Zur sexuellen Aufklärung der Kinder 1907-003/1907.1
  • S.

    360

    100000 in gleichen Industrien beschäftigten Gehilfen hingegen
    596; bei den selbständigen Kaufleuten sinkt die Zahl auf 280,
    während sie bei den Handlungsgehilfen wieder auf 343 ansteigt,

    Den Grund und die Ursachen jener Zustände und Neben-
    umstände zu prüfen, welche in Budapest, ähnlich anderen Groß-
    städten, die hohe Tuberkuloserkrankung unter der industriellen
    Bevölkerung verursacht, und welche ganz besonders hohe Werte
    zeigen bei einzelnen Gewerben, ist einer anderen Arbeit vor-
    behalten.*

    * FRIEDRICH, »Die Ursachen der Tuberkulose bei der industriellen Be-
    vülkerung Budapests«. Zeitschrift für Tuberkulose, 1906, Bd. X, Ней 2.

    Zur sexuellen Aufklirung der Kinder.
    Offener Brief an Dr. M. Fürst.

    Von

    Prof. Dr. Sram. Frrup-Wien.

    Geehrter Herr Kollege!

    Wenn Sie von mir eine Äußerung über die »sexuelle Auf-
    klärung der Kinder« verlangen, so nehme ich an, daß Sie keine
    regelrechte und förmliche Abhandlung mit Berücksichtigung der
    ganzen, über Gebühr angewachsenen Literatur, erwarten, sondern
    das selbständige Urteil eines einzelnen Arztes hören wollen, dem
    seine Berufstätigkeit besondere Anregung geboten hat, sich mit
    den sexuellen Problemen zu beschäftigen. Ich weiß, daß Sie
    meine wissenschaftlichen Bemühungen mit Interesse verfolgt
    haben und mich nicht wie viele andere Kollegen darum ohne
    Prüfung abweisen, weil ich in der psychosexuellen Konstitution
    und in Schädlichkeiten des Sexuallebens die wichtigsten Ursachen
    der so häufigen neurotischen Erkrankungen erblicke; auch meine
    »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, in denen ich die Zu-
    sammensetzung des Geschlechtstriebes und die Störungen in der
    Entwicklung des Geschlechtstriebes zur Sexualfunktion darlege,
    haben kürzlich eine freundliche Erwähnung in Ihrer Zeitschrift

    gefunden.

  • S.

    361

    Ich soll Ihnen also die Fragen beantworten, ob man den
    Kindern überhaupt Aufklirungen über die Tatsachen des Ge-
    schlechtslebens geben darf, in welchem Alter dies geschehen kann
    und in welcher Weise. Nehmen Sie nun gleich zu Anfang mein
    Geständnis entgegen, daß ich eine Diskussion über den zweiten
    und dritten Punkt ganz begreiflich finde, daß es aber für meine
    Einsicht völlig unfaßbar ist, wie der erste dieser Fragepunkte ein
    Gegenstand von Meinungsverschiedenheit werden konnte. Was
    will man denn erreichen, wenn man den Kindern — oder sagen
    wir der Jugend solche Aufklärungen über das menschliche Ge-
    schlechtsleben vorenthält? Fürchtet man, ihr Interesse für diese
    Dinge vorzeitig zu wecken, ehe es sich in ihnen selbst regt?
    Hofft man, durch solche Verhehlung den Geschlechtstrieb über-
    haupt zurückzuhalten bis zur Zeit, da er in die ihm von der
    bürgerlichen Gesellschaftsordnung allein geöffneten Bahnen ein-
    lenken kann? Meint man, daß die Kinder für die "Tatsachen
    und Rätsel des Geschlechtslebens kein Interesse oder kein Ver-
    ständnis zeigten, wenn sie nicht von fremder Seite darauf hin-
    gewiesen würden? Halt man es für möglich, daß ihnen die
    Kenntnis, welche man ihnen versagt, nicht auf anderen Wegen
    zugeführt wird? Oder verfolgt man wirklich und ernsthaft die
    Absicht, daß sie späterhin alles Geschlechtliche als etwas Niedriges
    und Verabscheuenswertes beurteilen mögen, von dem ihre Eltern
    und Erzieher sie so lange als möglich fernhalten wollten?

    Ich weiß wirklich nicht, in welcher dieser Absichten ich das
    Motiv für das tatsächlich geübte Verstecken des Sexuellen vor
    den Kindern erblicken soll; ich weiß nur, daß sie alle gleich
    töricht sind, und daß es mir schwer fällt, sie durch ernsthafte
    Widerlegungen auszuzeichnen. Ich erinnere mich aber, daß ich
    in den Familienbriefen des großen Denkers und Menschenfreundes
    MurrtATULI einige Zeilen gefunden habe, die als Antwort mehr
    als bloß genügen können.! R

    »Im allgemeinen werden einzelne Dinge nach meinem
    Gefühl zu sehr wmschleiert. Man tut recht, die Phantasie
    der Kinder reinzuhalten, aber diese Reinheit wird nicht bewahrt
    durch Unwissenheit. Ich glaube eher, daß das Verdecken von
    etwas den Knaben und das Mädchen umsomehr die Wahrheit
    argwôhnen läßt. Man spürt aus Neugierde Dingen nach,

    1 MurTATULI-Briefe, herausgegeben von W. SPOHR, 1906, I. Band, S. 26,

  • S.

    362

    die uns, wenn sie uns ohne viel Umstinde mitgeteilt wiirden,
    wenig oder kein Interesse einflößen würden, Wäre diese Unwissen-
    heit noch zu bewahren, so könnte ich mich damit versöhnen,
    aber das ist nicht möglich; das Kind kommt in Berührung mit
    andern Kindern, es bekommt Bücher in die Hände, die es zum
    Nachdenken bringen; gerade die Geheimtuerei, womit das dennoch
    Begriffene von den Eltern behandelt wird, erhöht das Verlangen,
    mehr zu wissen. Dieses Verlangen, nur zum Teil, nur heimlich
    befriedigt, erhitzt das Herz und verdirbt die Phantasie, das Kind
    sündigt bereits, und die Eltern meinen noch, daß es nicht weiß,
    was Sünde ist.«

    Ich weiß nicht, was man hierüber besseres sagen könnte,
    aber vielleicht 1äßt sich einiges hinzufügen. Es ist gewiß nichts
    anderes als die gewohnte Prüderie und das eigene schlechte Ge-
    wissen in Sachen der Sexualität, was die Erwachsenen zur
    »Geheimtuerei« vor den Kindern veranlaßt; aber möglicherweise
    wirkt da auch ein Stück theoretischer Unwissenheit mit, dem man
    durch die Aufklärung der Erwachsenen entgegentreten kann.
    Man meint nämlich, daß den Kindern der Geschlechtstrieb fehle
    und sich erst zur Pubertätszeit mit der Reife der Geschlechts-
    organe bei ihnen einstelle. Das ist ein grober, für die Erkenntnis
    wie für die Praxis folgenschwerer Irrtum. Is ist so leicht, ihn
    durch die Beobachtung zu korrigieren, daß man sich verwundern
    muß, wie er überhaupt entstehen konnte, In Wahrheit bringt
    das Neugeborene Sexualität mit auf die Welt, gewisse Sexual-
    empfindungen begleiten seine Entwicklung durch die Säuglings-
    und Kinderzeiten, und die wenigsten Kinder dürften sexuellen
    Betitigungen und Empfindungen vor ihrer Pubertät entgehen.
    Wer die ausführliche Darlegung dieser Behauptungen kennen
    lernen will, môge sie in meinen erwähnten »Drei Abhandlungen
    zur Sexualtheorie, Wien 1905« aufsuchen. Er wird dort erfahren,
    daß die eigentlichen Reproduktionsorgane nicht die einzigen
    Körperteile sind, welche sexuelle Lustempfindungen vermitteln,
    und daß die Natur es recht zwingend so eingerichtet hat, daß
    selbst Reizungen der Genitalien während der Kinderzeit unver-
    meidlich sind. Man bezeichnet diese Lebenszeit, in welcher durch
    die Erregung verschiedener Hautstellen (erogener Zonen), durch
    die Betätigung gewisser biologischer Triebe und als Miterregung
    bei vielen affektiven Zustinden ein gewisser Betrag von sicher
    sexueller Lust erzeugt wird, mit einem von Havrroox Eris ein-

  • S.

    363

    geführten Ausdruck als die Periode des Autoerotismus. Die
    Pubertät leistet nichts anderes, als daß sie unter allen lust
    erzeugenden Zonen und Quellen den Genitalien das Primat ver-
    schafft und dadurch die Erotik in den Dienst der Fortpflanzungs-
    funktion zwingt, ein Prozeß, der natürlich gewissen Hemmungen
    unterliegen kann und sich bei vielen Personen, den späteren
    Perversen und Neurotikern, nur in unvollkommener Weise voll-
    zieht. Anderseits ist das Kind der meisten psychischen Leistungen
    des Liebeslebens (der Zärtlichkeit, der Hingebung, der Eifersucht)
    lange vor erreichter Pubertät fähig, und oft genug stellt sich
    auch der Durchbruch dieser seelischen Zustände zu den körper-
    lichen Empfindungen der Sexualerregung her, so daß das Kind
    über die Zusammengehörigkeit der beiden nicht im Zweifel
    bleiben kann. Kurz gesagt, das Kind ist lange vor der Pubertät
    ein bis auf die Fortpflanzungsfähigkeit fertiges Liebeswesen, und
    man darf es aussprechen, daß man ihm mit jener »Geheim-
    tuerei« nur die Fähigkeit zur intellektuellen Bewältigung solcher
    Leistungen vorenthält, für die es psychisch vorbereitet und
    somatisch eingestellt ist.

    Das intellektuelle Interesse des Kindes für die Rätsel des
    Geschlechtslebens, seine sexuelle WiBbegierde, äußert sich denn
    auch zu einer unvermutet frühen Lebenszeit. Es muß wohl so
    zugehen, daß die Eltern für dieses Interesse des Kindes wie mit
    Blindheit geschlagen sind oder sich sofort bemühen, es zu er-
    sticken, falls sie es nicht übersehen können, wenn Beobachtungen
    wie die nun mitzuteilende nicht häufiger gemacht werden können.
    Ich kenne da einen prächtigen Jungen von jetzt vier Jahren, dessen
    verständige Eltern darauf verzichten, ein Stück der Entwicklung
    des Kindes gewaltsam zu unterdrücken. Der kleine Herbert, der
    sicherlich keinem verführenden Einfluß von seiten einer Warte-
    person unterlegen ist, zeigt schon seit einiger Zeit das lebhafteste
    Interesse für jenes Stück seines Körpers, das er als »Wiwimacher«
    zu bezeichnen pflegt. Schon mit drei Jahren hat er die Mutter
    gefragt: »Mama, hast du auch einen Wiwimacher?« Worauf
    die Mama geantwortet: »Natürlich, was hast du denn gedacht? «
    Dieselbe Frage hat er zu wiederholten Malen an den Vater ge
    richtet. Im selben Alter zuerst in einen Stall geführt, hat er
    beim Melken einer Kuh zugeschaut und dann verwundert aus-
    gerufen: »Schau, aus dem Wiwimacher kommt Mileh.« Mit
    3% Jahren ist er auf dem Wege, durch seine Beobachtungen

  • S.

    364

    selbständig richtige Kategorien zu entdecken. Er sieht, wie aus
    einer Lokomotive Wasser ausgelassen wird und sagt: »Schau, die
    Lokomotive macht Wiwi; wo hat sie denn den Wiwimacher ?«
    Später setzt er nachdenklich hinzu: »Ein Hund und ein Pferd hat
    einen Wiwimacher; ein Tisch und ein Sessel nicht.« Vor kurzem
    hat er zugesehen, wie man sein einwóchentliches Schwesterchen
    badet und dabei bemerkt: »Aber ihr Wiwimacher ist noch klein.
    Wenn sie wächst, wird er schon größer werden.« (Dieselbe Stellung
    zum Problem der Geschlechtsunterschiede ist mir auch von an-
    deren Knaben gleichen Alters berichtet worden.) Ich möchte aus-
    drücklich bestreiten, daß der kleine Herbert ein sinnliches oder
    gar ein pathologisch veranlagtes Kind sei; ich meine nur, er ist
    nicht eingeschüchtert worden, wird nicht vom Schuldbewußtsein
    geplagt und gibt darum arglos von seinen Denkvorgängen Kunde.

    Das zweite große Problem, welches dem Denken der Kinder
    — wohl erst in etwas späteren Jahren — Aufgaben stellt, ist
    die Frage nach der Herkunft der Kinder, die zumeist an die
    unerwünschte Erscheinung eines neuen kleinen Bruders oder
    Schwesterchens anknüpft. Es ist dies die älteste und die
    brennendste Frage der jungen Menschheit; wer Mythen und Über-
    lieferungen zu deuten versteht, kann sie aus dem Rätsel heraus-
    hören, welches die thebaische Sphinx dem Oedipus aufgibt.
    Durch die in der Kinderstube gebräuchlichen Antworten wird der
    ehrliche Forschertrieb des Kindes verletzt, meist auch dessen
    Vertrauen zu seinen Eltern zum ersten Male erschüttert; von da
    an beginnt es zumeist, den Erwachsenen zu mißtrauen und seine
    intimsten Interessen vor ihnen geheimzuhalten. Ein kleines
    Dokument mag zeigen, wie quälend sich gerade diese WiBbegierde
    oft bei älteren Kindern gestaltet, der Brief eines mutterlosen,
    11'/sjihrigen Mädchens, welches über das Problem mit seiner
    jüngeren Schwester spekuliert hat:

    »Liebe Tante Malil«

    »Ich bitte Dich, sei so gut und schreib mir, wie Du die
    Christel oder den Paul bekommen hast. Du mußt es ja wissen,
    da Du verheiratet bist. Wir haben uns nämlich gestern abend
    darüber gestritten und wünschen die Wahrheit zu wissen. Wir
    haben ja sonst niemanden, den wir fragen könnten. Wann kommt
    Ihr denn nach Salzburg? Weißt Du, liebe Tante Mali, wir können
    halt nicht begreifen, wie der Storch die Kinder bringt. Trudel

  • S.

    365

    hat geglaubt, der Storch bringt sie im Hemd. Dann möchten
    wir auch wissen, ob er sie aus dem Teich nimmt und warum
    man die Kinder nie im Teich sieht. Ich bitte Dich, sag’ mir
    auch, wieso man vorher weiß, wann man sie bekommt. Schreib
    mir darüber ausführlich Antwort.

    Mit tausend Grüßen und Küssen von uns allen

    Deine neugierige Lilli.«

    Ich glaube nicht, daß dieser rührende Brief den beiden
    Schwestern die geforderte Aufklirung brachte. Die Schreiberin
    ist spiiter an jener Neurose erkrankt, die sich von unbeantworteten
    unbewuften Fragen ableitet, an Zwangsgrübelsucht.

    Ich glaube nicht, daß nur ein einziger Grund vorliegt, um
    Kindern die Aufklärung, nach der ihre Wifbegierde verlangt, zu
    verweigern. Freilich, wenn es die Absicht der Erzieher ist, die
    Fähigkeit der Kinder zum selbständigen Denken möglichst friih-
    zeitig zu Gunsten der so hoch geschätzten » Bravheit« zu ersticken,
    so kann dies nicht besser als durch Irreführung auf sexuellem
    und durch Einschiichterung auf religiósem Gebiete versucht
    werden. Die stärkeren Naturen widerstehen allerdings diesen
    Beeinflussungen und werden zu Rebellen gegen die elterliche und
    später gegen jede andere Autorität, Erhalten die Kinder jene
    Aufklärungen nicht, um die sie sich an Ältere gewendet haben,
    so quälen sie sich im Geheimen mit dem Problem weiter und
    bringen Lósungsversuche zustande, in denen das geahnte Richtige
    auf die merkwiirdigste Weise mit grotesk Unrichtigem vermengt
    ist, oder sie fliistern einander Mitteilungen zu, in welchen zufolge
    des Schuldbewufitseins der jugendlichen Forscher dem Sexual-
    leben das Gepräge des GräBlichen und Ekelhaften aufgedriickt
    wird. Diese kindlichen Sexualtheorien wären wohl einer Samm-
    lung und Würdigung wert. Meist haben die Kinder von diesem
    Zeitpunkt an die einzig richtige Stellung zu den Fragen des
    Geschlechts verloren, und viele unter ihnen finden sie tiberhaupt
    nicht wieder.

    Es scheint, daß die überwiegende Mehrheit männlicher und
    weiblicher Autoren, welche über die sexuelle Aufklärung: der
    Jugend geschrieben haben, sich im bejahenden Sinne entscheiden,
    Aber aus dem Ungeschick der meisten Vorschläge, wann und
    wie dies zu geschehen hat, ist man versucht zu schließen, daß
    dies Zugeständnis den Betreffenden nicht leicht geworden ist.

  • S.

    366

    Ganz vereinzelt steht nach meiner Literaturkenntnis jener reizende
    Aufklårungsbrief da, den eine Frau Emma Eckstein an ihren
    etwa zehnjührigen Sohn zu schreiben vorgibt. Wie man es sonst
    macht, daß man den Kindern die längste Zeit jede Kenntnis des
    Sexuellen vorenthålt, um ihnen dann einmal in schwiilstig-feier-
    lichen Worten eine auch nur halb aufrichtige Eröffnung zu
    schenken, die überdies meist zu spit kommt, das ist offenbar
    nicht ganz das Richtige. Die meisten Beantwortungen der Frage:
    »Wie sag's ich meinem Kinde?« machen mir wenigstens einen so
    kläglichen Eindruck, daß ich vorziehen würde, wenn die Eltern
    sich überhaupt nicht um die Aufklärung bekümmern würden.
    Es kommt vielmehr darauf an, daß die Kinder niemals auf die
    Idee geraten, man wolle ihnen aus den Tatsachen des Geschlechts-
    lebens eher ein Geheimnis machen, als aus anderem, was ihrem
    Verständnis noch nicht zugänglich ist. Und um dies zu erzielen,
    ist es erforderlich, daß das Geschlechtliche von allem Anfang an
    gleich wie anderes Wissenswerte behandelt werde. Vor allem ist
    es Aufgabe der Schule, der Erwähnung des Geschlechtlichen nicht
    auszuweichen, die großen "Tatsachen der Fortpflanzung beim
    Unterricht über die Tierwelt in ihre Bedeutung einzusetzen und
    sogleich zu betonen, daß der Mensch alles Wesentliche seiner
    Organisation mit den höheren Tieren teilt. Wenn dann das
    Haus nicht auf Denkabschreckung hinarbeitet, wird es sich wohl
    öfter ereignen, was ich einmal in einer Kinderstube belauscht
    habe, daß ein Knabe seinem jüngeren Schwesterchen vorhält:
    »Aber wie kannst Du denken, daß der Storch die kleinen Kinder
    bringt. Du weißt ja, daß der Mensch ein Süugetier ist, und
    glaubst Du denn, daß der Storch den anderen Säugetieren die
    Jungen bringt?« Die Neugierde des Kindes wird dann nie einen
    hohen Grad erreichen, wenn sie auf jeder Stufe des Lernens die
    entsprechende Befriedigung findet. Die Aufklärung über die
    spezifisch menschlichen Verhältnisse des Geschlechtslebens und
    der Hinweis auf die soziale Bedeutung desselben hätte sich dann
    am Schluß des Volksschulunterrichtes (und vor Eintritt in die
    Mittelschulen), also nicht nach dem Alter von zehn Jahren, an-
    zuschließen. Endlich würde sich der Zeitpunkt der Konfirmation
    wie kein anderer dazu eignen, dem bereits über alles Körperliche
    aufgeklärten Kinde die sittlichen Verpflichtungen, welche an die

    * E. EcksTEIN, Die Sexualfrage in der Erziehung des Kindes. 1904.

  • S.

    367

    Ausübung des Triebes geknüpft sind, darzulegen. Eine solche
    stufenweise fortschreitende und eigentlich zu keiner Zeit unter-
    brochene Aufklärung über das Geschlechtsleben, zu welcher die
    Schule die Initiative ergreift, erscheint mir als die einzige, welche
    der Entwicklung des Kindes Rechnung trägt und darum die vor-
    handene Gefahr glücklich vermeidet,

    Ich halte es für den bedeutsamsten Fortschritt in der Kinder-
    erziehung, daß der französische Staat an Stelle des Katechismus
    ein Elementarbuch eingeführt hat, welches dem Kind die ersten
    Kenntnisse seiner staatsbürgerliehen Stellung und der ihm der.
    einst zufallenden ethischen Pflichten vermittelt. Aber dieser
    Elementarunterricht ist in arger Weise unvollständig, wenn er
    nicht das Gebiet des Geschlechtslebens mit umschließt. Hier ist
    die Lücke, deren Ausfüllung Erzieher und Reformer in Angriff
    nehmen sollten! In Staaten, welche die Kindererziehung ganz
    oder teilweise in den Händen der Geistlichkeit belassen haben,
    " darf man allerdings solche Forderung nicht erheben. Der Geist-
    liche wird die Wesensgleichheit von Mensch und Tier nie zugeben,
    da er auf die unsterbliche Seele nicht verzichten kann, die er
    braucht, um die Moralforderung zu begründen. So bewährt es
    sich denn wieder einmal, wie unklug es ist, einem zerlumpten
    Rock einen einzigen seidenen Lappen aufzunähen, wie unmöglich
    es ist, eine vereinzelte Reform durchzuftihren, ohne an den Grund-
    lagen des Systems zu ändern!

    Aus gefebgebenden und verwaltenden Kirperfehaften.
    (Chronik der sozialen Hygiene.)

    I. Allgemeines, Anstalten, Seuchenbekåmpfung, Säuglingsfürsorge usw.
    a) Allgemeines.

    In den Hygienedebatten des Reichstages im April, auf die wir im
    folgenden noch verschiedentlich zurückkommen müssen, wurden auch die
    Anregungen Dr. Muapans hinsichtlicher der Schaffung einer Reichsmedizinal-
    ordnung und bezüglich einer anderweitigen Gestaltung des Reichsgesundheitsamts
    vom Staatssekretär des Innern beantwortet. Graf POSADOWSKY sagte: »Wenn
    man neben dem Reichsgesundheitsamt eine Instanz schaffen wollte, die gleich-
    zeitig diese Verwaltungsbefugnisse hätte, die Herr MUGDAN im Interesse einer
    wirksamen Bekämpfung der Krankheiten wünscht, so wire das meines Er-