpfen9, so dürfen wir auch der Vorstellung einer Stauung 
    der Ichlibido nähertreten und sie in Beziehung zu den 
    Phänomenen der Hypochondrie und der Paraphrenie bringen.

    Natürlich wird unsere Wißbegierde hier die Frage auf-
    werfen, warum eine solche Libidostauung im Ich als unlust-
    voll empfunden werden muß. Ich möchte mich da mit der 
    Antwort begnügen, daß Unlust überhaupt der Ausdruck der 
    höheren Spannung ist, daß es also eine Quantität des 
    materiellen Geschehens ist, die sich hier wie anderwärts in 
    die psychische Qualität der Unlust umsetzt; für die Unlust-
    entwicklung mag dann immerhin nicht die absolute Größe 
    jenes materiellen Vorganges entscheidend sein, sondern eher 
    eine gewisse Funktion dieser absoluten Größe. Von hier aus 
    mag man es selbst wagen, an die Frage heranzutreten, woher 
    denn überhaupt die Nötigung für das Seelenleben rührt, über 
    die Grenzen des Narzißmus hinauszugehen und die Libido 
    auf Objekte zu setzen. Die aus unserem Gedankengang ab-
    folgende Antwort würde wiederum sagen, diese Nötigung 
    trete ein, wenn die Ichbesetzung mit Libido ein gewisses 
    Maß überschritten habe. Ein starker Egoismus schützt vor 
    Erkrankung, aber endlich muß man beginnen zu lieben, um 
    nicht krank zu werden, und muß erkranken, wenn man 
    infolge von Versagung nicht lieben kann. Etwa nach dem 
    Vorbild, wie sich H. Heine die Psychogenese der Welt-
    schöpfung vorstellt:

    „Krankheit ist wohl der letzte Grund 
    Des ganzen Schöpferdrangs gewesen; 
    Erschaffend konnte ich genesen, 
    Erschaffend wurde ich gesund.“

    9)Vgl. „Über neurotische Erkrankungstypen“, 1913. (Ges. Schrif-
    ten, Bd. V, S. 400 ff.)

  • S.

    39

    Wir haben in unserem seelischen Apparat vor allem ein 
    Mittel erkannt, welchem die Bewältigung von Erregungen 
    übertragen ist, die sonst peinlich empfunden oder pathogen 
    wirksam würden. Die psychische Bearbeitung leistet Außer-
    ordentliches für die innere Ableitung von Erregungen, die 
    einer unmittelbaren äußeren Abfuhr nicht fähig sind, oder 
    für die eine solche nicht augenblicklich wünschenswert wäre. 
    Für eine solche innere Verarbeitung ist es aber zunächst 
    gleichgültig, ob sie an realen oder an imaginierten Objekten 
    geschieht. Der Unterschied zeigt sich erst später, wenn die 
    Wendung der Libido auf die irrealen Objekte (Introversion) 
    zu einer Libidostauung geführt hat. Eine ähnliche innere 
    Verarbeitung der ins Ich zurückgekehrten Libido gestattet bei 
    den Paraphrenien der Größenwahn; vielleicht wird erst nach 
    seinem Versagen die Libidostauung im Ich pathogen und regt 
    den Heilungsprozeß an, der uns als Krankheit imponiert.

    Ich versuche an dieser Stelle, einige kleine Schritte weit in 
    den Mechanismus der Paraphrenie einzudringen, und stelle die 
    Auffassungen zusammen, welche mir schon heute beachtens-
    wert erscheinen. Den Unterschied dieser Affektionen von den 
    Übertragungsneurosen verlege ich in den Umstand, daß die 
    durch Versagung frei gewordene Libido nicht bei Objekten 
    in der Phantasie bleibt, sondern sich aufs Ich zurückzieht; 
    der Größenwahn entspricht dann der psychischen Bewältigung 
    dieser Libidomenge, also der Introversion auf die Phantasie-
    bildungen bei den Übertragungsneurosen; dem Versagen dieser 
    psychischen Leistung entspringt die Hypochondrie der Para-
    phrenie, welche der Angst der Übertragungsneurosen homolog 
    ist. Wir wissen, daß diese Angst durch weitere psychische 
    Bearbeitung ablösbar ist, also durch Konversion, Reaktions-
    bildung, Schutzbildung (Phobie). Diese Stellung nimmt bei 
    den Paraphrenien der Restitutionsversuch ein, dem wir die 
    auffälligen Krankheitserscheinungen danken. Da die Paraphrenie

  • S.

    40

    häufig – wenn nicht zumeist – eine bloß partielle 
    Ablösung der Libido von den Objekten mit sich bringt, so 
    ließen sich in ihrem Bilde drei Gruppen von Erscheinungen 
    sondern: 1) Die der erhaltenen Normalität oder Neurose 
    (Resterscheinungen), 2) die des Krankheitsprozesses (der Ab-
    lösung der Libido von den Objekten, dazu der Größenwahn, 
    die Hypochondrie, die Affektstörung, alle Regressionen), 
    3) die der Restitution, welche nach Art einer Hysterie 
    (Dementia praecox, eigentliche Paraphrenie) oder einer 
    Zwangsneurose (Paranoia) die Libido wieder an die Objekte 
    heftet. Diese neuerliche Libidobesetzung geschieht von einem 
    anderen Niveau her, unter anderen Bedingungen als die 
    primäre. Die Differenz der bei ihr geschaffenen Übertragungs-
    neurosen von den entsprechenden Bildungen des normalen 
    Ichs müßte die tiefste Einsicht in die Struktur unseres 
    seelischen Apparates vermitteln können.

    Einen dritten Zugang zum Studium des Narzißmus ge-
    stattet das Liebesleben der Menschen in seiner verschieden-
    artigen Differenzierung bei Mann und Weib. Ähnlich, wie 
    die Objektlibido unserer Beobachtung zuerst die Ichlibido 
    verdeckt hat, so haben wir auch bei der Objektwahl des 
    Kindes (und Heranwachsenden) zuerst gemerkt, daß es seine 
    Sexualobjekte seinen Befriedigungserlebnissen entnimmt. Die 
    ersten autoerotischen sexuellen Befriedigungen werden im 
    Anschluß an lebenswichtige, der Selbsterhaltung dienende 
    Funktionen erlebt. Die Sexualtriebe lehnen sich zunächst an 
    die Befriedigung der Ichtriebe an, machen sich erst später 
    von den letzteren selbständig; die Anlehnung zeigt sich aber 
    noch darin, daß die Personen, welche mit der Ernährung, 
    Pflege, dem Schutz des Kindes zu tun haben, zu den ersten 
    Sexualobjekten werden, also zunächst die Mutter oder ihr

  • S.

    41

    Ersatz. Neben diesem Typus und dieser Quelle der Objekt-
    wahl, den man den Anlehnungstypus heißen kann, hat 
    uns aber die analytische Forschung einen zweiten kennen 
    gelehrt, den zu finden wir nicht vorbereitet waren. Wir haben, 
    besonders deutlich bei Personen, deren Libidoentwicklung 
    eine Störung erfahren hat, wie bei Perversen und Homo-
    sexuellen, gefunden, daß sie ihr späteres Liebesobjekt nicht 
    nach dem Vorbild der Mutter wählen, sondern nach dem 
    ihrer eigenen Person. Sie suchen offenkundigerweise sich selbst 
    als Liebesobjekt, zeigen den narzißtisch zu nennenden 
    Typus der Objektwahl. In dieser Beobachtung ist das stärkste 
    Motiv zu erkennen, welches uns zur Annahme des Narzißmus 
    genötigt hat.

    Wir haben nun nicht geschlossen, daß die Menschen in 
    zwei scharf geschiedene Gruppen zerfallen, je nachdem sie den 
    Anlehnungs oder den narzißtischen Typus der Objektwahl 
    haben, sondern ziehen die Annahme vor, daß jedem Menschen 
    beide Wege zur Objektwahl offen stehen, wobei der eine oder 
    der andere bevorzugt werden kann. Wir sagen, der Mensch 
    habe zwei ursprüngliche Sexualobjekte: sich selbst und das 
    pflegende Weib, und setzen dabei den primären Narzißmus 
    jedes Menschen voraus, der eventuell in seiner Objektwahl 
    dominierend zum Ausdruck kommen kann.

    Die Vergleichung von Mann und Weib zeigt dann, daß 
    sich in deren Verhältnis zum Typus der Objektwahl funda-
    mentale, wenn auch natürlich nicht regelmäßige, Unterschiede 
    ergeben. Die volle Objektliebe nach dem Anlehnungstypus ist 
    eigentlich für den Mann charakteristisch. Sie zeigt die auf-
    fällige Sexualüberschätzung, welche wohl dem ursprünglichen 
    Narzißmus des Kindes entstammt und somit einer Übertragung 
    desselben auf das Sexualobjekt entspricht. Diese Sexualüber-
    schätzung gestattet die Entstehung des eigentümlichen, an 
    neurotischen Zwang mahnenden Zustandes der Verliebtheit,

  • S.

    42

    der sich so auf eine Verarmung des Ichs an Libido zugunsten 
    des Objektes zurückführt. Anders gestaltet sich die Entwick-
    lung bei dem häufigsten, wahrscheinlich reinsten und echte-
    sten Typus des Weibes. Hier scheint mit der Pubertätsent-
    wicklung durch die Ausbildung der bis dahin latenten weib-
    lichen Sexualorgane eine Steigerung des ursprünglichen Nar-
    zißmus aufzutreten, welche der Gestaltung einer ordentlichen, 
    mit Sexualüberschätzung ausgestatteten Objektliebe ungünstig 
    ist. Es stellt sich besonders im Falle der Entwicklung zur 
    Schönheit eine Selbstgenügsamkeit des Weibes her, welche das 
    Weib für die ihm sozial verkümmerte Freiheit der Objekt-
    wahl entschädigt. Solche Frauen lieben, streng genommen, nur 
    sich selbst mit ähnlicher Intensität, wie der Mann sie liebt. 
    Ihr Bedürfnis geht auch nicht dahin zu lieben, sondern ge-
    liebt zu werden, und sie lassen sich den Mann gefallen, 
    welcher diese Bedingung erfüllt. Die Bedeutung dieses 
    Frauentypus für das Liebesleben der Menschen ist sehr hoch 
    einzuschätzen. Solche Frauen üben den größten Reiz auf die 
    Männer aus, nicht nur aus ästhetischen Gründen, weil sie ge-
    wöhnlich die schönsten sind, sondern auch infolge inter-
    essanter psychologischer Konstellationen. Es erscheint nämlich 
    deutlich erkennbar, daß der Narzißmus einer Person eine 
    große Anziehung auf diejenigen anderen entfaltet, welche 
    sich des vollen Ausmaßes ihres eigenen Narzißmus begeben 
    haben und sich in der Werbung um die Objektliebe befinden; 
    der Reiz des Kindes beruht zum guten Teil auf dessen 
    Narzißmus, seiner Selbstgenügsamkeit und Unzugänglichkeit, 
    ebenso der Reiz gewisser Tiere, die sich um uns nicht zu 
    kümmern scheinen, wie der Katzen und großen Raubtiere, 
    ja selbst der große Verbrecher und der Humorist zwingen in 
    der poetischen Darstellung unser Interesse durch die narziß-
    tische Konsequenz, mit welcher sie alles ihr Ich Verkleinernde 
    von ihm fernzuhalten wissen. Es ist so, als beneideten wir sie

  • S.

    43

    um die Erhaltung eines seligen psychischen Zustandes, einer 
    unangreifbaren Libidoposition, die wir selbst seither aufge-
    geben haben. Dem großen Reiz des narzißtischen Weibes fehlt 
    aber die Kehrseite nicht; ein guter Teil der Unbefriedigung 
    des verliebten Mannes, der Zweifel an der Liebe des Weibes, 
    der Klagen über die Rätsel im Wesen desselben hat in dieser 
    Inkongruenz der Objektwahltypen seine Wurzel.

    Vielleicht ist es nicht überflüssig, zu versichern, daß mir bei 
    dieser Schilderung des weiblichen Liebeslebens jede Tendenz 
    zur Herabsetzung des Weibes fernliegt. Abgesehen davon, daß 
    mir Tendenzen überhaupt fernliegen, ich weiß auch, daß diese 
    Ausbildungen nach verschiedenen Richtungen der Differenzie-
    rung von Funktionen in einem höchst komplizierten biologi-
    schen Zusammenhang entsprechen; ich bin ferner bereit zuzu-
    gestehen, daß es unbestimmt viele Frauen gibt, die nach dem 
    männlichen Typus lieben und auch die dazugehörige Sexual-
    überschätzung entfalten.

    Auch für die narzißtisch und gegen den Mann kühl ge-
    bliebenen Frauen gibt es einen Weg, der sie zur vollen 
    Objektliebe führt. In dem Kinde, das sie gebären, tritt ihnen 
    ein Teil des eigenen Körpers wie ein fremdes Objekt gegen-
    über, dem sie nun vom Narzißmus aus die volle Objektliebe 
    schenken können. Noch andere Frauen brauchen nicht auf 
    das Kind zu warten, um den Schritt in der Entwicklung vom 
    (sekundären) Narzißmus zur Objektliebe zu machen. Sie 
    haben sich selbst vor der Pubertät männlich gefühlt und ein 
    Stück weit männlich entwickelt; nachdem diese Strebung mit 
    dem Auftreten der weiblichen Reife abgebrochen wurde, 
    bleibt ihnen die Fähigkeit, sich nach einem männlichen Ideal 
    zu sehnen, welches eigentlich die Fortsetzung des knaben-
    haften Wesens ist, das sie selbst einmal waren.

    Eine kurze Übersicht der Wege zur Objektwahl mag diese 
    andeutenden Bemerkungen beschließen. Man liebt:

  • S.

    44

    I ) Nach dem narzißtischen Typus: 
    a) was man selbst ist (sich selbst), 
    b) was man selbst war, 
    c) was man selbst sein möchte, 
    d) die Person, die ein Teil des eigenen Selbst war.

    2) Nach dem Anlehnungstypus: 
    a) die nährende Frau, 
    b) den schützenden Mann 
    und die in Reihen von ihnen ausgehenden Ersatzpersonen. 
    Der Fall c) des ersten Typus kann erst durch später folgende Aus-
    führungen gerechtfertigt werden.

    Die Bedeutung der narzißtischen Objektwahl für die Homo-
    sexualität des Mannes bleibt in anderem Zusammenhange zu 
    würdigen.

    Der von uns supponierte primäre Narzißmus des Kindes, 
    der eine der Voraussetzungen unserer Libidotheorien enthält, 
    ist weniger leicht durch direkte Beobachtung zu erfassen als 
    durch Rückschluß von einem anderen Punkte her zu bestätigen. 
    Wenn man die Einstellung zärtlicher Eltern gegen ihre Kinder 
    ins Auge faßt, muß man sie als Wiederaufleben und Repro-
    duktion des eigenen, längst aufgegebenen Narzißmus er-
    kennen. Das gute Kennzeichen der Überschätzung, welches wir 
    als narzißtisches Stigma schon bei der Objektwahl gewürdigt 
    haben, beherrscht, wie allbekannt, diese Gefühlsbeziehung. So 
    besteht ein Zwang, dem Kinde alle Vollkommenheiten zuzu-
    sprechen, wozu nüchterne Beobachtung keinen Anlaß fände, 
    und alle seine Mängel zu verdecken und zu vergessen, womit 
    ja die Verleugnung der kindlichen Sexualität im Zusammen-
    hange steht. Es besteht aber auch die Neigung, alle kulturellen 
    Erwerbungen, deren Anerkennung man seinem Narzißmus 
    abgezwungen hat, vor dem Kinde zu suspendieren und die 
    Ansprüche auf längst aufgegebene Vorrechte bei ihm zu er-
    neuern. Das Kind soll es besser haben als seine Eltern, es

  • S.

    45

    soll den Notwendigkeiten, die man als im Leben herrschend 
    erkannt hat, nicht unterworfen sein. Krankheit, Tod, Ver-
    zicht auf Genuß, Einschränkung des eigenen Willens sollen 
    für das Kind nicht gelten, die Gesetze der Natur wie der 
    Gesellschaft vor ihm haltmachen, es soll wirklich wieder 
    Mittelpunkt und Kern der Schöpfung sein. His Majesty the 
    Baby, wie man sich einst selbst dünkte. Es soll die unaus-
    geführten Wunschträume der Eltern erfüllen, ein großer 
    Mann und Held werden an Stelle des Vaters, einen Prinzen 
    zum Gemahl bekommen zur späten Entschädigung der 
    Mutter. Der heikelste Punkt des narzißtischen Systems, die 
    von der Realität hart bedrängte Unsterblichkeit des Ichs, hat 
    ihre Sicherung in der Zuflucht zum Kinde gewonnen. Die 
    rührende, im Grunde so kindliche Elternliebe ist nichts anderes 
    als der wiedergeborene Narzißmus der Eltern, der in seiner 
    Umwandlung zur Objektliebe sein einstiges Wesen unverkenn-
    bar offenbart.

    III

    Welchen Störungen der ursprüngliche Narzißmus des 
    Kindes ausgesetzt ist, und mit welchen Reaktionen er sich der-
    selben erwehrt, auch auf welche Bahnen er dabei gedrängt 
    wird, das möchte ich als einen wichtigen Arbeitsstoff, welcher 
    noch der Erledigung harrt, beiseite stellen; das bedeutsamste 
    Stück desselben kann man als „Kastrationskomplex“ (Penis-
    angst beim Knaben, Penisneid beim Mädchen) herausheben 
    und im Zusammenhange mit dem Einfluß der frühzeitigen 
    Sexualeinschüchterung behandeln. Die psychoanalytische 
    Untersuchung, welche uns sonst die Schicksale der libidi-
    nösen Triebe verfolgen läßt, wenn diese, von den Ichtrieben 
    isoliert, sich in Opposition zu denselben befinden, gestattet

  • S.

    46

    uns auf diesem Gebiete Rückschlüsse auf eine Epoche und 
    eine psychische Situation, in welcher beiderlei Triebe noch 
    einhellig wirksam in untrennbarer Vermengung als narziß-
    tische Interessen auftreten. A. Adler hat aus diesem 
    Zusammenhange seinen „männlichen Protest“ geschöpft, den 
    er zur fast alleinigen Triebkraft der Charakter‑ wie der 
    Neurosenbildung erhebt, während er ihn nicht auf eine 
    narzißtische, also immer noch libidinöse Strebung, sondern auf 
    eine soziale Wertung begründet. Vom Standpunkte der psycho-
    analytischen Forschung ist Existenz und Bedeutung des 
    „männlichen Protestes“ von allem Anfang an anerkannt, 
    seine narzißtische Natur und Herkunft aus dem Kastrations-
    komplex aber gegen Adler vertreten worden. Er gehört der 
    Charakterbildung an, in deren Genese er nebst vielen anderen 
    Faktoren eingeht, und ist zur Aufklärung der Neurosen-
    probleme, an denen Adler nichts beachten will als die Art, 
    wie sie dem Ichinteresse dienen, völlig ungeeignet. Ich finde 
    es ganz unmöglich, die Genese der Neurose auf die schmale 
    Basis des Kastrationskomplexes zu stellen, so mächtig dieser 
    auch bei Männern unter den Widerständen gegen die Heilung 
    der Neurose hervortreten mag. Ich kenne endlich auch Fälle 
    von Neurosen, in denen der „männliche Protest“ oder in 
    unserem Sinne der Kastrationskomplex keine pathogene 
    Rolle spielt oder überhaupt nicht vorkommt.

    Die Beobachtung des normalen Erwachsenen zeigt dessen 
    einstigen Größenwahn gedämpft und die psychischen Charak-
    tere, aus denen wir seinen infantilen Narzißmus erschlossen 
    haben, verwischt. Was ist aus seiner Ichlibido geworden? 
    Sollen wir annehmen, daß ihr ganzer Betrag in Objekt-
    besetzungen aufgegangen ist? Diese Möglichkeit widerspricht 
    offenbar dem ganzen Zuge unserer Erörterungen; wir können 
    aber auch aus der Psychologie der Verdrängung einen Hin-
    weis auf eine andere Beantwortung der Frage entnehmen.

  • S.

    47

    Wir haben gelernt, daß libidinöse Triebregungen dem 
    Schicksal der pathogenen Verdrängung unterliegen, wenn 
    sie in Konflikt mit den kulturellen und ethischen Vorstellun-
    gen des Individuums geraten. Unter dieser Bedingung wird 
    niemals verstanden, daß die Person von der Existenz dieser 
    Vorstellungen eine bloß intellektuelle Kenntnis habe, sondern 
    stets, daß sie dieselben als maßgebend für sich anerkenne, sich 
    den aus ihnen hervorgehenden Anforderungen unterwerfe. 
    Die Verdrängung, haben wir gesagt, geht vom Ich aus; wir 
    könnten präzisieren: von der Selbstachtung des Ichs. Dieselben 
    Eindrücke, Erlebnisse, Impulse, Wunschregungen, welche der 
    eine Mensch in sich gewähren läßt oder wenigstens bewußt 
    verarbeitet, werden vom anderen in voller Empörung zurück-
    gewiesen oder bereits vor ihrem Bewußtwerden erstickt. Der 
    Unterschied der beiden aber, welcher die Bedingung der 
    Verdrängung enthält, läßt sich leicht in Ausdrücke fassen, 
    welche eine Bewältigung durch die Libidotheorie ermöglichen. 
    Wir können sagen, der eine habe ein Ideal in sich aufge-
    richtet, an welchem er sein aktuelles Ich mißt, während dem 
    anderen eine solche Idealbildung abgehe. Die Idealbildung 
    wäre von seiten des Ichs die Bedingung der Verdrängung.

    Diesem Idealich gilt nun die Selbstliebe, welche in der 
    Kindheit das wirkliche Ich genoß. Der Narzißmus erscheint 
    auf dieses neue ideale Ich verschoben, welches sich wie das 
    infantile im Besitz aller wertvollen Vollkommenheiten be-
    findet. Der Mensch hat sich hier, wie jedesmal auf dem Gebiete 
    der Libido, unfähig erwiesen, auf die einmal genossene 
    Befriedigung zu verzichten. Er will die narzißtische Voll-
    kommenheit seiner Kindheit nicht entbehren, und wenn er 
    diese nicht festhalten konnte, durch die Mahnungen während 
    seiner Entwicklungszeit gestört und in seinem Urteil geweckt, 
    sucht er sie in der neuen Form des Ichideals wieder zu 
    gewinnen. Was er als sein Ideal vor sich hin projiziert, ist

  • S.

    48

    der Ersatz für den verlorenen Narzißmus seiner Kindheit, in 
    der er sein eigenes Ideal war.

    Es liegt nahe, die Beziehungen dieser Idealbildung zur 
    Sublimierung zu untersuchen. Die Sublimierung ist ein Prozeß 
    an der Objektlibido und besteht darin, daß sich der Trieb auf 
    ein anderes, von der sexuellen Befriedigung entferntes Ziel 
    wirft; der Akzent ruht dabei auf der Ablenkung vom 
    Sexuellen. Die Idealisierung ist ein Vorgang mit dem Objekt, 
    durch welchen dieses ohne Änderung seiner Natur vergrößert 
    und psychisch erhöht wird. Die Idealisierung ist sowohl 
    auf dem Gebiete der Ichlibido wie auch der Objektlibido 
    möglich. So ist zum Beispiel die Sexualüberschätzung des 
    Objektes eine Idealisierung desselben. Insofern also Sub-
    limierung etwas beschreibt, was mit dem Trieb, Idealisierung 
    etwas, was am Objekt vorgeht, sind die beiden begrifflich 
    auseinanderzuhalten.

    Die Ichidealbildung wird oft zum Schaden des Verständ-
    nisses mit der Triebsublimierung verwechselt. Wer seinen 
    Narzißmus gegen die Verehrung eines hohen Ichideals ein-
    getauscht hat, dem braucht darum die Sublimierung seiner 
    libidinösen Triebe nicht gelungen zu sein. Das Ichideal fordert 
    zwar solche Sublimierung, aber es kann sie nicht erzwingen; 
    die Sublimierung bleibt ein besonderer Prozeß, dessen Ein-
    leitung vom Ideal angeregt werden mag, dessen Durchführung 
    durchaus unabhängig von solcher Anregung bleibt. Man findet 
    gerade bei den Neurotikern die höchsten Spannungsdifferen-
    zen zwischen der Ausbildung des Ichideals und dem Maß von 
    Sublimierung ihrer primitiven libidinösen Triebe, und es 
    fällt im allgemeinen viel schwerer, den Idealisten von dem 
    unzweckmäßigen Verbleib seiner Libido zu überzeugen, als 
    den simplen, in seinen Ansprüchen genügsam gebliebenen 
    Menschen. Das Verhältnis von Idealbildung und Sublimie-
    rung zur Verursachung der Neurose ist auch ein ganz verschiedenes.

  • S.

    49

    Die Idealbildung steigert, wie wir gehört haben, 
    die Anforderungen des Ichs und ist die stärkste Begünstigung 
    der Verdrängung; die Sublimierung stellt den Ausweg dar, 
    wie die Anforderung erfüllt werden kann, ohne die Ver-
    drängung herbeizuführen.

    Es wäre nicht zu verwundern, wenn wir eine besondere 
    psychische Instanz auffinden sollten, welche die Aufgabe er-
    füllt, über die Sicherung der narzißtischen Befriedigung aus 
    dem Ichideal zu wachen, und in dieser Absicht das aktuelle 
    Ich unausgesetzt beobachtet und am Ideal mißt. Wenn eine 
    solche Instanz existiert, so kann es uns unmöglich zustoßen, 
    sie zu entdecken; wir können sie nur als solche agnoszieren 
    und dürfen uns sagen, daß das, was wir unser Gewissen 
    heißen, diese Charakteristik erfüllt. Die Anerkennung dieser 
    Instanz ermöglicht uns das Verständnis des sogenannten 
    Beachtungs‑ oder richtiger Beobachtungswahnes, wel-
    cher in der Symptomatologie der paranoiden Erkrankungen 
    so deutlich hervortritt, vielleicht auch als isolierte Erkran-
    kung oder in eine Übertragungsneurose eingesprengt vor-
    kommen kann. Die Kranken klagen dann darüber, daß man 
    alle ihre Gedanken kennt, ihre Handlungen beobachtet und 
    beaufsichtigt; sie werden von dem Walten dieser Instanz 
    durch Stimmen informiert, welche charakteristischerweise in 
    der dritten Person zu ihnen sprechen. („Jetzt denkt sie wieder 
    daran; jetzt geht er fort.“) Diese Klage hat recht, sie be-
    schreibt die Wahrheit; eine solche Macht, die alle unsere 
    Absichten beobachtet, erfährt und kritisiert, besteht wirklich, 
    und zwar bei uns allen im normalen Leben. Der Beobach-
    tungswahn stellt sie in regressiver Form dar, enthüllt dabei 
    ihre Genese und den Grund, weshalb sich der Erkrankte 
    gegen sie auflehnt.

    Die Anregung zur Bildung des Ichideals, als dessen Wächter 
    das Gewissen bestellt ist, war nämlich von dem durch die

  • S.

    50

    Stimme vermittelten kritischen Einfluß der Eltern ausgegangen, 
    an welche sich im Laufe der Zeiten die Erzieher, Lehrer und 
    als unübersehbarer, unbestimmbarer Schwarm alle anderen 
    Personen des Milieus angeschlossen hatten. (Die Mitmenschen, 
    die öffentliche Meinung.)

    Große Beträge von wesentlich homosexueller Libido wurden 
    so zur Bildung des narzißtischen Ichideals herangezogen und 
    finden in der Erhaltung desselben Ableitung und Befriedigung. 
    Die Institution des Gewissens war im Grunde eine Verkör-
    perung zunächst der elterlichen Kritik, in weiterer Folge der 
    Kritik der Gesellschaft, ein Vorgang, wie er sich bei der Ent-
    stehung einer Verdrängungsneigung aus einem zuerst äußer-
    lichen Verbot oder Hindernis wiederholt. Die Stimmen sowie 
    die unbestimmt gelassene Menge werden nun von der Krank-
    heit zum Vorschein gebracht, damit die Entwicklungs-
    geschichte des Gewissens regressiv reproduziert. Das Sträuben 
    gegen diese zensorische Instanz rührt aber daher, daß 
    die Person, dem Grundcharakter der Krankheit ent-
    sprechend, sich von all diesen Einflüssen, vom elterlichen 
    angefangen, ablösen will, die homosexuelle Libido von 
    ihnen zurückzieht. Ihr Gewissen tritt ihr dann in regressiver Dar-
    stellung als Einwirkung von außen feindselig entgegen.

    Die Klage der Paranoia zeigt auch, daß die Selbstkritik 
    des Gewissens im Grunde mit der Selbstbeobachtung, auf die 
    sie gebaut ist, zusammenfällt. Dieselbe psychische Tätigkeit, 
    welche die Funktion des Gewissens übernommen hat, hat sich 
    also auch in den Dienst der Innenforschung gestellt, welche 
    der Philosophie das Material für ihre Gedankenoperationen 
    liefert. Das mag für den Antrieb zur spekulativen System-
    bildung, welcher die Paranoia auszeichnet, nicht gleichgültig 
    sein.10

    10)Nur als Vermutung füge ich an, daß die Ausbildung und 
    Erstarkung dieser beobachtenden Instanz auch die späte Entstehung 
    des (subjektiven) Gedächtnisses und des für unbewußte Vorgänge 
    nicht geltenden Zeitmoments in sich fassen könnte.

  • S.

    51

    Es wird uns gewiß bedeutsam sein, wenn wir die Anzeichen 
    von der Tätigkeit dieser kritisch beobachtenden – zum 
    Gewissen und zur philosophischen Introspektion gesteigerten 
    – Instanz noch auf anderen Gebieten zu erkennen vermögen. 
    Ich ziehe hier heran, was H. Silberer als das „funktionelle 
    Phänomen“ beschrieben hat, eine der wenigen Ergänzungen 
    zur Traumlehre, deren Wert unbestreitbar ist. Silberer hat 
    bekanntlich gezeigt, daß man in Zuständen zwischen Schlafen 
    und Wachen die Umsetzung von Gedanken in visuelle Bilder 
    direkt beobachten kann, daß aber unter solchen Verhältnissen 
    häufig nicht eine Darstellung des Gedankeninhalts auftritt, 
    sondern des Zustandes (von Bereitwilligkeit, Ermüdung usw.), 
    in welchem sich die mit dem Schlaf kämpfende Person befindet. 
    Ebenso hat er gezeigt, daß manche Schlüsse von Träumen 
    und Absätze innerhalb des Trauminhaltes nichts anderes be-
    deuten als die Selbstwahrnehmung des Schlafens und Er-
    wachens. Er hat also den Anteil der Selbstbeobachtung – im 
    Sinne des paranoischen Beobachtungswahnes – an der Traum-
    bildung nachgewiesen. Dieser Anteil ist ein inkonstanter; ich 
    habe ihn wahrscheinlich darum übersehen, weil er in meinen 
    eigenen Träumen keine große Rolle spielt; bei philosophisch 
    begabten, an Introspektion gewöhnten Personen mag er sehr 
    deutlich werden.

    Wir erinnern uns, daß wir gefunden haben, die Traum-
    bildung entstehe unter der Herrschaft einer Zensur, welche 
    die Traumgedanken zur Entstellung nötigt. Unter dieser Zen-
    sur stellten wir uns aber keine besondere Macht vor, sondern 
    wählten diesen Ausdruck für die den Traumgedanken zuge-
    wandte Seite der das Ich beherrschenden, verdrängenden 
    Tendenzen. Gehen wir in die Struktur des Ichs weiter ein, 
    so dürfen wir im Ichideal und den dynamischen Äußerungen

  • S.

    52

    des Gewissens auch den Traumzensor erkennen. Merkt 
    dieser Zensor ein wenig auch während des Schlafes auf, so 
    werden wir verstehen, daß die Voraussetzung seiner Tätigkeit, 
    die Selbstbeobachtung und Selbstkritik, mit Inhalten, wie: 
    jetzt ist er zu schläfrig, um zu denken – jetzt wacht er auf, 
    einen Beitrag zum Trauminhalt leistet.11

    Von hier aus dürfen wir die Diskussion des Selbstgefühls 
    beim Normalen und beim Neurotischen versuchen.

    Das Selbstgefühl erscheint uns zunächst als Ausdruck der 
    Ichgröße, deren Zusammengesetztheit nicht weiter in Betracht 
    kommt. Alles, was man besitzt oder erreicht hat, jeder durch 
    die Erfahrung bestätigte Rest des primitiven Allmachtgefühls 
    hilft das Selbstgefühl steigern.

    Wenn wir unsere Unterscheidung von Sexual‑ und Ich-
    trieben einführen, müssen wir dem Selbstgefühl eine besonders 
    innige Abhängigkeit von der narzißtischen Libido zuer-
    kennen. Wir lehnen uns dabei an die zwei Grundtatsachen an, 
    daß bei den Paraphrenien das Selbstgefühl gesteigert, bei den 
    Übertragungsneurosen herabgesetzt ist, und daß im Liebes-
    leben das Nichtgeliebtwerden das Selbstgefühl erniedrigt, das 
    Geliebtwerden dasselbe erhöht. Wir haben angegeben, daß 
    Geliebtwerden das Ziel und die Befriedigung bei narzißtischer 
    Objektwahl darstellt.

    Es ist ferner leicht zu beobachten, daß die Libidobesetzung 
    der Objekte das Selbstgefühl nicht erhöht. Die Abhängigkeit 
    vom geliebten Objekt wirkt herabsetzend; wer verliebt ist, ist 
    demütig. Wer liebt, hat sozusagen ein Stück seines Narzißmus 
    eingebüßt und kann es erst durch das Geliebtwerden ersetzt 
    erhalten. In all diesen Beziehungen scheint das Selbstgefühl 

    11)Ob die Sonderung dieser zensorischen Instanz vom anderen 
    Ich imstande ist, die philosophische Scheidung eines Bewußtseins 
    von einem Selbstbewußtsein psychologisch zu fundieren, kann ich 
    hier nicht entscheiden.

  • S.

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    in Relation mit dem narzißtischen Anteil am Liebesleben zu 
    bleiben.

    Die Wahrnehmung der Impotenz, des eigenen Unvermögens 
    zu lieben, infolge seelischer oder körperlicher Störungen, wirkt 
    im hohen Grade herabsetzend auf das Selbstgefühl ein. Hier 
    ist nach meinem Ermessen eine der Quellen für die so bereit-
    willig kundgegebenen Minderwertigkeitsgefühle der Über-
    tragungsneurotiker zu suchen. Die Hauptquelle dieser Gefühle 
    ist aber die Ichverarmung, welche sich aus den außerordentlich 
    großen, dem Ich entzogenen Libidobesetzungen ergibt, also 
    die Schädigung des Ichs durch die der Kontrolle nicht mehr 
    unterworfenen Sexualstrebungen.

    A. Adler hat mit Recht geltend gemacht, daß die Wahr-
    nehmung eigener Organminderwertigkeiten anspornend auf ein 
    leistungsfähiges Seelenleben wirkt und auf dem Wege der 
    Überkompensation eine Mehrleistung hervorruft. Es wäre aber 
    eine volle Übertreibung, wenn man jede gute Leistung nach 
    seinem Vorgang auf diese Bedingung der ursprünglichen 
    Organminderwertigkeit zurückführen wollte. Nicht alle Maler 
    sind mit Augenfehlern behaftet, nicht alle Redner ursprünglich 
    Stotterer gewesen. Es gibt auch reichlich vortreffliche Leistung 
    auf Grund vorzüglicher Organbegabung. Für die Ätiologie 
    der Neurose spielt organische Minderwertigkeit und Ver-
    kümmerung eine geringfügige Rolle, etwa die nämliche, wie 
    das aktuelle Wahrnehmungsmaterial für die Traumbildung. 
    Die Neurose bedient sich desselben als Vorwand wie aller 
    anderen tauglichen Momente. Hat man eben einer neuroti-
    schen Patientin den Glauben geschenkt, daß sie krank werden 
    mußte, weil sie unschön, mißgebildet, reizlos sei, so daß nie-
    mand sie lieben könne, so wird man durch die nächste Neu-
    rotika eines Besseren belehrt, die in Neurose und Sexual-
    ablehnung verharrt, obwohl sie über das Durchschnittsmaß 
    begehrenswert erscheint und begehrt wird. Die hysterischen

  • S.

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    Frauen gehören in ihrer Mehrzahl zu den anziehenden und 
    selbst schönen Vertreterinnen ihres Geschlechts, und ander-
    seits leistet die Häufung von Häßlichkeiten, Organverküm-
    merungen und Gebrechen bei den niederen Ständen unserer 
    Gesellschaft nichts für die Frequenz neurotischer Erkran-
    kungen in ihrer Mitte. 

    Die Beziehungen des Selbstgefühls zur Erotik (zu den libidi-
    nösen Objektbesetzungen) lassen sich formelhaft in folgender 
    Weise darstellen: Man hat die beiden Fälle zu unterscheiden, 
    ob die Liebesbesetzungen ichgerecht sind oder im Gegen-
    teil eine Verdrängung erfahren haben. Im ersteren Falle (bei 
    ichgerechter Verwendung der Libido) wird das Lieben wie 
    jede andere Betätigung des Ichs gewertet. Das Lieben an 
    sich, als Sehnen, Entbehren, setzt das Selbstgefühl herab, das 
    Geliebtwerden, Gegenliebe finden, Besitzen des geliebten Ob-
    jekts hebt es wieder. Bei verdrängter Libido wird die Liebes-
    besetzung als arge Verringerung des Ichs empfunden, Liebes-
    befriedigung ist unmöglich, die Wiederbereicherung des Ichs 
    wird nur durch die Zurückziehung der Libido von den 
    Objekten möglich. Die Rückkehr der Objektlibido zum Ich, 
    deren Verwandlung in Narzißmus, stellt gleichsam wieder 
    eine glückliche Liebe dar, und anderseits entspricht auch eine 
    reale glückliche Liebe dem Urzustand, in welchem Objekt‑ 
    und Ichlibido voneinander nicht zu unterscheiden sind.

    Die Wichtigkeit und Unübersichtlichkeit des Gegenstandes 
    möge nun die Anfügung von einigen anderen Sätzen in 
    loserer Anordnung rechtfertigen:

    Die Entwicklung des Ichs besteht in einer Entfernung vom 
    primären Narzißmus und erzeugt ein intensives Streben, 
    diesen wieder zu gewinnen. Diese Entfernung geschieht ver-
    mittels der Libidoverschiebung auf ein von außen auf-
    genötigtes Ichideal, die Befriedigung durch die Erfüllung 
    dieses Ideals.

  • S.

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    Gleichzeitig hat das Ich die libidinösen Objektbesetzungen 
    ausgeschickt. Es ist zugunsten dieser Besetzungen wie des Ich-
    ideals verarmt und bereichert sich wieder durch die Objekt-
    befriedigungen wie durch die Idealerfüllung.

    Ein Anteil des Selbstgefühls ist primär, der Rest des kind-
    lichen Narzißmus, ein anderer Teil stammt aus der durch 
    Erfahrung bestätigten Allmacht (der Erfüllung des Ichideals), 
    ein dritter aus der Befriedigung der Objektlibido.

    Das Ichideal hat die Libidobefriedigung an den Objekten 
    unter schwierige Bedingungen gebracht, indem es einen Teil 
    derselben durch seinen Zensor als unverträglich abweisen 
    läßt. Wo sich ein solches Ideal nicht entwickelt hat, da tritt 
    die betreffende sexuelle Strebung unverändert als Perversion 
    in die Persönlichkeit ein. Wiederum ihr eigenes Ideal sein, 
    auch in betreff der Sexualstrebungen, wie in der Kindheit, 
    das wollen die Menschen als ihr Glück erreichen.

    Die Verliebtheit besteht in einem Überströmen der Ich-
    libido auf das Objekt. Sie hat die Kraft, Verdrängungen auf-
    zuheben und Perversionen wieder herzustellen. Sie erhebt das 
    Sexualobjekt zum Sexualideal. Da sie bei dem Objekt‑ oder 
    Anlehnungstypus auf Grund der Erfüllung infantiler Liebes-
    bedingungen erfolgt, kann man sagen: Was diese Liebes-
    bedingung erfüllt, wird idealisiert.

    Das Sexualideal kann in eine interessante Hilfsbeziehung 
    zum Ichideal treten. Wo die narzißtische Befriedigung auf 
    reale Hindernisse stößt, kann das Sexualideal zur Ersatz-
    befriedigung verwendet werden. Man liebt dann nach dem 
    Typus der narzißtischen Objektwahl das, was man war und 
    eingebüßt hat, oder was die Vorzüge besitzt, die man über-
    haupt nicht hat (vergleiche oben unter c). Die der obigen 
    parallele Formel lautet: Was den dem Ich zum Ideal fehlenden 
    Vorzug besitzt, wird geliebt. Dieser Fall der Aushilfe hat eine 
    besondere Bedeutung für den Neurotiker, der durch seine

  • S.

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    übermäßigen Objektbesetzungen im Ich verarmt und außer-
    stande ist, sein Ichideal zu erfüllen. Er sucht dann von seiner 
    Libidoverschwendung an die Objekte den Rückweg zum 
    Narzißmus, indem er sich ein Sexualideal nach dem narziß-
    tischen Typus wählt, welches die von ihm nicht zu erreichen-
    den Vorzüge besitzt. Dies ist die Heilung durch Liebe, welche 
    er in der Regel der analytischen vorzieht. Ja, er kann an 
    einen anderen Mechanismus der Heilung nicht glauben, bringt 
    meist die Erwartung desselben in die Kur mit und richtet sie 
    auf die Person des ihn behandelnden Arztes. Diesem Heilungs-
    plan steht natürlich die Liebesunfähigkeit des Kranken infolge 
    seiner ausgedehnten Verdrängungen im Wege. Hat man dieser 
    durch die Behandlung bis zu einem gewissen Grade abge-
    holfen, so erlebt man häufig den unbeabsichtigten Erfolg, daß 
    der Kranke sich nun der weiteren Behandlung entzieht, um 
    eine Liebeswahl zu treffen und die weitere Herstellung dem 
    Zusammenleben mit der geliebten Person zu überlassen. Man 
    könnte mit diesem Ausgang zufrieden sein, wenn er nicht alle 
    Gefahren der drückenden Abhängigkeit von diesem Nothelfer 
    mit sich brächte.

    Vom Ichideal aus führt ein bedeutsamer Weg zum Ver-
    ständnis der Massenpsychologie. Dies Ideal hat außer seinem 
    individuellen einen sozialen Anteil, es ist auch das gemein-
    same Ideal einer Familie, eines Standes, einer Nation. Es hat 
    außer der narzißtischen Libido einen großen Betrag der 
    homosexuellen Libido einer Person gebunden, welcher auf 
    diesem Wege ins Ich zurückgekehrt ist. Die Unbefriedigung 
    durch Nichterfüllung dieses Ideals macht homosexuelle Libido 
    frei, welche sich in Schuldbewußtsein (soziale Angst) ver-
    wandelt. Das Schuldbewußtsein war ursprünglich Angst vor 
    der Strafe der Eltern, richtiger gesagt: vor dem Liebesverlust 
    bei ihnen; an Stelle der Eltern ist später die unbestimmte 
    Menge der Genossen getreten. Die häufige Verursachung der

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    Paranoia durch Kränkung des Ichs, Versagung der Befriedi-
    gung im Bereiche des Ichideals, wird so verständlicher, auch 
    das Zusammentreffen von Idealbildung und Sublimierung im 
    Ichideal, die Rückbildung der Sublimierungen und eventuelle 
    Umbildung der Ideale bei den paraphrenischen Erkrankungen.