Die psychogenen Sehstörungen in psychoanalytischer Auffassung 1910-005/1924
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    DIE PSYCHOGENE SEHSTORUNG IN PSYCHO-
    ANALYTISCHER AUFFASSUNG

    Zuerst erschienen in der „Arztlichen Standes-
    zeitung“, Wien, 1910 (Festnummer für Professor
    L. Kånigstein), dann in der Dritten Folge der

    „Sammlung Kleiner Schriften zur Neurosenlehre“.
    Meine Herren Kollegen! Ich möchte Ihnen an dem Beispiel
    der psychogenen Sehstórung zeigen, welche Veränderungen unsere
    Auffassung von der Genese solcher Leiden unter dem Einflusse
    der psychoanalytischen Untersuchungsmethode erfahren hat. Sie
    wissen, man nimmt die hysterische Blindheit als den Typus einer
    psychogenen Sehstórung an. Die Genese einer solchen glaubt
    man nach den Untersuchungen der französischen Schule eines
    Charcot, Janet, Binet zu kennen. Man ist ja imstande, eine
    solche Blindheit experimentell zu erzeugen, wenn man eine des
    Somnambulismus fåhige Person zur Verfügung hat. Versetzt man
    diese in tiefe Hypnose und suggeriert ihr die Vorstellung, sie
    sehe mit dem einen Auge nichts, so benimmt sie sich tatsåchlich
    wie eine auf diesem Auge Erblindete, wie eine Hysterika mit
    spontan entwickelter Sehstórung. Man darf also den Mechanismus
    der spontanen hysterischen Sehstórung nach dem Vorbild der
    suggerierten hypnotischen konstruieren. Bei der Hysterika entsteht
    die Vorstellung, blind zu sein, nicht aus der Eingebung des
    Hypnotiseurs, sondern spontan, wie man sagt, durch Autosuggestion,
    und diese Vorstellung ist in beiden Fällen so stark, daß sie sich
    in Wirklichkeit umsetzt, ganz ähnlich wie eine suggerierte

    Halluzination, Lihmung und dergleichen.

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    302 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    Das klingt ja vollkommen verlåBlich und muß jeden befriedigen,
    der sich über die vielen, hinter den Begriffen Hypnose, Suggestion
    und Autosuggestion versteckten Råtselhaftigkeiten hinwegsetzen
    kann. Insbesondere die Autosuggestion gibt Anlaß zu weiteren
    Fragen. Wann, unter welchen Bedingungen wird eine Vorstellung
    so stark, daB sie sich wie eine Suggestion benehmen und ohne
    weiteres in Wirklichkeit umsetzen kann? Eingehendere Unter-
    suchungen haben då gelehrt, daB man diese Frage nicht beant-
    worten kann, ohne den Begriff des ,,UnbewuBten“ zu Hilfe zu
    nehmen. Viele Philosophen stråuben sich gegen die Annahme
    eines solchen seelischen UnbewuDten, weil sie sich um die
    Phänomene’ nicht gekümmert haben, die zu seiner Aufstellung
    nåtigen. Den Psychopathologen ist es unvermeidlich geworden,
    mit unbewuBten seelischen Vorgängen, unbewuBten Vorstellungen
    und dergleichen zu arbeiten.

    Sinnreiche Versuche haben gezeigt, daB die hysterisch Blinden
    doch in gewissem Sinne sehen, wenn auch nicht im vollen Sinne.
    Die Erregungen des blinden Auges können doch gewisse psychische
    Folgen haben, z. B. Affekte hervorrufen, obgleich sie nicht bewußt
    werden. Die hysterisch Blinden sind also nur fürs Bewußtsein
    blind, im Unbewußten sind sie sehend. Es sind gerade Erfahrungen
    dieser Art, die uns zur Sonderung von bewußten und unbewnBten
    seelischen Vorgängen nötigen. Wie kommt es, daß sie die unbe-
    wußte „Autosuggestion“, blind zu sein, entwickeln, während sie
    doch im Unbewußten sehen?

    Auf diese weitere Frage antwortet die Forschung der Franzosen
    mit der Erklärung, daß bei den zur Hysterie disponierten Kranken
    von vornherein eine Neigung zur Dissoziation — zur Auflösung
    des Zusammenhanges im seelischen Geschehen — bestehe, in
    deren Folge manche unbewußte Vorgänge sich nicht zum
    Bewußten fortsetzen. Lassen wir nun den Wert dieses Erklärungs-
    versuches für das Verständnis der behandelten Erscheinungen ganz
    außer Betracht und wenden wir uns einem anderen Gesichts-

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    Die psychogene Sehstórung in psychoanalytischer Auffassung 303

    punkte zu. Sie sehen doch ein, meine Herren, daß die anfänglich
    betonte Identität der hysterischen Blindheit mit der durch
    Suggestion hervorgerufenen wieder aufgegeben ist. Die Hysterischen
    sind nicht infolge der autosuggestiven Vorstellung, daß sie nicht
    sehen, blind, sondern infolge der Dissoziation zwischen unbewuBten
    und bewuBten Prozessen im Sehakt; ihre Vorstellung, nicht zu
    sehen, ist der berechtigte Ausdruck des psychischen Sachverhalts
    und nicht die Ursache desselben.

    Meine Herren! Wenn Sie der vorstehenden Darstellung Unklarheit
    zum Vorwurf machen, so wird es mir nicht leicht werden, sie
    zu verteidigen. Ich habe versucht, Ihnen eine Synthese aus den
    Ansichten verschiedener Forscher zu geben und dabei wahrschein
    lich die Zusammenhänge zu straff angezogen. Ich wollte die
    Begriffe, denen man das Verständnis der psychogenen Störungen
    unterworfen hat: die Entstehung aus übermächtigen Ideen, die
    Unterscheidung bewuBter von unbewuBten seelischen Vorgängen
    und die Annahme der seelischen Dissoziation, zu einer einheit-
    lichen Komposition verdichten, und dies konnte mir ebensowenig
    gelingen, wie es den französischen Autoren, an ihrer Spitze
    P. Janet, gelungen ist. Verzeihen Sie mir also nebst der Unklarheit
    auch die Untreue meiner Darstellung und lassen Sie sich erzählen,
    wie uns die Psychoanalyse zu einer in sich besser gefestigten
    und wahrscheinlich lebenswahreren Auffassung der psychogenen
    Sehstórungen geführt hat.

    Die Psychoanalyse akzeptiert ebenfalls die Annahmen der Dis-
    soziation und des Unbewuften, setzt sie aber in eine andere
    Beziehung zueinander. Sie ist eine dynamische Auffassung, die
    das seelische Leben auf ein Spiel von einander fórdernden und
    hemmenden Kräften zurückführt. Wenn in einem Falle eine
    Gruppe von Vorstellungen im UnbewuBten verbleibt, so schließt
    sie nicht auf eine konstitutionelle Unfähigkeit zur Synthese, die
    sich gerade in dieser Dissoziation kundgibt, sondern behauptet,
    daß ein aktives Stråuben anderer Vorstellungsgruppen die Iso-

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    394 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    lierung und UnbewuBtheit der einen Gruppe verursacht hat,
    Den ProzeB, der ein solches Schicksal får die eine Gruppe her-
    beiführt, heißt sie „Verdrängung“ und erkennt in ihm etwas
    Analoges, wie es auf logischem Gebiete die Urteilsverwerfung
    ist. Sie weist nach, daß solche Verdringungen eine auBerordent-
    lich wichtige Rolle in unserem Seelenleben spielen, daß sie
    dem Individuum auch häufig miBlingen können, und daß das
    MiBlingen der Verdringung die Vorbedingung der Symptom-
    bildung ist.

    Wenn also die psychogene Sehstórung, wie wir gelernt haben,
    darauf beruht, daB gewisse, an das Sehen gekniipfte Vorstellungen
    vom Bewußtsein abgetrennt bleiben, so muß die psychoanalytische
    Denkweise annehmen, diese Vorstellungen seien in einen Gegen-
    satz zu anderen, stärkeren getreten, für die wir den jeweilig
    anders zusammengesetzten Sammelbegriff des „Ichs“ verwenden,
    und seien darum in die Verdrängung geraten. Woher soll aber
    ein solcher, zur Verdrängung auffordernder Gegensatz zwischen
    dem Ich und einzelnen Vorstellungsgruppen rühren? Sie merken
    wohl, daß diese Fragestellung vor der Psychoanalyse nicht möglich
    war, denn vorher wußte man nichts vom psychischen Konflikt
    und von der Verdringung. Unsere Untersuchungen haben uns
    nun in den Stand gesetzt, die verlangte Antwort zu geben. Wir
    sind auf die Bedeutung der Triebe für das Vorstellungsleben auf-
    merksam geworden; wir haben erfahren, daB sich jeder Trieb
    durch die Belebung der zu seinen Zielen passenden Vorstellungen

    zur Geltung zu bringen sucht. Diese Triebe vertragen sich nicht
    immer miteinander; sie geraten häufig in einen Konflikt der
    Interessen; die Gegensätze der Vorstellungen sind nur der Aus-
    druck der Kåmpfe zwischen den einzelnen Trieben. Von ganz
    besonderer Bedeutung får unseren Erklårungsversuch ist der
    unleugbare Gegensatz zwischen den Trieben, welche der Sexualität,
    der Gewinnung sexueller Lust, dienen, und den anderen, welche
    die Selbsterhaltung des Individuums zum Ziele haben, den Ich-

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    Die psychogene Sehstórung in psychoanalytischer Auffassung 5

    trieben. Als „Hunger“ oder als „Liebe“ können wir nach den
    Worten des Dichters alle in unserer Seele wirkenden organischen
    Triebe klassifizieren. Wir haben den „Sexualtrieb” von seinen
    ersten AuBerungen beim Kinde bis zur Erreichung der als „normal“
    bezeichneten Endgestaltung verfolgt und gefunden, daß er aus
    zahlreichen ぅ Partialtrieben“ zusammengesetzt ist, die an den
    Erregungen von Körperregionen haften; wir haben eingesehen,
    daß diese Einzeltriebe eme komplizierte Entwicklung durchmachen
    müssen, ehe sie sich in zweckmäBiger Weise den Zielen der
    Fortpflanzung einordnen können. Die psychologische Beleuchtung
    unserer Kulturentwicklung hat uns gelehrt, daß die Kultur
    wesentlich auf Kosten der sexuellen Partialtriebe entsteht, daß
    diese unterdrückt, eingeschränkt, umgebildet, auf höhere Ziele
    gelenkt werden müssen, um die kulturellen seelischen Konstruktionen
    herzustellen. Als wertvolles Ergebnis dieser Untersuchungen konnten
    wir erkennen, was uns die Kollegen noch nicht glauben wollen,
    daß die als „Neurosen“ bezeichneten Leiden der Menschen auf
    die mannigfachen Weisen des Mißglückens dieser Umbildungs-
    vorgänge an den sexuellen Partialtrieben zurückzuführen sind.
    Das „Ich“ fühlt sich durch die Ansprüche der sexuellen Triebe
    bedroht und erwehrt sich ihrer durch Verdrängungen, die aber
    nicht immer den erwünschten Erfolg haben, sondern bedrohliche
    Ersatzbildungen des Verdrängten und lästige Reaktionsbildungen
    des Ichs zur Folge haben. Aus diesen beiden Klassen von
    Phänomenen setzt sich zusammen, was wir die Symptome der
    Neurosen heißen.

    Wir sind von unserer Aufgabe anscheinend weit abgeschweift,
    haben aber dabei die Verknüpfung der neurotischen Krankheits-
    zustände mit unserem gesamten Geistesleben gestreift. Gehen wir
    jetzt zu unserem engeren Problem zurück. Den sexuellen wie den
    Ichtrieben stehen im allgemeinen die nämlichen Organe und
    Organsysteme zur Verfügung. Die sexuelle Lust ist nicht bloß an
    die Funktion der Genitalien geknüpft; der Mund dient dem

    Freud, V. 20

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    306 Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre

    Kiissen ebensowohl wie dem Essen und der sprachlichen Mit-
    teilung, die Augen nehmen nicht nur die für die Lebenserhaltung
    wichtigen Veränderungen der Außenwelt wahr, sondern auch die
    Eigenschaften der Objekte, durch welche diese zu Objekten der
    Liebeswahl erhoben werden, ihre „Reize“. Es bewahrheitet sich
    nun, daß es für niemand leicht wird, zweien Herren zugleich zu
    dienen. In je innigere Beziehung ein Organ mit solch doppel-
    seitiger Funktion zu dem einen der großen Triebe tritt, desto
    mehr verweigert es sich dem anderen. Dies Prinzip muß zu
    pathologischen Konsequenzen führen, wenn sich die beiden Grund-
    triebe entzweit haben, wenn von seiten des Ichs eine Verdrängung
    gegen den betreffenden sexuellen Partialtrieb unterhalten wird.
    Die Anwendung auf das Auge und das Sehen ergibt sich leicht.
    Wenn der sexuelle Partialtrieb, der sich des Schauens bedient,
    die sexuelle Schaulust, wegen seiner übergroßen Ansprüche die
    Gegenwehr der Ichtriebe auf sich gezogen hat, so daß die Vor-
    stellungen, in denen sich sein Streben ausdrückt, der Verdrängung
    verfallen und vom Bewußtwerden abgehalten werden, so ist damit
    die Beziehung des Auges und des Sehens zum Ich und zum
    Bewußtsein überhaupt gestört. Das Ich hat seine Herrschaft über
    das Organ verloren, welches sich nun ganz dem verdrångten
    sexuellen Trieb zur Verfügung stellt. Es macht den Eindruck,
    als ginge die Verdrängung von seiten des Ichs zu weit, als
    schüttete sie das Kind mit dem Bade aus, indem das Ich jetzt
    überhaupt nichts mehr sehen will, seitdem sich die sexuellen
    Interessen im Sehen so sehr vorgedrängt haben. Zutreffender
    ist aber wohl die andere Darstellung, welche die Aktivität nach
    der Seite der verdrängten Schaulust verlegt. Es ist die Rache,
    die Entschädigung des verdrängten Triebes, daß er, von weiterer
    psychischer Entfaltung abgehalten, seine Herrschaft über das ihm
    dienende Organ nun zu steigern vermag. Der Verlust der bewuBten
    Herrschaft über das Organ ist die schüdliche Ersatzbildung für die
    miBglickte Verdrängung, die nur um diesen Preis ermöglicht war.

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    Die psychogene Sehstorung in psychoanalytischer Auffassung 307

    Deutlicher noch als am Auge ist diese Beziehung des zwei-
    fach in Anspruch genommenen Organs zum bewuBten Ich und
    zur verdrångten Sexualität an den motorischen Organen ersichtlich,
    wenn z. B. die Hand hysterisch gelähmt wird, die eine sexuelle
    Aggression ausführen wollte, und nach deren Hemmung nichts
    anderes mehr tun kann, gleichsam als bestünde sie eigensinnig
    auf der Ausführung der einen verdrüngten Innervation, oder
    wenn die Finger von Personen, welche der Masturbation entsagt
    haben, sich weigern, das feine Bewegungsspiel, welches am Klavier
    oder an der Violine erfordert wird, zu erlernen. Für das Auge
    pflegen wir die dunkeln psychischen Vorgånge bei der Verdringung
    der sexuellen Schaulust und bei der Entstehung der psychogenen
    Sehstørung so zu übersetzen, als erhåbe sich in dem Individuum
    eine strafende Stimme, welche sagte: ,,Weil du dein Sehorgan
    zu böser Sinneslust miBbrauchen wolltest, geschieht es dir ganz
    recht, wenn du überhaupt nichts mehr siehst“, und die so den
    Ausgang des Prozesses billigte. Es liegt dann die Idee der Talion
    darin, und unsere Erklärung der psychogenen Sehstørung ist
    eigentlich mit jener zusammengefallen, die von der Sage, dem
    Mythus, der Legende dargeboten wird. In der schönen Sage von
    der Lady Godiva verbergen sich alle Einwohner des Stådtchens
    hinter ihren verschlossenen Fenstern, um der Dame die Aufgabe,
    bei hellem Tageslichte nackt durch die StraBen zu reiten, zu
    erleichtern. Der einzige, der durch die Fensterlåden nach der
    entblGBten Schönheit späht, wird gestraft, indem er erblindet. Es
    ist dies übrigens nicht das einzige Beispiel, welches uns ahnen
    läßt, daß die Neurotik auch den Schlüssel zur Mythologie in
    sich birgt.

    Meine Herren, man macht der Psychoanalyse mit Unrecht
    den Vorwurf, daB sie zu rein psychologischen Theorien der
    krankhaften Vorgänge führe. Schon die Betonung der pathogenen
    Rolle der Sexualität, die doch gewiß kein ausschließlich psychischer
    Faktor ist, sollte sie gegen diesen Vorwurf schiitzen. Die Psycho-

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    analyse vergiBt niemals, daB das Seelische auf dem Organischen
    ruht, wenngleich ihre Arbeit es nur bis zu dieser Grundlage und
    nicht darüber hinaus verfolgen kann. So ist die Psychoanalyse
    auch bereit zuzugeben, ja zu postulieren, daB nicht alle funktionellen
    Sehstórungen psychogen sein können wie die durch Verdrängung
    der erotischen Schaulust hervorgerufenen. Wenn ein Organ,
    welches beiderlei Trieben dient, seine erogene Rolle steigert, so
    ist ganz allgemein zu erwarten, daß dies nicht ohne Veränderungen
    der Erregbarkeit und der Innervation abgehen wird, die sich bei
    der Funktion des Organs im Dienste des Ichs als Störungen kund-
    geben werden. Ja, wenn wir sehen, daB ein Organ, welches
    sonst der Sinneswahrnehmung dient, sich bei Erhöhung seiner
    erogenen Rolle geradezu wie ein Genitale gebärdet, werden wir
    auch toxische Verånderungen in demselben nicht får unwahr-
    scheinlich halten. Für beide Arten von Funktionsstórungen infolge
    der gesteigerten erogenen Bedeutung, die physiologischen wie
    die toxischen Ursprunges, wird man, in Ermangelung eines
    besseren, den alten, unpassenden Namen „neurotische“ Störungen
    beibehalten müssen. Die neurotischen Störungen des Sehens
    verhalten sich zu den psychogenen wie ganz allgemein die
    Aktualneurosen zu den Psychoneurosen; psychogene Sehstörungen
    werden wohl kaum jemals ohne neurotische vorkommen können,
    wohl aber letztere ohne jene. Leider sind diese „neurotischen“
    Symptome heute noch sehr wenig gewürdigt und verstanden,
    denn der Psychoanalyse sind sie nicht unmittelbar zugänglich
    und die anderen Untersuchungsweisen haben den Gesichtspunkt
    der Sexualität außer acht gelassen.

    Von der Psychoanalyse zweigt noch ein anderer, in die
    organische Forschung reichender Gedankengang ab. Man kann
    sich die Frage vorlegen, ob die durch die Lebenseinflüsse erzeugte
    Unterdrückung sexueller Partialtriebe für sich allein hinreicht,
    die Funktionsstörungen der Organe hervorzurufen, oder ob nicht
    besondere konstitutionelle Verhältnisse vorliegen müssen, welche

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    Die psychogene Sehstorung in psychoanalytischer Auffassung 309

    erst die Organe zur Übertreibung ihrer erogenen Rolle veran-
    lassen und dadurch die Verdrängung der Triebe provozieren. In
    diesen Verhältnissen müßte man den konstitutionellen Anteil der
    Disposition zur Erkrankung an psychogenen und meurotischen
    Störungen erblicken. Es ist dies jenes Moment, welches ich bei

    der Hysterie vorläufig als „somatisches Entgegenkommen“ der
    Organe bezeichnet habe.