Zur Einleitung der Behandlung 1913-003/1913.1
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    Originalarbeiten.

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    Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse.')
    Von Sigm. Freud.

    I. Zur Einleitung der Behandlung.

    Wer das edle Schachspiel aus Büchern erlernen will, der wird
    bald erfahren, daß nur die Eröffnungen und die Endspiele eine erschópfende
    systematische Darstellung gestatten, während die uniibersehbare Mannig-
    faltigkeit der nach der Eröffnung beginnenden Spiele sich einer solchen
    versagt. Rifriges Studium von Partien, in denen Meister miteinander
    gekämpft haben, kann allein die Lücke in der Unterweisung ausfüllen,
    Ähnlichen Einschränkungen unterliegen wohl die Regeln, die man für die
    Ausübung der psychoanalytischen Behandlung geben kann,

    Ich werde im folgenden versuchen, einige dieser Regeln für die
    Einleitung der Kur zum Gebrauche des praktischen Analytikers zusammen
    zu stellen. Es sind Bestimmungen darunter, die kleinlich erscheinen
    mögen und es wohl auch sind. Zu ihrer Entschuldigung diene, daß es
    eben Spielregeln sind, die ihre Bedeutung aus dem Zusammenhange des
    Spielplanes schöpfen müssen, Ich tue aber gut daran, diese Regeln als
    „Ratschläge“ auszugeben und keine unbedingte Verbindlichkeit für sie zu
    beanspruchen. Die außerordentliche Verschiedenheit der in Betracht
    kommenden psychischen Konstellationen, die Plastizität aller seelischen
    Vorgänge und der Reichtum an determinierenden Faktoren widersetzen
    sich auch einer Mechanisierung der Technik und gestatten es, daß ein
    sonst berechtigtes Vorgehen gelegentlich wirkungslos bleibt und ein für
    gewöhnlich fehlerhaftes einmal zum Ziele führt. Diese Verhältnisse
    hindern indes nicht, ein durchschnittlich zweckmäßiges Verhalten des
    Arztes festzustellen.

    1) Fortsetzung einer Reihe von Abhandlungen, welche im „Zentralblatt für
    Psychoanalyse“, II, in Heft 3, 4 und 9 veröffentlicht worden sind. (Die Handhabung der
    Traumdeutung in der Psychoanalyse. — Zur Dynamik der Übertragung. — Rat-
    schläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung.

    Zeitschr. f. üratl. Psychoanalyse, 1

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    2 Sigm. Freud.

    Die wichtigsten Indikationen fir die Auswahl der Kranken habe
    ich bereits vor Jahren an anderer Stelle angegeben. Ich wiederhole sie
    darum hier nicht; sie haben unterdes die Zustimmung anderer Psycho-
    analytiker gefunden.') Ich füge aber hinzu, daß ich mich seither ge-
    wóhnt habe, Kranke, von denen ich wenig weiß, vorerst nur provisorisch,
    fiir die Dauer von 1—2 Wochen, anzunehmen. Bricht man innerhalb
    dieser Zeit ab, so erspart man dem Kranken den peinlichen Eindruck eines
    verungliickten Heilungsversuches. Man hat eben nur eine Sondierung vor-
    genommen, um den Fall kennen zu lernen und um zu entscheiden, ob
    er fiir die Psychoanalyse geeignet ist. Eine andere Art der Erprobung
    als einen solchen Versuch hat man nicht zur Verfiigung; noch so lange
    fortgesetzte Unterhaltungen und Ausfragungen in der Sprechstunde würden
    keinen Ersatz bieten. Dieser Vorversuch aber ist bereits der Beginn der
    Psychoanalyse und soll den Regeln derselben folgen. Man kann ihn etwa
    dadurch gesondert halten, daß man hauptsächlich den Patienten reden
    lågt und ihm von Aufklärungen nicht mehr mitteilt, als was zur Fort-
    führung seiner Erzählung durchaus unerläßlich ist.

    Die Einleitung der Behandlung mit einer solchen für einige Wochen
    angesetzten Probezeit hat übrigens auch eine diagnostische Motivierung.
    Oft genug, wenn man eine Neurose mit hysterischen oder Zwangssymptomen
    vor sich hat, von nicht exzessiver Ausprägung und von kürzerem Be-
    stand, also gerade solche Formen, die man als günstig für die Behandlung
    ansehen wollte, muß man dem Zweifel Raum geben, ob der Fall nicht
    einem Vorstadium einer sogen. Dementia praecox (Schizophrenie nach
    Bleuler, Paraphrenie nach meinem Vorschlag) entspricht und nach
    kürzerer oder längerer Zeit ein ausgesprochenes Bild dieser Affektion
    zeigen wird. Ich bestreite es, daß es immer so leicht möglich ist, die
    Unterscheidung zu treffen. Ich weiß, daß es Psychiater gibt, die in der
    Differentialdiagnose seltener schwanken, aber ich habe mich überzeugt,
    daß sie ebenso häufig irren, Der Irrtum ist nun für den Psychoanalytiker
    verhängnisvoller als für den sogen. klinischen Psychiater. Denn der
    letztere unternimmt in dem einen Fall so wenig wie in dem anderen etwas
    Erspriefiliches; er läuft nur die Gefahr eines theoretischen Irrtums und
    seine Diagnose hat nur akademisches Interesse, Der Psychoanalytiker hat
    aber im ungünstigen Falle einen praktischen Mißgriff begangen, er hat einen
    vergeblichen Aufwand verschuldet und sein Heilverfahren diskreditiert,
    Er kann sein Heilungsversprechen nicht halten, wenn der Kranke nicht
    an Hysterie oder Zwangsneurose, sondern an Paraphrenie leidet, und
    hat darum besonders starke Motive, den diagnostischen Irrtum zu ver-
    meiden. In einer Probebehandlung von einigen Wochen wird er oft ver-
    dächtige Wahrnehmungen machen, die ihn bestimmen können, den Ver-

    1) Über Psychotherapie 1905.

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    Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse, 3

    such nicht weiter fortzusetzen. Ich kann leider nicht behaupten, daß
    ein solcher Versuch regelmäßig eine sichere Entscheidung ermöglicht;
    es ist nur eine gute Vorsicht mehr.!)

    Lange Vorbesprechungen vor Beginn der analytischen Behandlung,
    eine andersartige Therapie vorher, sowie frühere Bekanntschaft zwischen
    dem Arzte und dem zu Analysierenden haben eine bestimmte ungünstige
    Folge, auf die man vorbereitet sein muß. Sie machen nämlich, daß
    der Patient dem Arzte in einer fertigen Ubertragungseinstellung gegenüber-
    tritt, die der Arzt erst langsam aufdecken muß, anstatt daß er die
    Gelegenheit hat, das Wachsen und Werden der Übertragung von Anfang
    an zu beobachten, Der Patient hat so eine Zeitlang einen Vorsprung, den
    man ihm in der Kur nur ungern gönnt.

    Gegen alle die, welche die Kur mit einem Aufschub beginnen wollen
    sei man mifitrauisch. Die Erfahrung zeigt, daß sie nach Ablauf der ver-
    einbarten Frist nicht eintreffen, auch wenn die Motivierung dieses Auf-
    schubes, also die Rationalisierung des Vorsatzes, dem Uneingeweihten
    tadellos erscheint,

    Besondere Schwierigkeiten ergeben sich, wenn zwischen dem Arzte
    und dem in die Analyse eintretenden Patienten oder deren Familien freund-
    schaftliche oder gesellschaftliche Beziehungen bestanden haben. Der
    Psychoanalytiker, von dem verlangt wird, daß er die Ehefrau oder das
    Kind eines Freundes in Behandlung nehme, darf sich darauf vorbereiten,
    daf ihn das Unternehmen, wie immer es ausgehe, die Freundschaft kosten
    wird. Er muß doch das Opfer bringen, wenn er nicht einen vertrauens-
    würdigen Vertreter stellen kann.

    Laien wie Ärzte, welche die Psychoanalyse immer noch gern mit
    einer Suggestivbehandlung verwechseln, pflegen hohen Wert auf die Er-
    wartung zu legen, welche der Patient der neuen Behandlung entgegen-
    bringt. Sie meinen oft, mit dem einen Kranken werde man nicht viel
    Mühe haben, denn er habe ein großes Zutrauen zur Psychoanalyse und
    sei von ihrer Wahrheit und ihrer Leistungsfáhigkeit voll überzeugt. Bei
    einem anderen werde es wohl schwerer gehen, denn er verhalte sich
    skeptisch und wolle nichts glauben, ehe er nicht den Erfolg an seiner
    eigenen Person gesehen habe. In Wirklichkeit hat aber diese Einstellung
    des Kranken eine recht geringe Bedeutung; sein vorläufiges Zutrauen

    1) Über das Thema dieser diagnostischen Unsicherheit, über die Chancen der
    Analyse bei leichten Formen von Paraphrenie und über die Begründung der Ahn-
    lichkeit beider Affektionen wäre sehr viel zu sagen, was ich in diesem Zusammen-
    hange nicht ausführen kann. Gern würde ich nach Jungs Vorgang Hysterie und
    Zwangsneurose als ,Ubertragungsneurosen den paraphrenischen Affektionen
    als ,Introversionsneurosen“ gegenüberstellen, wenn bei diesem Gebrauch der
    Begriff der ,Introversion“ (der Libido) nicht seinem einzig berechtigten Sinn ent-
    fremdet würde.

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    4 Sigm. Freud.

    oder MiBtrauen kommt gegen die inneren Widerstände, welche die Neurose
    verankern, kaum in Betracht. Die Vertrauensseligkeit des Patienten macht
    ja den ersten Verkehr mit ihm recht angenehm; man dankt ihm fiir sie,
    bereitet ihn aber darauf vor, daß seine günstige Voreingenommenbeit an
    der ersten in der Behandlung auftauchenden Schwierigkeit zerschellen
    wird. Dem Skeptiker sagt man, daß die Analyse kein Vertrauen braucht,
    daß er so kritisch und mifitrauisch sein dürfe, als ihm beliebt, daß man
    seine Einstellung gar nicht auf die Rechnung seines Urteils setzen wolle,
    denn er sei ja nicht in der Lage, sich ein verläßliches Urteil über diese Punkte
    zu bilden; sein Mißtrauen sei eben ein Symptom wie seine anderen Sym-
    ptome, und es werde sich nicht störend erweisen, wenn er nur gewissen-
    haft befolgen wolle, was die Regel der Behandlung von ihm fordere.

    Wer mit dem Wesen der Neurose vertraut ist, wird nicht erstaunt
    sein zu hören, daß auch derjenige, der sehr wohl befähigt ist, die Psycho-
    analyse an anderen auszuüben, sich benehmen kann wie ein anderer
    Sterblicher und die intensivsten Widerstände zu produzieren im stande ist,
    sobald er selbst zum Objekt der Psychoanalyse gemacht wird. Man be-
    kommt dann wieder einmal den Eindruck der psychischen Tiefendimension
    und findet nichts Überraschendes daran, daß die Neurose in psychischen
    Schichten wurzelt, bis zu denen die analytische Bildung nicht hinab-
    gedrungen ist,

    Wichtige Punkte zu Beginn der analytischen Kur sind die Bestim-
    mungen über Zeit und Geld.

    In betreff der Zeit befolge ich ausschließlich das Prinzip des
    Vermietens einer bestimmten Stunde. Jeder Patient erhält eine gewisse
    Stunde meines verfügbaren Arbeitstages zugewiesen; sie ist die seine
    und er bleibt für sie haftbar, auch wenn er sie nicht benützt. Diese
    Bestimmung, die für den Musik- oder Sprachlehrer in unserer guten Gesell-
    schaft als selbstverständlich gilt, erscheint beim Arzte vielleicht hart
    oder selbst standesunwirdig. Man wird geneigt sein, auf die vielen Zu-
    fälligkeiten hinzuweisen, die den Patienten hindern mögen, zu jedesmal
    derselben Stunde beim Arzte zu erscheinen, und wird verlangen, daß den
    zahlreichen interkurrenten Erkrankungen Rechnung getragen werde, die
    im Verlaufe einer längeren analytischen Behandlung vorfallen können,
    Allein meine Antwort ist, es geht nicht anders. Bei milderer Praxis häufen
    sich die „gelegentlichen“ Absagen so sehr, daß der Arzt seine materielle
    Existenz gefährdet findet. Bei strenger Einhaltung dieser Bestimmung
    stellt sich dagegen heraus, daß hinderliche Zufälligkeiten überhaupt nicht
    vorkommen und interkurrente Erkrankungen nur sehr selten. Man kommt
    kaum je in die Lage, eine Muße zu genießen, deren man sich als Er-
    werbender zu schämen hätte; man kann die Arbeit ungestört fortsetzen
    und entgeht der peinlichen, verwirrenden Erfahrung, daß gerade dann
    immer eine unverschuldete Pause in der Arbeit eintreten muß, wenn sie

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    Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse. 5

    besonders wichtig und inhaltsreich zu werden versprach. Von der Be-
    deutung der Psychogenie im täglichen Leben der Menschen, von der Häufig-
    keit der „Schulkrankheiten“ und der Nichtigkeit des Zufalls gewinnt
    man erst eine ordentlicke Überzeugung, wenn man einige Jahre hindurch
    Psychoanalyse betrieben hat unter strenger Befolgung des Prinzips der
    Stundenmiete. Bei unzweifelhaften organischen Affektionen, die durch
    das psychische Interesse doch nicht ausgeschlossen werden können, unter-
    breche ich die Behandlung, halte mich für berechtigt, die frei gewordene
    Stunde anders zu vergeben, und nehme den Patienten wieder auf, sobald
    er hergestellt ist und ich eine andere Stunde frei bekommen habe.

    Ich arbeite mit meinen Patienten täglich mit Ausnahme der Sonn-
    tage und der großen Festtage, also für gewöhnlich sechsmal in der
    Woche. Für leichte Fälle oder Fortsetzungen von weit gediehenen Behand-
    lungen reichen auch drei Stunden wöchentlich aus. Sonst bringen Ein-
    schränkungen an Zeit weder dem Arzte noch dem Patienten Vorteil; für
    den Anfang sind sie ganz zu verwerfen. Schon durch kurze Unterbrechungen
    wird die Arbeit immer ein wenig verschüttet; wir pflegten scherzhaft
    von einer ,Montagskruste“ zu sprechen, wenn wir nach der Sonntagsruhe
    von neuem begannen; bei seltener Arbeit besteht die Gefahr, daß man
    mit dem realen Erleben des Patienten nicht Schritt halten kann, daß
    die Kur den Kontakt mit der Gegenwart verliert und auf Seitenwege
    gedrängt wird. Gelegentlich trifft man auch auf Kranke, denen man mehr
    Zeit als das mittlere Maß von einer Stunde widmen muß, weil sie den
    größeren Teil einer Stunde verbrauchen, um aufzutauen, überhaupt mit-
    teilsam zu werden.

    Eine dem Arzte unliebsame Frage, die der Kranke zu allem Anfang
    an ihn richtet, lautet: Wie lange Zeit wird die Behandlung dauern? Welche
    Zeit brauchen Sie, um mich von meinem Leiden zu befreien? Wenn
    man eine Probebehandlung von einigen Wochen vorgeschlagen hat, ent-
    zieht man sich der direkten Beantwortung dieser Frage, indem man ver-
    spricht, nach Ablauf der Probezeit eine zuverlüssigere Aussage abgeben
    zu können, Man antwortet gleichsam wie der Asop der Fabel dem
    Wanderer, der nach der Länge des Weges fragt, mit der Aufforderung:
    Geh, und erläutert den Bescheid durch die Begründung, man müsse zuerst
    den Schritt des Wanderers kennen lernen, ehe man die Dauer seiner
    Wanderung berechnen kónne. Mit dieser Auskunft hilft man sich über
    die ersten Schwierigkeiten hinweg, aber der Vergleich ist nicht gut, denn
    der Neurotiker kann leicht sein Tempo verändern und zu Zeiten nur sehr
    langsame Fortschritte machen. Die Frage nach der voraussichtlichen
    Dauer der Behandlung ist in Wahrheit kaum zu beantworten.

    Die Einsichtslosigkeit der Kranken und die Unaufrichtigkeit der Ärzte
    vereinigen sich zu dem Effekt, an die Analyse die maBlosesten Ansprüche
    zu stellen und ihr dabei die knappste Zeit einzuräumen. Ich teile z. B.

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    6 Sigm. Freud.

    aus dem Briefe einer Dame in Rußland, der vor wenigen Tagen an mich
    gekommen ist, folgende Daten mit. Sie ist 33 Jahre alt, seit 23 Jahren
    leidend, seit 10 Jahren keiner anhaltenden Arbeit mehr fähig. „Behandlung
    in mehreren Nervenheilanstalten“ hat es nicht vermocht, ihr ein „aktives
    Leben“ zu ermöglichen. Sie hofft durch die Psychoanalyse, über die sie
    gelesen hat, ganz geheilt zu werden. Aber ihre Behandlung hat ihrer
    Familie schon so viel gekostet, daß sie keinen längeren Aufenthalt in
    Wien nehmen kann als 6 Wochen oder 2 Monate. Dazu kommt die
    Erschwerung, daß sie sich von Anfang an nur schriftlich „deutlich
    machen“ will, denn Antasten ihrer Komplexe würde bei ihr eine Explosion
    hervorrufen oder sie „zeitlich verstummen lassen“. — Niemand würde
    sonst erwarten, daß man einen schweren Tisch mit zwei Fingern heben
    werde wie einen leichten Schemel, oder daß man ein großes Haus in
    derselben Zeit bauen könne wie ein Holzhüttchen, doch sowie es sich
    um die Neurosen handelt, die in den Zusammenhang des menschlichen
    Denkens derzeit noch nicht eingereiht scheinen, vergessen selbst intelligente
    Personen an die notwendige Proportionalität zwischen Zeit, Arbeit und
    Erfolg. Übrigens eine begreifliche Folge der tiefen Unwissenheit über die
    Ätiologie der Neurosen. Dank dieser Ignoranz ist ihnen die Neurose eine
    Art „Mädchen aus der Fremde“. Man wußte nicht, woher sie kam, und
    darum erwartet man, daß sie eines Tages entschwunden sein wird.

    Die Ärzte unterstützen diese Vertrauensseligkeit; auch wissende
    unter ihnen schätzen häufig die Schwere der neurotischen Erkrankungen
    nicht ordentlich ein. Ein befreundeter Kollege, dem ich es hoch anrechne,
    daß er sich nach mehreren Dezennien wissenschaftlicher Arbeit auf
    anderen Voraussetzungen zur Würdigung der Psychoanalyse bekehrt hat,
    schrieb mir einmal: Was uns nottut, ist eine kurze, bequeme, ambula-
    torische Behandlung der Zwangsneurosen, Ich konnte damit nicht dienen,
    schämte mich und suchte mich mit der Bemerkung zu entschuldigen,
    daß wahrscheinlich auch die Internisten mit einer Therapie der Tuber-
    kulose oder des Karzinoms, welche diese Vorzüge vereinte, sehr zufrieden
    sein würden.

    Um es direkter zu sagen, es handelt sich bei der Psychoanalyse
    immer um lange Zeiträume, halbe oder ganze Jahre, um längere, als der
    Erwartung des Kranken entspricht. Man hat daher die Verpflichtung,
    dem Kranken diesen Sachverhalt zu eröffnen, ehe er sich endgültig für
    die Behandlung entschließt. Ich halte es überhaupt für würdiger, aber
    auch für zweckmäßiger, wenn man ihn, ohne gerade auf seine Ab-
    schreckung hinzuarbeiten, doch von vornherein auf die Schwierigkeiten
    und Opfer der analytischen Therapie aufmerksam macht, und ihm so
    jede Berechtigung nimmt, später einmal zu behaupten, man habe ihn in
    die Behandlung, deren Umfang und Bedeutung er nicht gekannt habe,
    gelockt. Wer sich durch solche Mitteilungen abhalten läßt, der hätte

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    Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse. 7

    sich später doch als unbrauchbar erwiesen, Es ist gut, eine derartige
    Auslese vor dem Beginn der Behandlung vorzunehmen. Mit dem Fortschritt
    der Aufklärung unter den Kranken wächst doch die Zahl derjenigen,
    welche diese erste Probe bestehen.

    Ich lehne es ab, die Patienten auf eine gewisse Dauer des A
    harrens in der Behandlung zu verpflichten, gestatte jedem die Kur abzu-
    brechen, wann es ihm beliebt, verhehle ihm aber nicht, daß ein Abbruch
    nach kurzer Arbeit keinen Erfolg zurücklassen wird und ihn leicht
    wie eine unvollendete Operation in einen unbefriedigenden Zustand ver-
    setzen kann. In den ersten Jahren meiner psychoanalytischen Tätigkeit
    fand ich die größte Schwierigkeit, die Kranken zum Verbleiben zu
    bewegen; diese Schwierigkeit hat sich längst verschoben, ich muß jetzt
    ängstlich bemüht sein, sie auch zum Aufhören zu nötigen.

    Die Abkürzung der analytischen Kur bleibt ein berechtigter Wunsch,
    dessen Erfüllung, wie wir hören werden, auf verschiedenen Wegen ange-
    strebt wird. Es steht ihr leider ein sehr bedeutsames Moment entgegen,
    die Langsamkeit, mit der sich tiefgreifende seelische Veränderungen voll-
    ziehen, in letzter Linie wohl die „Zeitlosigkeit“ unserer unbewußten
    Vorgänge. Wenn die Kranken vor die Schwierigkeit des großen Zeit-
    aufwandes für die Analyse gestellt werden, so wissen sie nicht selten ein
    gewisses Auskunftsmittel vorzuschlagen. Sie teilen ihre Beschwerden in
    solche ein, die sie als unerträglich, und andere, die sie als nebensächlich
    beschreiben, und sagen: Wenn Sie mich nur von dem Einen (z. B. dem
    Kopfschmerz, der bestimmten Angst) befreien, mit dem anderen will ich
    schon selbst im Leben fertig werden, Sie überschätzen aber dabei die
    elektive Macht der Analyse. Gewiß vermag der analytische Arzt viel,
    aber er kann nicht genau bestimmen, was er zu stande bringen wird. Er
    leitet einen Prozeß ein, den der Auflösung der bestehenden Verdrängungen,
    er kann ihn überwachen, fördern, Hindernisse aus dem Wege räumen,
    gewiß auch viel an ihm verderben. Im ganzen aber geht der einmal ein-
    geleitete Prozeß seinen eigenen Weg und läßt sich weder seine Richtung
    noch die Reihenfolge der Punkte, die er angreift, vorschreiben. Mit der
    Macht des Analytikers über die Krankheitserscheinungen steht es also
    ungefähr so wie mit der männlichen Potenz. Der kräftigste Mann kann
    zwar ein ganzes Kind zeugen, aber nicht im weiblichen Organismus einen
    Kopf allein, einen Arm oder ein Bein entstehen lassen; er kann nicht
    einmal fiber das Geschlecht des Kindes bestimmen. Er leitet eben auch
    nur einen höchst verwickelten und durch alte Geschehnisse determinierten
    Prozeß ein, der mit der Lösung des Kindes von der Mutter endet. Auch
    die Neurose eines Menschen besitzt die Charaktere eines Organismus,
    ihre Teilerscheinungen sind nicht unabhängig voneinander, sie bedingen
    einander, pflegen sich gegenseitig zu stiitzen; man leidet immer nur an
    einer Neurose, nicht an mehreren, die zufillig in einem Individuum zu-

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    8 Sigm. Freud.

    sammengetroffen sind. Der Kranke, den man nach seinem Wunsch von
    dem einen unertriglichen Symptom befreit hat, könnte leicht die Erfahrung
    machen, daß nun ein bisher mildes Symptom sich zur Unertråglichkeit
    steigert. Wer überhaupt den Erfolg von seinen suggestiven (d. h. Uber-
    tragungs-) Bedingungen möglichst ablösen will, der tut gut daran, auch
    auf die Spuren elektiver Beeinflussung des Heilerfolges, die dem Arzte
    etwa zustehen, zu verzichten. Dem Psychoanalytiker miissen diejenigen
    Patienten die liebsten sein, welche die volle Gesundheit, soweit sie zu
    haben ist, von ihm fordern, und ihm so viel Zeit zur Verfügung stellen,
    als der Prozeß der Herstellung verbraucht. Natürlich sind so günstige
    Bedingungen nur in wenig Fållen zu erwarten.

    Der nächste Punkt, über den zu Beginn einer Kur entschieden werden
    soll, ist das Geld, das Honorar des Arztes. Der Analytiker stellt nicht
    in Abrede, daß Geld in erster Linie als Mittel zur Selbsterhaltung und
    Machtgewinnung zu betrachten ist, aber er behauptet, daß mächtige
    sexuelle Faktoren an der Schåtzung des Geldes mitbeteiligt sind. Er
    kann sich dann darauf berufen, daß Geldangelegenheiten von den Kultur-
    menschen in ganz åhnlicher Weise behandelt werden wie sexuelle Dinge,
    mit derselben Zwiespältigkeit, Prüderie und Heuchelei. Er ist also von
    vornherein entschlossen, dabei nicht mitzutun, sondern Geldbeziehungen mit
    der nåmlichen selbstverståndlichen Aufrichtigkeit vor dem Patienten zu
    behandeln, zu der er ihn in Sachen des Sexuallebens erziehen will. Er
    beweist ihm, daf er selbst eine falsche Scham abgelegt hat, indem er
    unaufgefordert mitteilt, wie er seine Zeit einschåtzt. Menschliche Klugheit
    gebietet dann, nicht große Summen zusammenkommen zu lassen, sondern
    nach kürzeren regelmäßigen Zeiträumen (etwa monatlich) Zahlung zu
    nehmen. (Man erhöht, wie bekannt, die Schätzung der Behandlung beim
    Patienten nicht, wenn man sie sehr wohlfeil gibt.) Das ist, wie man
    weiß, nicht die gewöhnliche Praxis des Nervenarztes oder des Internisten
    in unserer europäischen Gesellschaft. Aber der Psychoanalytiker darf
    sich in die Lage des Chirurgen versetzen, der aufrichtig und kostspielig
    ist, weil er über Behandlungen verfügt, welche helfen können. Ich meine,
    es ist doch würdiger und ethisch unbedenklicher, sich zu seinen wirklichen
    Ansprüchen und Bedürfnissen zu bekennen, als, wie es jetzt noch unter
    Ärzten gebräuchlich ist, den uneigennützigen Menschenfreund zu agieren,
    dessen Situation einem doch versagt ist, und sich dafür im Stillen über
    die Rücksichtslosigkeit und die Ausbeutungssucht der Patienten zu
    grämen oder laut darüber zu schimpfen. Der Analytiker wird für seinen
    Anspruch auf Bezahlung noch geltend machen, daß er bei schwerer
    Arbeit nie so viel erwerben kann wie andere medizinische Spezialisten.

    Aus denselben Gründen wird er es auch ablehnen dürfen, ohne
    Honorar zu behandeln, und auch zu Gunsten der Kollegen oder ihrer
    Angehörigen keine Ausnahme machen. Die letzte Forderung scheint

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    Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse. 9

    gegen die ärztliche Kollegialitit zu verstoßen; man halte sich aber vor,
    daß eine Gratisbehandlung für den Psychoanalytiker weit mehr bedeutet
    als fiir jeden anderen, nämlich die Entziehung eines ansehnlichen Bruch-
    teils seiner für den Erwerb verfügbaren Arbeitszeit (eines Achtels,
    Siebentels u. dgl.) auf die Dauer von vielen Monaten. Eine gleichzeitige
    zweite Gratisbehandlung raubt ihm bereits ein Viertel oder Drittel seiner
    Erwerbsfähigkeit, was der Wirkung eines schweren traumatischen Unfalls
    gleichzusetzen wäre.

    Es fragt sich dann, ob der Vorteil für den Kranken das Opfer des
    Arztes einigermaßen aufwiegt. Ich darf mir wohl ein Urteil darüber zu-
    trauen, denn ich habe durch etwa zehn Jahre täglich eine Stunde, zeit-
    weise auch zwei, Gratisbehandlungen gewidmet, weil ich zum Zwecke
    der Orientierung in der Neurose möglichst widerstandsfrei arbeiten
    wollte, Ich fand dabei die Vorteile nicht, die ich suchte. Manche der
    Widerstände des Neurotikers werden durch die Gratisbehandlung enorm
    gesteigert, so beim jungen Weib die Versuchung, die in der Übertragungs-
    beziehung enthalten ist, beim jungen Mann das aus dem Vaterkomplex
    stammende Sträuben gegen die Verpflichtung von Dankbarkeit, das zu
    den widrigsten Erschwerungen der ärztlichen Hilfeleistung gehört. Der
    Wegfall der Regulierung, die doch durch die Bezahlung an den Arzt
    gegeben ist, macht sich sehr peinlich fühlbar; das ganze Verhältnis rückt
    aus der realen Welt heraus; ein gutes Motiv, die Beendigung der Kur
    anzustreben, wird dem Patienten entzogen.

    Man kann der asketischen Verdammung des Geldes ganz ferne stehen
    und darf es doch bedauern, daß die analytische Therapie aus äußeren
    wie aus inneren Gründen den Armen fast unzugänglich ist. Es ist wenig
    dagegen zu tun. Vielleicht hat die viel verbreitete Behauptung recht,
    daß der weniger leicht der Neurose verfällt, wer durch die Not des
    Lebens zu harter Arbeit gezwungen ist. Aber ganz unbestreitbar steht
    die andere Erfahrung da, daß der Arme, der einmal eine Neurose zu stande
    gebracht hat, sich dieselbe nur sehr schwer entreißen läßt. Sie leistet
    ihm zu gute Dienste im Kampfe um die Selbstbehauptung, der sekundäre
    Krankheitsgewinn, den sie ihm bringt, ist allzu bedeutend. Das Erbarmen,
    daß die Menschen seiner materiellen Not versagt haben, beansprucht
    er jetzt unter dem Titel seiner Neurose und kann sich von der Forderung,
    seine Armut durch Arbeit zu bekämpfen, selbst freisprechen. Wer die
    Neurose eines Armen mit den Mitteln der Psychotherapie angreift, macht
    also in der Regel die Erfahrung, daß in diesem Falle eigentlich eine
    Aktualtherapie ganz anderer Art von ihm gefordert wird, eine Therapie,
    wie sie nach der bei uns heimischen Sage Kaiser Josef II. zu üben pflegte.
    Natürlich findet man doch gelegentlich wertvolle und ohne ihre Schuld
    hilflose Menschen, bei denen die unentgeltliche Behandlung nicht auf
    die angeführten Hindernisse stößt und schöne Erfolge erzielt.

  • S.

    10 Sigmund Freud.

    Für den Mittelstand ist der fiir die Psychoanalyse benötigte Geld-
    aufwand nur scheinbar ein übermäßiger. Ganz abgesehen davon, daß
    Gesundheit und Leistungsfihigkeit einerseits, ein mäßiger Geldaufwand
    anderseits überhaupt inkommensurabel sind; wenn man die nie auf-
    hôrenden Ausgaben für Sanatorien und ärztliche Behandlung zusammen-
    rechnet und ihnen die Steigerung der Leistungs- und Erwerbsfihigkeit
    nach glücklich beendeter analytischer Kur gegentiberstellt, darf man sagen,
    daß die Kranken einen guten Handel gemacht haben. Es ist nichts Kost-
    spieligeres im Leben als die Krankheit und — die Dummheit,

    Ehe ich diese Bemerkungen zur Einleitung der analytischen Behandlung
    beschlieBe, noch ein Wort über ein gewisses Zeremoniell der Situation,
    in welcher die Kur ausgeführt wird, Ich halte an dem Rate fest, den
    Kranken auf einem Ruhebett lagern zu lassen, wåhrend man hinter ihm,
    von ihm ungesehen, Platz nimmt. Diese Veranstaltung hat einen historischen
    Sinn, sie ist der Rest der hypnotischen Behandlung, aus welcher sich
    die Psychoanalyse entwickelt hat. Sie verdient aber aus mehrfachen
    Griinden festgehalten zu werden. Zunächst wegen eines persönlichen
    Motivs, das aber andere mit mir teilen mögen. Ich vertrage es nicht,
    acht Stunden täglich (oder linger) von anderen angestarrt zu werden. Da
    ich mich während des Zuhórens selbst dem Ablauf meiner unbewuften
    Gedanken tiberlasse, will ich nicht, daß meine Mienen dem Patienten
    Stoff zu Deutungen geben oder ihn in seinen Mitteilungen beeinflussen.
    Der Patient faßt die ihm aufgezwungene Situation gewöhnlich als Ent-
    behrung auf und sträubt sich gegen sie, besonders wenn der Schautrieb
    (das Voyeurtum) in seiner Neurose eine bedeutende Rolle spielt. Ich
    beharre aber auf dieser Mafregel, welche die Absicht und den Erfolg hat,
    die unmerkliche Vermengung der Übertragung mit den Einfållen des
    Patienten zu verhtiten, die Übertragung zu isolieren und sie zur Zeit als
    Widerstand scharf umschrieben hervortreten zu lassen. Ich weiß, daß
    viele Analytiker es anders machen, aber ich weif nicht, ob die Sucht
    es anders zu machen oder ob ein Vorteil, den sie dabei gefunden haben,
    mehr Anteil an ihrer Abweichung hat.

    Wenn nun die Bedingungen der Kur in solcher Weise geregelt sind,
    erhebt sich die Frage, an welchem Punkte und mit welchem Material
    soll man die Behandlung beginnen? (Wird fortgesetzt.)