Zur psychoanalytischen Bewegung [Juli 1913] 1913-768/1913
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    Zur psychoanalytischen Bewegung.

    „The Lancet“ über die Traumdeutung: Dr. William Brown,
    Leiter der psychologischen Abteilung in King's College, London, hielt im
    Frühjahr in der ,Listerian Society of King's College Hospital“ einen Vortrag
    über ,Freud's Theory of Dreams, der in „The Lancet“ vom 19. April
    (p. 1114) und 26. (p. 1182) d. J. abgedruckt ist. Brown anerkennt die
    Bedeutung der Traumlehre, bringt Beispiele von Traumdeutungen und erklärt
    Art und Ergebnisse der Traumanalyse. Er glaubt aber den Satz nicht unter-
    stützen zu können, da die Wunscherfüllung das Motiv alles Träumens sei :
    Furcht, Eitelkeit, Ekel seien ebenso urspriingliche Affekte wie das Wiinschen
    und kämen in Träumen überall vor, wo sie aus dem BewuBten ins Unbewußte
    verdrängt wurden. Um seine Behauptung zu stützen, führt er ein Bruchstiick
    aus einem längeren Angsttraum an, ohne aber den latenten Inhalt des Traumes
    mitzuteilen. Einen großen Teil der Sexuallehre Freuds nimmt Brown an
    und fügt hinzu, Freud habe fiir die Psychologie so außerordentlich Wichtiges
    geleistet, daß nur eine durch Vorurteile verblendete Wissenschaft seine großen
    Verdienste in Abrede stellen könne.

    In der Nummer vom 10. Mai 1913 (p. 1327) der führenden englischen

    Zeitschrift wird das Thema in einem Leitartikel neuerdings aufgegriffen. Es
    wird hervorgehoben, daß der Enthusiasmus Freuds sich ansteckend erwiesen
    habe und mit Recht, da sein Werk einen enormen Fortschritt in der Psycho-
    logie bedeute, insbesondere die Traumdeutung. Kein Widerstand könne auf
    die Dauer den bleibenden Wert von Freuds Leistung leugnen. Man könne
    übrigens die Traumdeutung voll akzeptieren, ohne die ganze übrige Freud-
    sche Lehre anerkennen zu müssen. In der Frage der Rolle der Symbolik
    kann sich „The Lancet“ noch nicht entscheiden. Die Symbole seien bei ver-
    schiedenen Rassen, Völkern und auch einzelnen Personen verschieden, so daß
    es kein allgemeines Kriterium gebe. (Nach einem Bericht von Dr. M. D. Eder,
    London.) «
    In derselben Nummer des „Lancet“ (10. Mai, p. 1345) unterzieht sich
    Dr. Eder der dankenswerten Aufgabe, in einem offenen Brief an den Heraus-
    geber einige auf Grund des Brownschen Vortrages naheliegende Mißverständ-
    nisse aufzuklären.

    Im „British Journal of Psychology“ Juni 1913 findet sich auf der
    letzten Seite folgende Notiz: „Proceedings of the British Psychological Society.
    March 8, 1913: The Psychological System of Sigm. Freud, as set forth in
    Chap. VII. of the ‚Traumdeutung‘, by W. Brown. — The Analysis of some
    personal Dreams, with special Reference to Freud's Interpretation, by T.
    H. Pear.“

    1) Die Psychoanalyse findet im Gegenteil die größte Uniformität in der Symbolik,
    wy ja eben auf dieser empirisch gefundenen Übereinstimmung ruht. (Anmkg.

    ③ ③

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    Zur psychoanalytischen Bewegung. 417

    L'Encéphale, das offizielle Organ der Société de Psychiatrie de Paris“
    bringt in den letzten Nummern (vol. VIII, Nr. ④ u. f, April usw. 1913)
    als „Travail de la Clinique Psychiatrique de Bordeaux“ eine von Prof, E. Régis
    und seinem Assistenten Dr. A. Hesnard verfaßte großzügige und systematische
    Darstellung der Psychoanalyse unter dem Titel: ,La doctrine de Freud
    et son école“. (Die bis jetzt erschienenen zwei Artikel, die fortgesetzt
    werden, umfassen bereits 60 Seiten.) r

    Dr. van Ophuijsen (Haag) hielt auf Einladung des Vereines fiir
    psychische Forschung in Helsingfors am 21., 23. und 25. April d. J. in der
    Aula. der Universität drei Vorträge über Psychoanalyse und vorher (am
    13. April) dortselbst einen öffentlichen Vortrag über den Traum. Der Besach
    der Vorträge war — nach einem Bericht van Ophuijsens — befriedigend
    und das Interesse für die Psychoanalyse groß.

    Am 26, April sprach Dr. van Ophuijsen in der Sitzung des Vereines
    der Finnischen Ärzte über die Entwicklung der Psychoanalyse. In der Dis-
    kussion hob der Professor der Psychiatrie Sibelius die Bedeutung der Psycho-
    analyse als Versuch einer Individualpsychologie hervor, Auch zeigte er Inter-
    esse an der Bedeutung der Psychoanalyse für die Erforschung und Behandlung
    der Dementia praecox.

    Am 7. Mai sprach van Ophuijsen auf Einladung des Bildungs-
    vereines der deutschen Kolonie in St. Petersburg in einer kleinen Versammlung
    von Professoren, Ärzten und namentlich Pädagogen über den Heilungsvorgang der
    Neurose, Hier zeigte sich großes Interesse und viel Verständnis in der Diskussion.

    In der Irrenanstalt Udelnaja bei Petersburg wohnte Dr. van Ophuijsen
    einer Versammlung von Psychiatern und Psychologen bei, in der ein Professor
    der Experimentalpsychologie über die Psychoanalyse und ein Militårarzt über
    die Tatbestandsdiagnostik sprach. Vorsitzender war Dr. A. Timofeéff, Di-
    rektor der Anstalt.

    Der ebenfalls anwesende bekannte Physiologe Prof. Pawlow zeigte
    großes Interesse fir die Psychoanalyse und meinte, einige von Freuds Be-
    hauptungen in den „fünf Vorlesungen“ experimentell beweisen zu können.

    Schließlich entnehmen wir dem Bericht van Ophuijsens, daß kürzlich an
    der Universität Leiden ein Mitglied einer alten hochadeligen Familie auf Java
    die goldene Medaille für eine Preisarbeit gewann und seine Promotion zum
    Doct. litt. oriental. cum laude machte, These Nr. XXX seiner Dissertation lautete :
    „Die Einsicht in viele Phänomene auf dem Gebiete der Ethnologie wird durch die
    psychoanalytische Theorie (s. die Aufsätze Freuds in „Imago“) erleichtert.“

    Im ärztlichen Verein München sprach in der Sitzung vom
    29. Januar 1913 Dr, L. Seif „Über neue Wege der Neurosenforschung und
    -behandlung“, wobei die Psychoanalyse im Mittelpunkt des Vortrages und der
    Diskussion stand (Bericht in Miinch.-Med. Wochenschr. 1913, Nr, 22, 3. Juni,
    S. 1233).

    Dr. Eduard Hitschmann sprach am 20. Juni im Rahmen eines von
    der „Vereinigung Wiener Mediziner“ veranstalteten Vortragszyklus vor einem
    zahlreichen Auditorium von Ärzten und Studenten über die „Psychoanalyse
    in der praktischen Medizin“,

    Im Frühjahr d. J. hielt im , Neuphilologischen Verein“ an der Wiener
    Universität Prof. Dr. Rudolf Standenath (Teschen) einen Vortrag: „Über
    Mirchenforschung mit besonderer Berücksichtigung der
    Theorien der Freudschen Schule“.

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    Zeitschr, f. úrztl. Psychoanalyse, 27

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    418 Zur psychoanalytischen Bewegung.

    Freuds „Traumdeutung“ (3. Aufl.) ist unter dem Titel „The Inter-
    pretation of Dreams" von Dr. A. A. Brill (New York) ins Englische
    übersetzt worden und kürzlich im Verlag G. Allen & Co., Ltd., London, er-
    schienen.

    . A Freuds kleine Schrift „Uber den Traum“ erschien in hollündischer
    Übersetzung von Dr. J. Stärcke (Amsterdam). (Verlag S. C. van Doesburgh,
    Leiden 1913.)

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    Das Juniheft von „Imago“ hat folgenden Inhalt: Prof. S. Freud: Das
    Motiv der Kästchenwahl. — Dr. Otto Rank: Die Nacktheit in Sage und
    Dichtung I. — Dr. Hanns Sachs: Die Motivgestaltung bei Schnitzler. —
    Dr. Theodor Reik: Die ,Allmacht der Gedanken“ bei Artur Schnitzler.
    ~~~ Dr. J. Sadger: Über das Unbewufte und die Träume bei Hebbel.