Zur Sammlung und Erschließung der Überlieferungsträger für diese historisch kritische Gesamtausgabe finden nicht nur die Methoden der klassischen Philologie Anwendung, sondern diese nützt auch das Potential der Digital Humanities. Die philologischen Richtlinien, nach denen die Texte strukturiert, aufbereitet und ediert werden, sind offengelegt. Die historischen Textträger liegen nach Möglichkeit vollständig als Faksimile und in diplomatischer Umschrift vor, so dass alle editorischen Eingriffe am Original überprüfbar sind.
1. Zur Objektivität und Subjektivität editorischer Entscheidungen
Bereits die Ordnung, in welcher eine Edition vorliegt, und welche Quellen aufgenommen werden, beruht auf einer Entscheidung. Wenn wir die Edition in Werke und Briefe gliedern, Werk-Kategorien einführen, Werk-Manifestation definieren und sie den entsprechenden Werken zuordnen, die Definition und Verwendung von Fachbegriffen, ob wir Zeugen als Entwurf oder Reinschrift benennen, eine Ausgabe letzter Hand als den letztgültigen Autowillen definieren, beruht dies auf Zuschreibungen der Herausgeber.
Das gilt umso mehr für die editorischen Richtlinien, nach denen die Zeugen aufgenommen und erschlossen werden, also auch für die Methoden, mit denen bei Textvarianten die Unterschiede erfasst und der Editionstext konstituiert werden, auf den sich der Variantenapparat bezieht.
Zeller bezeichnete die von ihm vorgefundenen Textträger als Befund und das Ergebnis von dessen editorsicher Erschließung als Deutung. Sein editorisches Prinzip der Trennung von „Befund und Deutung“ (Zeller 1971:51) wurde richtungsweisend. Für ihn liegt die editorische Aufgabe „in der Feststellung und Wiedergabe der autorisierten Fassungen (bzw. des möglichst autornahen Textes, wenn autorisierte Texte nicht existieren).“ (Zeller 1971:56)
Bei allem Bemühen um wissenschaftliche Objektivität findet bei allen editorischen Maßnahmen bereits auch Interpretation statt. Das gilt selbst für zeichen- und buchstabengetreue diplomatische Umschriften der Textzeugen und hier wieder in besonderem Maße für die Autografen. Zeller (1971:79) betont: „Nicht der Text der Handschrift, sondern die Handschrift selbst ist der Befund. Die Handschrift bedarf der Interpretation: das Ergebnis der Interpretation ist der Text. Diese Interpretation der Handschrift ist Textkonstituierung. […] Die Handschrift ist nicht der Text, sie enthält, die bedeutet den Text.“
In jedem Fall werden herausgeberische Entscheidungen in den philologischen Richtlinien genau definiert und damit kenntlich und nachprüfbar gemacht. (Zeller 171:48f)
Entscheidungen sind auch in Hinblick auf die Zeilenbindung zu treffen: Gedruckte Textträger werden in einem ersten Schritt diplomatisch zeilen- und seitengenau transkribiert, für die Referenzierung gilt weiter die entsprechende Signatur mit der entsprechenden Seitenzahl. Der konstituierte Text der Edition des Druckwerkes Freuds liegt jedoch als Fließtext vor. Wird ein Textträger Referenztext für einen konstituierten Editionstext, wird er in dieser Funktion daher als zeilenungebundene Texte geführt, Zeilen- und Seitenumbrüche sind aufgehoben, Fußnoten in Endnoten umgewandelt. Finden sich darin Verse, wird der Zeilenumbruch beibehalten. Referenzpunkt für die Zitation des konstituierten Textes ist in der Folge nicht mehr die Seitenzahl, sondern die Signatur, ergänzt von der Absatznummer, was eine formatunabhängige Referenzierung des Editionstextes erlaubt. Die Autografen (das von Freud nicht publizierten Schriften aus dem Nachlass und das Briefwerk) werden zeilen- und seitengenau transkribiert und in dieser Form auch im konstituierten Text belassen. Referenzpunkt für die Zitation des konstituierten Textes bleibt im Falle der Schriften aus dem Nachlass die Signatur, ergänzt von der Seitennummerierung. Bei den Briefen ist jedem Brief eine eigene Signatur zugeordnet.
2. Heuristik und Vollständigkeit in der Sammlung, Erfassung, Aufnahme und Wiedergabe des gesamten Materials, das von Sigmund Freud überliefert ist.
Die Erschließung des gesamten Textbestandes, die Definition und Zuordnung von Texten, erfolgt nach den Methoden der archivalischen Bestandsaufnahme, diese „haben unter der genannten Zielsetzung zugleich auch die Funktion heuristischer Methoden“ (Hurlebusch, K. 1971:402).
Beim von Freud selbst zum Druck gebrachten Werk werden auch alle Textzeugen, die bis zu seinem Tod entstanden sind, berücksichtigt, das umfasst jene, die direkt überliefert und autorisiert sind (bei einem wissenschaftlichen Werk sind das etwa Notizen, Entwürfe, Reinschriften und alle Ausgaben bis zur letzten zu Freuds Lebzeiten autorisierten Veröffentlichung), aber auch jene, die aus zweiter Hand stammen oder von denen wir nur wissen, von deren Inhalt aber nichts bekannt ist. Zur Edition zählen auch das gesamte Briefwerk, die Schriften aus dem Nachlass und die Miszellen, in gleicher Weise werden die Paralipomena erfasst.
3. Das Werk verstanden als „historischer“ Prozess
„Historisch“ zu bezeichnen sind Werkausgaben, „wenn in ihnen die Überlieferungs- und Entstehungsgeschichte(n) der Texte – jeweils aller Textzeugen eines Werkes – exakt dargestellt werden“. (Oellers 1993:232) Ein Werk „ist nicht etwas Statisches, es ist vielmehr ein historischer Prozess, in dessen Verlauf verschiedene Ergebnisse erzielt werden, die aber keineswegs für die Dauer fixiert sind oder fixiert sein müssen“. (Scheibe 1971:4) Es entwickelt sich in einer bestimmten Zeit und ist Spiegel dieser Zeit, in der es entstanden ist, aufeinanderfolgende Fassungen zeigen ein Werk in seiner für den jeweiligen Zeitpunkt gültigen Gestalt und in seinem spezifischen Kontext.
Diesen Entstehungs- und Entwicklungsprozess gilt es zu rekonstruieren, die Fassungen werden nach Möglichkeit in zweifacher Weise als Faksimile und in diplomatischer Umschrift publiziert und in die weitere Erschließung gleichberechtigt einbezogen.
4. Zum „kritischen“ Apparat – Kernstück der Edition
„Kritisch“ zu bezeichnen sind Werkausgaben, wenn sie ihre Editionstexte „nach kritischer Sichtung (Recensio), kritischer Prüfung (Examinatio) und möglicherweise kritischer Berichtigung (Emendatio)“ konstituieren. (Oellers 1993:232) Die textkritische Methothode wurde zur wissenschaftlichen Untersuchung von Werken und ihren Manifestationen entwickelt . Abhängig von der Zielsetzung einer Edition und der Überlieferung der historischen Textquellen geht es dabei – wie in der klassischen Philologie um die Rekonstruktion nicht erhaltener Textstufen und die Erstellung eines Stammbaumes (Stemma codicum) von Überlieferungsträgern – oder wie bei Schriften aus der Neuzeit, um die genaue Dokumentation der Textgenese.
Das Werk von Sigmund Freud liegt weitgehend in gesichert autorisierten Fassungen vor, hier geht es um die genaue Dokumentation der Textgenese und das Attribut „kritisch“ konzentriert sich auf die Durchsicht, Untersuchung und Beschreibung der Textträger eines Werkes, sowie auf die Regeln, nach denen alle Herausgebereingriffe in den konstituierten Editionstext erfolgen, die im Einzelnen ausgewiesen werden müssen.
Die Textträger eines Werkes werden in Hinblick auf ihre Entstehungsgeschichte beschrieben und auf variante Stellen geprüft (Kollationierung), die im kritischen Apparat (Variantenverzeichnis) in definierter Weise dokumentiert sind.
Die Ergebnisses kann man in unterschiedlicher Form darstellen. In unserer digitalen Edition steht für die Durchführung der Kollationierung eine Software zur Verfügung, die das Ergebnis nach entsprechender Bearbeitung – auch für philologische Laien verständlich – tabellarisch in synoptischer Form präsentiert.
Beim synoptischen Modell der Darstellung des Variantenapparats werden alle in den Vergleich einbezogenen Manifestationen eines Werkes in vollem Wortlaut nebeneinander (vertikal) angeordnet. Die Differenz zwischen den Manifestationen sind – horizontal geschichtet – in je einer eigenen Zeile ausgewiesen, die auch noch farblich markiert ist. Dieser Variantenapparat wird zwar mit dem konstituierten Text präsentiert, aber nach dem die chronologischen Verhältnisse bestimmt sind, zieht diese Form der Kollationierung jeweils „immer nur ein Vorhergehendes und ein unmittelbar Folgendes“ (Höpker-Herberg 1991:220) heran und ist an keiner bestimmten Fassung orientiert.
5. Zum konstituierten Text dieser Edition
Der konstituierte Text dieser Edition beruht auf einem von Freud autorisierten Textzeugen, im Falle des wissenschaftlichen Druckwerkes ist dies in der Regel die Ausgabe letzter Hand (best manuscript, base text), die zeichen- und buchstabengetreu wiedergegeben wird. Die im Konstituierungsprozess gesetzten editorische Eingriffe erfolgen nach definierten Richtlinien und werden in jedem einzelnen Fall im kritischen Apparat ausgewiesen.
Damit steht eine wissenschaftlich verlässliche Textgrundlage zur Verfügung, die nach festgelegten Kriterien erstellt und am Original überprüfbar ist.
Mit dem konstituierten Text und dem auf ihn bezogenen kritischen Apparat liegen alle Entwicklungsstufen eines Werkes in dieser Edition vor. Mit diesem „Sichtbarmachen des historischen Prozesses findet die Edition ihr eigentliches Ziel“. (Scheibe 1971:7)
Eine Einführung in die Textgenese, Querverweise, Kommentare zu Sachbezügen und Registereinträge tragen zur Kontextualisierung und zum Textverständnis bei.
6. Kuratierter Variantenapparat.
Liegt ein Werk in mehreren varianten Manifestationen vor, die einem Textvergleich unterzogen wurden, wird ein jener Teil der Ergebnisse, der die inhaltlichen Textänderungen betrifft, also ein ausgewählter Teil in einem kuratierten Variantenapparat angezeigt, der direkt mit dem konstituierten Text verknüpft ist: Im Text selber wird auf die varianten Stelle mittels einer feinen Unterstreichung hingewiesen. Dazu findet sich am linken Rand ein Kurzhinweis („Zusatz“, „Streichung‘“ oder „Änderung“), versehen mit einer Referenz (Signatur:Seitenangabe). Über Anklicken erscheinen die betreffende Differenzen in synoptischer Darstellung ausgeführt.
Diese Hinweise sind permanent gesetzt, um auf den prozesshaften Charakter der Textgenese zu verweisen. Nur durch dieses – allerdings wesentliche – Element unterscheidet sich der konstituierte Text dieser Ausgabe von einem reinen Lesetext.
7. Anmerkungen und Register
An den in der Edition konstituierten Texten ist der Anmerkungs- und Registerapparat angebunden, der in der digitalen Version am rechten Rand wahlweise direkt zuschaltbar und aufrufbar ist und bei den Begleittexten auch in gesammelter Form abrufbar ist.
In einer Printversion würde er sich – mit den entsprechenden Referenzen versehen, im nach dem Textende finden.
(Der Anmerkungs- und Registerapparat ist grundsätzlich konzipiert, befindet sich in Erprobung und seine Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen.)
Literatur
Assmann, Bernhard (2005): Sind kanonische Zitierweisen der Geisteswissenschaften als nachhaltige Komponenten digitaler Repositorien geeignet“. https://www.cei.lmu.de/pub/MagArbAssmann.pdf [2021-11-01]
Diercks, Christine; Blatow, Arkadi (2020): Freuds „Verzeichnis sämtlicher Schönen”. Zur Neu-Systematisierung der ›Freud- Bibliografie‹. Luzifer-Amor, 34, 2021, 67, 175-192.
Göttsche. Dirk (2000): Ausgabentypen und Ausgabenbenutzer. In: Nutt-Kofoth, Rüdiger; Plachta, Botho et al. (2000): Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Berlin: Erich Schmitdt Verlag, 37-63
Höpker-Herberg, Elisabeth (1991): Synoptische Variantenverzeichnung. In: Martens, Gunter; Zeller, Hans (1971): Texte und Varianten. München: Beck, 219-232.
Hurlebusch, Klaus (1971): Zur Aufgabe und Method philologischer Forschung. In: Martens, Gunter; Zeller, Hans (1971): Texte und Varianten. München: Beck, 117-142
Hurlebusch, Rose-Maria Hurlebusch (1971): Die Vorbereitung historisch-kritischer Ausgaben. In: Martens, Gunter; Zeller, Hans (1971): Texte und Varianten. München: Beck, 401-412.
IFLA / International Federation of Library Associations and Institutions (IFLA) (ed.) (1998). Functional Requirements for Bibliographic Records. The Hague, Netherlands and K.G. Saur Verlag, Munich, UBCIM Publications: New series; vol. 19. Version 2006, 2008. https://www.ifla.org/files/assets/cataloguing/frbr/frbr_2008.pdf [2022-04-26]
Lachmann, Karl (Hg.) (1839-1840): Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Neue rechtmäßige Ausgabe. Band 1-12. Berlin: Voß’sche Buchhandlung.
Martens, Gunter; Zeller, Hans (1971): Texte und Varianten. München: Beck.
Oellers, Norbert (1993): ‚Interpretierte Geschichte, Geschichtlichkeit und Interpretation. Probleme wissenschaftlicher Editionen In: Brenner, Peter J. (1993): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch materialiern:231-252.
Plachta, Botho; Vliet, H. T. M. (2000): Überlieferung, Philologie und Repräsentation. Zum Verhältnis von Editionen und Institutionen. In: Nutt-Kofoth, Rüdiger; Plachta, Botho et al. (2000): Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Berlin: Erich Schmitdt Verlag, 11-35
Sahle, Patrick (2013): Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil 2, Befunde, Theorie und Methodik. BoD, Nordstedt.
Scheibe, Siegfried (1971): Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Martens, Gunter; Zeller, Hans (1971): Texte und Varianten. München: Beck, 1-44.
Shillingsburg, Peter (2000): Anglo-amerikanische Editionswissenschaft. In: Nutt-Kofoth, Rüdiger; Plachta, Bodo; et al (Hg.) (2000): Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Berlin: ESV, 143-164.
Wizisla, Erdmut (2000): Archive als Editionen? In: In: Nutt-Kofoth, Rüdiger; Plachta, Botho et al. (2000): Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Berlin: Erich Schmitdt Verlag, 407-417.
Zeller, Hans (1971): Befund und Deutung. In: Martens, Gunter; Zeller, Hans (1971): Texte und Varianten. München: Beck, 445-89.
Christine Diercks, 2020-2025, (zuletzt 2025-09-20)