Die Prozessualität von Text, also die Untersuchung und Darstellung der Textdynamik in seiner historischen Dimension steht im Fokus der historisch-kritischen Erschließung eines Werkes.
Liegen bei einem Werk mehrere autorisierte Manifestationen vor, werden diese nach definierten Richtlinien aufbereitet und dann einer Kollationierung (Textvergleich) unterzogen. 

Vorbereitung
In einem ersten Schritt wird von jeder Werkmanifestation eine diplomatische Umschrift angefertigt. 
Den Richtlinien entsprechend werden Satzzeichen typografisch richtig und damit einheitlich gesetzt, das betrifft vor allem die An- und Abführungszeichen, Klammern, die Markierung einer Silbentrennung am Zielende, Binde- und Gedankenstrich sowie das Apostroph.
Bei handschriftlichen Textzeugen sind alle Korrekturen (Einfügungen, Streichungen und Änderung der Wortfolge), die direkt in einer Druckvorstufe vorgenommen wurden, in der diplomatischen Umschrift dargestellt und damit auch als Binnenkorrekturen ausgewiesen. 
Für den Variantenvergleich werden diese diplomatischen Umschriften in einer bereits von den Korrekturen bereinigten Form herangezogen, also in der vom Autor gewünschte endgültige Textversion übernommen. Zudem sind die weichen Zeilenumbrüche und die Seitenumbrüche, aufgehoben, die Seitenzahlen gestrichen und die Fußnoten werden in fortlaufend nummerierte Endnoten umgewandelt. Der Text liegt dann als Fließtext vor.  

Konkordanz 
In einem nächsten Schritt werden alle für die Kollationierung relevanten Manifestationen eines Werkes in Hinblick auf die Absatzzählung synchronisiert. Im Zuge dieser Maßnahme wird eine Konkordanz zwischen den Absatznummern des konstituierten Textes und den Seitenzahlen der historischen Textquellen erstellt.

Kollationierung
Diese Editortexte werden in ein XML-Format transformiert und dann mit Hilfe einer eigens von uns für diese Edition entwickelte Variante von CollateX einer automatisierten Kollationierung unterzogen. 
Das Ergebnis liegt in einer Rohfassung tabellarisch vor, die weiter bearbeitet wird, um die Ergebnisse des Textvergleiches möglichst genau und vollständig aber in übersichtlicher Form darstellen zu können.

Der Variantenapparat ist mehrstufig angelegt:

Binnenkorrekturen bei Autografen

Liegen Druckvorstufen vor, so sind alle Korrekturen (Einfügungen, Streichungen und Änderung der Wortfolge), die direkt in einer Druckvorstufe vorgenommen wurden, in der diplomatischen Umschrift dargestellt und damit auch als Binnenkorrekturen ausgewiesen.

Synoptischer, vollständiger Variantenapparat in tabellarischer Form

Die Überlieferungsträger werden wie beschrieben einem automatisierten Variantenvergleich unterzogen. Das in einer ersten Rohfassung vorliegende Ergebnis erfordert eine genaue Prüfung, die zum Ziel hat, Fehler in den diplomatischen Umschriften, Fehlanzeigen der Kollationierung und Formatierungsprobleme, die bei der Textverarbeitung automatisiert nicht zu lösen waren, zu korrigieren.

In dieser Rohfassung ist buchstaben- und zeichengenau jede Differenz in einer eigen Zeile dargestellt, die zudem farblich markiert ist. Dabei ist man mit einer Überfülle von Textdifferenzen konfrontiert. Aber um das Ergebnis besser erfassen zu können, werden Differenzen in Orthografie und Zeichensetzungen mit geringerer Farbintensität (10%) farblich markiert als die die inhaltlichen Differenzen (100%). 
Werden Druckvorstufen in die Kollationierung mit einbezogen werden sie generell in einer spezifischen Farbintensität (50 %) präsentiert und alle Differenzen in Orthografie und Zeichensetzung, die sie ausschließlich von der gedruckten Erstausgabe unterschieden, in weißer Schrift präsentiert. Betreffen sie nicht nur Differenzen zwischen den Druckvorstufen und der Der Erstausgabe, werden sie behandelt wie die anderer Varianten auch. 
Schließlich werden noch Druckfehler im originalen Text gesondert farblich markiert. 
Um die Referenzierung jeder Textstelle in jeder Variante zu gewährleisten, wurden Absatznummerierungen bzw. Seitenzahlen bei jedem Absatz manuell in die tabellarische Darstellung eingespielt.
Um für die Gesamtausgaben der SFG und der GW den Variantenapparat mit zu erarbeiten, werden die Ausgaben dieser Edition in den Variantenvergleich manuell mit einbezogen.

Diese Form des Variantenapparates wird zur Zeit im editorischen Apparat des Werkes als Excel‑ und Numbers‑Format veröffentlicht.

Differenzen in der Hervorhebungen

Differenzen in der Hervorhebung werden im synoptischen, automatisiert generierten Variantenapparat nicht mit erfasst. Optional wird dies aus dem Word-Format der Textsammlungen zur Erstellung der Absatz- und Seitenkonkordanz in einem gesonderten Verfahren ermitteln und ausgewiesen.

Kuratierter Variantenapparat im konstituierten Text

Die im Gefolge der Kollationierung ermittelten inhaltlichen Differenzen werden direkt im konstituierten Text ausgewiesen. 
Mit dem Ziel, direkt im konstituierten Text auf Stellen hinzuweisen, die im Laufe des Bearbeitungsprozesses durch den Autors  inhaltliche Änderungen erfahren haben ohne die Lesbarkeit des Textes zu beinträchtigen, wurde folgendes Vorgehen gewählt:
Die betreffenden Textstellen sind im Text mittels sehr fein punktierter, hellgrauer Linie unterstrichen – nicht zu verwechseln mit einer Unterstreichung, die vom Autor intendiert ist.

Zusätzlich finden sich am rechten Rand die Siglen der Ausgaben, in denen Divergenzen zu verzeichnen waren, verbunden mit den den genauen Formulierungen der entsprechenden Stelle in den jeweiligen Ausgabe - synoptisch-tabellarisch dargestellt. 
Im editorischen Apparat ist dieser kuratierte Variantenapparat in toto aufrufbar.

Zur synoptisch-tabellarischen Darstellung des Variantenappartes.

Grundsätzlich können die Ergebnisse des Variantenvergleiches in jeder Form dargestellt werden. 
Klassische philologische Darstellungsweise sind der Einzelstellenapparat (lemmatisiert oder nicht lemmatisiert), der Stufenapparat, der Einblendungsapparat und der Synoptische Apparat – verortet in Fußnoten im Text oder getrennt vom Text.

Unser Ziel war, philologisch korrekt ein umfassendes, detailgenaues Ergebnis der Kollationierung zu gewinnen. Dieses wollten wir auf eine Weise generieren und abbilden, die sowohl für die Mitarbeiter der Edition, die aus unterschiedlichen Fachrichtungen kommen, leicht handhabbar bleibt, als auch für die Leserschaft ohne philologische Fachkenntnis weitgehend selbsterklärend ist. Um das Bewusstsein für die historisch-textgenetische Dimension eines Werkes mit möglichst geringem Aufwand zu befördern, sollte diese auch direkt im konstituierten Text repräsentiert sein, ohne dessen Funktion Leseausgabe zu stören. Das wollen wir mit der von uns entwickelten Form des kuratierten Variantenapparates erreichen. 
Für die Darstellung des gesamten Variantenapparates wählen wir den synoptischen Apparat und modifizierten ihn so, dass selbst bei vielen Textvarianten und zahllosen Textdifferenzen das Ergebnis der Kollationierung kompakt und auch für Laien weitgehend selbsterklärend vorliegt.

Aber natürlich können die Ergebnisse der Kollationierung weiter zusätzlich in allen anderen Formen dargestellt werden.

Christine Diercks, 2023-2025, zuletzt 2025-09-17