Die Struktur der Elemente des Nervensystems 1884-003/1884
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    Die Structur der Elemente
    des Nervensystems.

    Von

    Dr. Sigm. Freud,

    Secundararzt im Allgemeinen Krankenhause.

    (Nach einem im Psychiatrischen Vereine gehaltenen Vortrag.)
    Sehr bald, nachdem Nervenzelle und Nervenfaser als die wesentlichen Bestandtheile
    des Nervensystems erkannt worden waren, begannen die Bemühungen,
    die feinere Structur dieser beiden Elemente aufzuklären, wobei die
    Hoffnung von Einfluss war, aus der erkannten Structur Schlüsse auf die physiologische
    Dignität derselben ziehen zu können. Es ist bekanntlich nicht
    gelungen, nach einer dieser beiden Richtungen befriedigenden Aufschluss
    und Einigung zu erzielen: dem einen Autor gilt die Nervenzelle als körnig,
    dem anderen als fibrillär; die Nervenfaser oder deren wesentlicher Bestandtheil,
    der Achsencylinder, dem einen als ein Fibrillenbündel, dem andern
    als eine Flüssigkeitssäule, und dem entsprechend wird die Nervenzelle hier
    als der eigentliche Herd der Nerventhätigkeit gewürdigt, dort zur Bedeutung
    eines Kernes der S c h w a n n ’schen Scheide degradirt.

    Da ich nun glaube, dass in meiner Untersuchung „Ueber den Bau der
    Nervenfasern und Nervenzellen beim Flusskrebs“1 eine wohl begründete Lösung
    des uns beschäftigenden Problems gegeben ist, will ich mir erlauben,
    den Inhalt derselben an dieser Stelle vorzubringen. Vorher muss ich es aber
    rechtfertigen, dass ich den Flusskrebs zum Object meiner Untersuchung gewählt,
    oder dass ich den Ergebnissen derselben eine allgemeine Tragweite
    zuerkennen möchte.

    Wir sind ja alle nur zu leicht geneigt, ein für die Gewebe oder Organe des
    Frosches nachgewiesenes Structurverhältniss auf den Menschen zu übertragen,
    während wir die an wirbellosen Thieren gewonnenen Erkenntnisse gern
    für unverwerthbar nach dieser Richtung halten. Ob eine solche Uebertragung
    über eine grössere oder geringfügigere Kluft in der Thierreihe statthaft ist,
    lässt sich kaum jemals mit Sicherheit sagen. Es wird von der Natur des jeweiligen
    Problems abhängen, ob wir in der Uebertragung einen mehr oder minder
    verlässlichen Ersatz für die directe Beobachtung annehmen können, und
    wir werden dabei immer Ueberraschungen und Enttäuschungen ausgesetzt
    bleiben. Je schwieriger aber die directe Beobachtung, je

    1 Wiener akad. Sitzb. LXXXV. Bd. 1882.

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    fundamentaler
    das fragliche Structurverhältniss ist, desto mehr Werthschätzung darf eine
    sichere Beobachtung an einer anderen Thiergattung beanspruchen; und dies
    trifft auch für unseren Fall zu.

    Es handelt sich um den feineren Bau eines einfachen Gewebes, dessen Elemente
    bei Wirbelthieren und Wirbellosen offenbar identische Formverhältnisse
    zeigen. Sehen wir von der Markscheide ab, die bekanntlich auch den
    Nerven des Amphioxus und der Petromyzonten unter den Fischen abgeht, wie
    einem Theil der Nervenfasern selbst beim Menschen zeitlebens, so haben wir
    obiger Behauptung kaum eine wichtigere Einschränkung hinzuzufügen. Die
    Nervenfaser ist hier wie dort ein Fortsatz der Nervenzelle; die Ansicht von
    Wa l d e y e r , 1 welcher die Fasern der peripheren Nerven bei Wirbellosen
    immer nur durch Vermittlung einer fibrillären Masse im Ganglion mit den
    centralen Nervenzellen zusammenhängen liess, ist durch die Untersuchungen
    von C l a u s 2 berichtigt worden, derzufolge die Fortsätze der centralen
    Nervenzelle direct in Nervenfasern meist der gekreuzten Seite übergehen; die
    Existenz multipolarer Zellen im Nervensystem Wirbelloser, eine Zeit lang
    angezweifelt, ist nun sicher nachgewiesen; ja ich habe aus der Bauchganglienkette
    des Flusskrebses multipolare Zellen isolirt, welche ganz dem Schema von
    D e i t e r s entsprachen: neben vielen verzweigten, in ihrer Substanz dunkleren
    Fortsätzen besassen sie je einen, der vom Anfang an drehrund, heller
    und unverzweigt erschien. Sicherlich gibt es Verschiedenheiten in der Structur
    des Nervengewebes der beiden grossen Thierclassen; nur dass bis jetzt eher
    die Uebereinstimmung auffällig ist, und dass die Verschiedenheit keine fundamentale
    zu sein scheint, wie ja auch die Entwicklungsgeschichte die Kluft
    zwischen Wirbelthieren und Arthropoden nicht mehr für unüberbrückbar hält.

    Ueber den feineren Bau des Nervensystems der Wirbellosen schweben dieselben
    Controversen wie bei den Wirbelthieren, und es hat nicht einmal den
    Anschein, als ob die Erstreckung der Untersuchung auf so verschiedenartiges
    Material, als unter dem Namen der Wirbellosen zusammengefasst wird, an
    solcher Uneinigkeit Schuld wäre. Denn Autoren, welche alle Thierclassen
    berücksichtigt haben, sprechen sich für einen einheitlichen Bau der Elemente
    des Nervensystems aus, während von demselben Object verschiedene
    Untersucher ganz abweichende Beschreibungen geben.

    Sowohl bei Wirbellosen als bei Wirbelthieren scheitert die Untersuchung
    der Structur der Nervenelemente an der grossen Zartheit und Hinfälligkeit
    der letzteren, so dass Reagentien mit der Erhärtung gleichzeitig in unberechenbarer
    und unbekannter Weise das Structurbild verändern. Die Untersuchung
    im überlebenden Zustand kann allein die massgebende sein; frisch
    isolirte Elemente untersuchen, ist aber nicht gleichwerthig mit der Untersuchung
    überlebender, denn die mechanische Verletzung beim Isoliren mit
    Nadeln, der chemische Insult durch fremdartige Zusatzflüssigkeiten reichen
    hin, die auf die Erhaltung der Structur gerichtete Absicht zu vereiteln.

     

    1 Untersuchungen über den Ursprung und den Verlauf des Achsencylinders bei
    Wirbellosen und Wirbelthieren. Zeitschrift für rationelle Medicin, XX, 1863.

    2 Der Organismus der Phronimiden. Arbeiten des zool. Institutes in Wien. II.

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    Als ich an meine Arbeiten über diesen Gegenstand ging, sah ich
    ein, dass es bei dem Stand der Dinge weniger auf die Breite als auf die Sicherheit
    der Beobachtungen ankomme, dass es vortheilhafter sei, einen
    Zweifel an der Uebertragbarkeit als an der Correctheit der Resultate zuzulassen
    und ich wählte das Object, welches mir als das günstigste erschien,
    ohne Rücksicht auf die mögliche Verschiedenheit zwischen Wirbellosen und
    Wirbelthieren. Ich wählte den Flusskrebs, weil dessen Elemente so gross
    sind, dass sie oft die Beobachtung durch die Hülle der Ganglien und Nervenstämme
    erlauben, und weil ich im Krebsblut eine unschädliche Zusatzflüssigkeit
    zu finden hoffte. Letzteres hat sich als nicht ganz richtig herausgestellt;
    doch ist es mir gelungen, solcher Elemente ansichtig zu werden, welche nach
    sicheren Kennzeichen als überlebende aufzufassen sind, und ich habe meine
    Anschauungen über die Structur der Nervenelemente nur an solchen überlebenden
    Zellen und Fasern gewonnen.

    Die Beobachtung ist auch unter solchen Verhältnissen noch eine schwierige,
    die Anzahl der im überlebenden Zustande erhaltenen Elemente eine
    geringe. Welches die Kennzeichen dieses Zustandes sind, werden wir noch
    später erörtern; beginnen wir jetzt mit der Darstellung des feineren Baues der
    Nervenfasern beim Flusskrebs in Anknüpfung an die Angaben der ältesten
    Untersucher, welche sich uns auch als die werthvollsten erweisen werden.
    Die Nervenfasern des Flusskrebses präsentiren sich unter Mikroskop zunächst
    als wasserhelle Röhren von elastischer, mit zahlreichen Kernen besetzter
    Wand, deren Inhalt bei Druck wie eine Flüssigkeit oder wenigstens
    sehr weiche Masse austritt und dann meist körnige Gerinnungen ergibt. So
    viel lehrten schon die Beobachtungen von H e l m h o l t z 1 , 1842 in
    dessen Dissertation niedergelegt, und die Untersuchung der Gewebe des
    Flusskrebses von H a e c k e l in seiner Dissertation 1856. Aber schon
    im Jahre 1843 entdeckte R. R e m a k ,2 dass im Innern der breitesten (bis
    0.1 mm.) Nervenröhren ein Bündel sehr zarter Fibrillen enthalten ist, welches
    er auch in den feineren Nerven vermuthete, aber nicht sehen konnte.
    R e m a k ’s Scharfblick erfasste die Anschauung, dass „das centrale Faserbündel
    zusammt dem gerinnbaren flüssigen Inhalt dem Achsencylinder (der
    Wirbelthiere) entspricht, wofür auch die von mir (Remak) bemerkte Längsstreifung
    des letzteren sprechen würde“.

    H a e c k e l 3 bestätigte R e m a k ’s Beobachtung und schloss sich dessen
    Hypothese an; seither haben aber fast alle Beobachter R e m a k ’s Fund
    bestritten oder dessen Bedeutung verkannt. Wa l d e y e r dagegen, der auf
    Grund der breitesten Beobachtung für den fibrillären Bau der Nervenfaser
    eintrat, bestritt eine Zwischensubstanz der Fibrillen und fasste das dafür
    Beschriebene als Reste zertrümmerter Fibrillen auf.
    Wenn wir die Nervenfasern des Flusskrebses und anderer Crustaceen (des
    Hummers, der Squilla etc.) unter den für die Erhaltung

    1 Wissenschaftl. Abhandlungen. 1882. II. Bd., p. 664.

    2 Ueber den Inhalt der Nervenprimitivröhren. Müller’s Archiv, 1843.

    3 Ueber die Gewebe des Flusskrebses. Müller’s Archiv, 1857.

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    der Structur
    günstigsten Bedingungen und an Elementen, die mit überlebenden Nervenzellen
    zusammenhängen, studiren, können wir nicht anders als R e m a k ’s
    Beobachtungen bestätigen und seine Vermuthungen durch Beobachtung zur
    Gewissheit bringen. In allen Nervenröhren des Flusskrebses ist ein Bündel
    zarter, scharf gezeichneter Fibrillen vorhanden, die, einander parallel
    laufend, keinerlei Verbindung mit einander eingehen. In den grössten, den
    „kolossalen“ Fasern liegt dasselbe, wie R e m a k gesehen, central, von einem
    Cylinder weicher Substanz umgeben, in den feineren Nervenröhren ist
    diese einhüllende Substanz reducirt. Die directe Beobachtung schützt uns
    auch vor dem Irrthum, etwa Längsstreifen oder Faltungen der Wandung für
    fädige Inhaltsgebilde zu halten. Die Grösse der Elemente ermöglicht eine
    sichere Entscheidung durch Einstellung mit der Schraube; zum Ueberfluss
    kann man an den Ganglien der Squilla mantis oberflächliche Faserschlingen
    auf ihren optischen Querschnitt untersuchen, der die Fibrillen als im Innern
    der Faser enthaltene Pünktchen zeigt. Durch Druck auf eine kolossale
    Faser können wir das Fibrillenbündel zum Austritt bringen; wir sehen dann,
    dass die einzelnen Fäserchen nicht mit einander verklebt sind und dürfen
    annehmen, dass dieselbe Substanz, welche den äusseren Mantel bildet, auch
    die Zwischenräume zwischen den einzelnen Fibrillen ausfüllt. Wir gelangen
    so zum Resultat: Die Nervenfasern des Flusskrebses enthalten g e r a d l i -
    n i g e F i b r i l l e n , u m g e b e n u n d i s o l i r t v o n e i n e r
    w e i c h e n Z w i s c h e n s u b s t a n z .

    Freilich, diese Structur ist eine sehr hinfällige. Schon das Eindringen des
    Krebsplasmas von der Schnittstelle aus reicht hin, die Fibrillen in Körner
    zerfallen zu lassen, die eine Zeit lang durch die Anordnung in Längsreihen
    ihre Herkunft verrathen. Mitunter sucht man die Fibrillen vergebens in den
    feineren Nervenröhren, ja, man vermisst sie selbst in den kolossalen, aber
    nach sorgfältiger Untersuchung musste ich doch diese häufigen Misserfolge
    der Hinfälligkeit der Structur zur Last legen und die Fibrillen als ein immer
    und überall präformirtes Structurelement ansehen. Wer etwa in den feinen
    Fäden das Product einer eigenthümlichen Zersetzung des Nervenrohres erblicken
    will, dem ist entgegenzuhalten, dass man häufig genug eine fibrillär
    gebaute Nervenfaser körnig oder homogen werden sieht, aber niemals das
    Umgekehrte.

    Die fibrilläre Structur der Nervenfaser ist am deutlichsten und gleichzeitig
    am haltbarsten an dem centralen Ende derselben, wo sie meist mit allmäliger
    Verbreiterung in die Nervenzelle übergeht. Dort sieht man nicht selten die
    Fibrillen einen Wirbel bilden, und dann verschwinden sie in der Substanz
    des Zellleibes. Ehe wir aber die Structur der überlebenden Nervenzellen beschreiben,
    wollen wir kurz anführen, welche Angaben über das Aussehen
    dieser Elemente in der Literatur vorzufinden sind.

    Die meisten Autoren beschreiben die Nervenzellen des Flusskrebses als
    körnig oder als homogen; R e m a k ist wiederum zuerst eine concentri-
    sche Streifung des Zellleibes aufgefallen, die selbst nach Behandlung mit
    Reagentien hervortritt. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass das körnige
    Ansehen der Nervenzelle dem abgestorbenen

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    Zustande derselben entspricht; untersucht man überlebende Elemente,
    so findet man kaum ein isolirtes Körnchen in ihnen, vielmehr ist eine
    Streifung in ihnen deutlich, welche einerseits um den Kern concen-
    trisch, andererseits gegen den Fortsatz convergirend verläuft. Diese
    Streifen entsprechen nicht etwa um einander gelegten Schalen,
    sondern setzen sich aus kurzen Stücken optisch
    dichterer Substanz zusammen, welche durch hellere Zwischenräume getrennt
    sind und nach kurzem Verlauf mit anderen dunkleren Bogenstücken zusammenfliessen.
    Ich kann die Beschreibung nicht gut von der Auffassung
    des Bildes trennen und will gleich sagen, dass ich diese Structur auffasse als
    ein Balkennetz protoplasmatischer Substanz, welches von einer homogenen
    Zwischensubstanz ausgefüllt ist. Wirklich haben diese Balken ganz das Ansehen
    des Protoplasmas in lebenden Zellen, und die Berechtigung, von einer
    zusammenhängenden Zwischensubstanz zu sprechen, ergibt sich aus Bildern,
    an denen das Balkennetz sich von einem grösseren oder kleineren Theile der
    Zellperipherie zurückgezogen hat, und nun daselbst eine glänzende, homogene
    Masse von demselben Ansehen, wie es der Zellkern bietet, sichtbar wird.

    Die wichtigste Frage ist nun: Wie verhalten sich die Fibrillen der Nervenfaser
    in der Nervenzelle? Da sieht man denn mit aller Klarheit, wie die einzelnen
    Fibrillen, die im Uebergangsstück zwischen Zelle und Faser besonders
    deutlich geworden sind, in der Zelle angekommen, ihre scharfe Begrenzung
    verlieren und einzeln in Balken des gegen den Fortsatz hin offenen Netzes
    übergehen. Von einer Beziehung der Fibrillen zum Kerne oder von einem
    isolirten Verlauf derselben durch den Zellleib ist auch keine Andeutung zu
    sehen. Zumal an den bi- und multipolaren Zellen ist es offenbar, dass die
    Fibrillen der verschiedenen Fortsätze nur durch das Netzwerk im Innern der
    Zelle mit einander zusammenhängen.

    Wir können also von der Structur der Nervenzelle des Flusskrebses aussagen:
    D i e N e r v e n z e l l e b e s t e h t a u s z w e i S u b s t a n z e n ,
    v o n d e n e n d i e e i n e , n e t z f ö r m i g a n g e o r d n e t e ,
    s i c h s i c h t l i c h i n d i e F i b r i l l e n d e r N e r v e n f a s e r ,
    d i e a n d e r e , h o m o g e n e , s i c h w a h r s c h e i n l i c h i n
    d i e Z w i s c h e n s u b s t a n z d e r s e l b e n f o r t s e t z t .

    Jetzt müssen wir aber nach der Begründung fragen, warum wir die eben
    beschriebene Erscheinung der Nervenzelle und nicht etwa die körnige als
    den überlebenden Zustand aufgefasst haben. Wir können uns darauf berufen,
    dass Zellen, die den netzförmigen Bau zeigen, unter unseren Augen körnig
    werden, aber niemals umgekehrt, und dass wir die ausführlich beschriebene
    Structur der Nervenzelle dort finden, wo wir auf möglichste Schonung der
    Structur rechnen dürfen. Wir können aber viel mehr entscheidende Argumente
    beibringen. An den körnigen Nervenzellen ist der Kern von einem
    dicken Contour eingerahmt, in seinem Innern feinkörnig und enthält meist
    zwei stark glänzende, homogene Kernkörperchen. Ganz ähnlich ist das Aussehen
    des Kernes an Präparaten, welche durch Reagentien conservirt sind.
    In den Zellen aber, welche wir als überlebende aufgefasst haben, erscheint
    der Kern entweder ganz verschwommen oder nur von einer feinen Linie
    begrenzt, er ist homogen, glänzend, und zeigt in seinem Inhalt ausser den
    beiden grossen Kernkörperchen

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    zahlreiche geformte Gebilde, welche Lage- und Gestaltsveränderungen
    vollführen. Diese Inhaltsgebilde sind entweder kurze dicke Stäbchen,
    oder lange, abgebogene Fäden, oder winkelig geknickte, gegabelte,
    rosettenartig zusammengesetzte, oft sehr zierliche
    Bildungen. Fasst man einen Kern mit solchen Inhaltskörpern in’s Auge, so
    sieht man, wie die einzelnen Stäbchen und Stücke derselben sich von einander
    entfernen und sich einander nähern, wie bald hier bald dort ein früher
    tiefliegendes Glied einer solchen Figur an die Oberfläche kommt, oder wie
    complicirte Figuren zerbrechen und einzelne der Bruchstücke an eine andere
    Stelle im Kern gelangen. Diese Bewegungen geschehen etwa mit der
    Schnelligkeit der amöboiden Bewegung an weissen Blutkörperchen, also im
    Allgemeinen mit einer ziemlich wechselnden Schnelligkeit, welche jedoch
    innerhalb der für die Protoplasmabewegung beobachteten Grenzen bleibt.

    Setzt man die Beobachtung einer solchen Zelle lange genug fort oder
    drückt man dieselbe, so verschwinden die Inhaltskörper sehr bald, der Kern
    wird fein granulirt, umgibt sich mit einem doppelten Contour und gleichzeitig
    wird der Leib der Zelle körnig. Es dürfte also keinem Widerspruch
    begegnen, wenn ich solche Zellen für überlebende erkläre und die an ihnen
    beobachtete Structur für die massgebende erachte.

    Wenn wir aber übersehen, was uns die überlebende Nervenzelle an Structurverhältnissen
    geboten hat, muss uns auffallen, dass nichts davon eine Ei-
    genthümlichkeit der Nervenzelle bedeutet. Derselbe Bau des Zellleibes ist
    durch zahlreiche Untersuchungen zahlreicher Autoren bei Drüsen-, Epithelial-,
    Geschlechtszellen nachgewiesen worden. Es scheint dies die allgemeine
    Structur des lebenden Protoplasmas zu sein. Ich will aus der grossen
    Menge von Belegen für diesen Satz nur einen herausheben: die Beobachtungen
    K u p f f e r ’s an den Speicheldrüsen von Periplaneta orientalis,1 weil
    an diesen Elementen die netzförmig angeordnete Substanz des Zellleibes in
    directem Zusammenhange mit den eintretenden Nervenfibrillen steht, ganz
    wie an unserem Nervenpräparat vom Flusskrebs. Auch das Verhalten des
    Kernes im überlebenden Zustande, die geformten Gebilde desselben, welche
    Lebenserscheinungen zeigen u. s. w., entsprechen vollkommen unseren
    Kenntnissen über die Structur anderer Zellen und sind nur eine Ausdehnung
    derselben auf das Nervengewebe. Die veränderlichen Inhaltsgebilde insbesondere
    sind zumeist aus Anlass der Kerntheilung beobachtet worden; es
    liegen aber Gründe vor, sie auch in „ruhenden“ Kernen anzunehmen. Nachdem
    wir also eine complicirte Structur der Nervenzellen beschrieben haben,
    sind wir auf einem Umweg dazu gelangt, denselben jede charakteristische
    Structur abzusprechen. Wir dürfen sagen: D i e N e r v e n z e l l e b e -
    s t e h t a u s n i c h t d i f f e r e n z i r t e m , d i e N e r v e n -
    f a s e r a u s f ä d i g d i f f e r e n z i r t e m P r o t o p l a s m a .
    Die Fibrillen der Nervenfaser verhalten sich zum Leib der Nervenzelle wie
    die Flimmerhaare einer Flimmerzelle zu dem Protoplasmanetz derselben,
    dessen differenzirte und isolirte Fortsetzungen sie sind.

    1 Festgabe an C. Ludwig, 1874.

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    Nachdem wir die Structur des Nervengewebes an einem aus der
    Thierreihe ausgewählten Objecte erkannt haben, wird es vielleicht lohnend
    sein, zur Frage nach der allgemeinen Giltigkeit der erlangten Resultate zurückzukehren.
    Für die Nervenfaser ergibt sich nun das neue Argument, dass
    die fibrilläre Structur im Gegensatz zu einem homogenen oder körnigen
    Aufbau eine Differenzirung bedeutet, die man nicht leicht höheren Thieren
    wird absprechen wollen, wenn sie bei niederen nachgewiesen ist. Man darf
    auch aufmerksam machen, dass die Annahme einer Zusammensetzung der
    Nervenfaser aus hinfälligen Fibrillen und einer weichen Zwischensubstanz
    eigentlich allen guten Beobachtungen gerecht wird, welche über die Nerven-
    fasern der Wirbelthiere gemacht worden sind. Die Controversen scheinen
    daher zu rühren, dass die einen Beobachter nur den einen, die anderen nur
    den anderen Bestandtheil der Nervenfaser nachzuweisen sich bemühten.
    So schliessen z. B. F l e i s c h l 1 und B o l l 2 aus unanfechtbaren Beobachtungen
    auf das Vorhandensein einer sehr weichen Substanz im Achsencylinder,
    leugnen aber unbegründeterweise die Fibrillen, auf welche ihre
    Beobachtungen keinen Bezug haben konnten. F l e i s c h l und B o l l
    nennen diese Substanz eine „Flüssigkeit“, während die Annahme einer sehr
    weichen Substanz ihren Beobachtungen zu genügen scheint. Ob etwas eine
    Flüssigkeit im physikalischen Sinne des Wortes oder nur ein Körper von sehr
    geringer Consistenz ist, der darum noch eine complicirte Molecularstructur
    besitzen mag, lässt sich nach solchen Beobachtungen, wie sie die erwähnten
    Autoren angestellt haben, nicht entscheiden. Der Inhalt der lebenden Muskelfaser
    verhält sich ebenfalls wie eine Flüssigkeit und doch ist über dessen
    complicirte morphologische und Molecularstructur kein Zweifel.

    Vor Kurzem erst ist es K u p f f e r 3 gelungen, die Fibrillen in den
    Nervenfasern des Frosches durch Behandlung mit Osmiumsäure, Färbung
    mit Säurefuchsin und Untersuchung mit starken Immersionslinsen zur Ansicht
    zu bringen. Die Sicherheit des Erfolges und die Regelmässigkeit der
    so dargestellten Fibrillen dürften den Streit um die Structur der Nervenfasern
    bei Wirbelthieren zu Ende bringen, obwohl K u p f f e r ’s Beobachtung
    nicht am lebensfrischen Gewebe gemacht ist. Prof. K u p f f e r hat es unterlassen,
    in seiner Veröffentlichung auf meine Befunde am Krebs Rücksicht
    zu nehmen, von denen er, wie ich einer freundlichen brieflichen Mittheilung
    entnehme, keine Kenntniss hatte.

    In Betreff der Structur der Nervenzelle konnte ich mich schon, als ich
    meine Beobachtungen beim Flusskrebs niederschrieb, auf ganz übereinstimmende
    Angaben berufen, welche S c h w a l b e 4 über die Spinalganglienzellen
    des Frosches gemacht hatte. Wir finden also nachträglich, dass die
    Ausdehnung unserer Anschauungen von der Structur des Nervengewebes
    beim Flusskrebs auf die Wirbelthiere nicht allein auf den zu Eingang angeführten
    Erwägungen ruht,

    1 Ueber die Beschaffenheit des Achsencylinders. Festgabe an C. Ludwig, 1874.

    2 Ueber die Zersetzungsbilder der markhaltigen Nervenfasern. Archiv für Anatomie
    und Entwicklungsgeschichte, 1877.

    3 Sitzungsb. der baierischen Akad. 1883.

    4 Bemerkungen über die Kerne der Ganglienzellen. Jena’sche Zeitschr., 1875.

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    sondern sich auf stückweise Bekräftigung durch directe Beobachtungen
    berufen kann.

    In vollkommenem, auch physiologisch bedeutsamem Gegensatz zu unserer
    Ansicht von der Structur der Nervenzelle steht die bekannte Darstellung
    M. S c h u l t z e ’s, in welcher gelehrt wird, dass die Fibrillen der Nervenfaser
    auch im Zellleib ihre Selbstständigkeit und Isolirung bewahren, indem
    sie nach complicirtem Verlaufe durch die feinkörnige Zellsubstanz in die
    Fibrillen eines anderen Fortsatzes übergehen. Die Zelle erscheint demnach
    wesentlich als eine Station zur Umlagerung der Fibrillen, welche durchgehende
    und ununterbrochene Leitungsbahnen darstellen. Die angebliche feinkörnige
    Zellsubstanz liegt, sowie der Kern, ausserhalb der nervösen Leitung,
    ein Schluss, den M. S c h u l t z e nicht selbst gezogen hat, der sich aber bei
    schärferer Fassung des von ihm mit aller Reserve Vorgebrachten zwingend
    ergibt. Damit stimmt zusammen, dass M. S c h u l t z e die bipolaren Nervenzellen
    für nichts Anderes als eine kernhaltige Stelle des Achsencylinders
    erklären kann, und dass er Bedenken trägt, eine „Endigung“ der Nervenfaser
    in der Nervenzelle anzunehmen.

    Wir dürfen wohl schwere Bedenken gegen die Massgeblichkeit der M.
    S c h u l t z e ’schen Beobachtungen geltend machen. Zunächst wird deren
    Werth durch die Bemerkung gemindert, dass sie sich nicht auf überlebende,
    sondern abgestorbene Elemente beziehen. Dafür spricht das Aussehen des
    Kernes und das Körnige der Zellsubstanz, zusammengehalten mit der Angabe,
    dass diese Structurverhältnisse an Elementen erkannt worden sind, welche
    „frisch“ mit Jodserum behandelt waren. Ferner geht aus M. S c h u l t z e ’s
    Worten klar hervor, dass die Fibrillen sich im Zellleibe der Verfolgung entziehen;
    es wird uns ausdrücklich gesagt, dass es nicht ein einzigesmal gelungen
    ist, den Verlauf einer Fibrille aus einem Fortsatze durch den Zellleib in einen
    anderen Fortsatz zu überblicken. Ich glaube, die Häufung der Fibrillen in
    den multipolaren Zellen, an welchen M. S c h u l t z e diese Beobachtungen
    ausführte, macht dieselben für den in Betracht kommenden Zweck sehr ungeeignet.
    Es scheint besser gerechtfertigt, die Structur der multipolaren Zellen
    durch das Studium der einfacher gebauten bipolaren und unipolaren zu
    erläutern, und wenn wir diesen Weg einschlagen, gelangen wir zu dem entgegengesetzten
    Ergebniss über das Verhältniss der Elemente des Nervensystems.
    Wenn wir die Annahme machen, dass die Fibrillen der Nervenfaser die
    Bedeutung von isolirten Leitungsbahnen haben, dann müssen wir sagen,
    d a s s d i e i m N e r v e n g e t r e n n t e n B a h n e n i n
    d e r N e r v e n z e l l e z u s a m m e n f l i e s s e n , dann muss uns
    die Nervenzelle als der „Anfang“ aller Nervenfasern gelten, welche anatomisch
    mit ihr im Zusammenhange stehen. Es würde die Grenzen, die ich
    mir gesteckt habe, überschreiten, wollte ich vorbringen, was derzeit für
    die Giltigkeit der erwähnten Annahme vorliegt; auch weiss ich, dass das
    vorhandene Material nicht zur Entscheidung dieser physiologisch bedeutungsvollen
    Frage ausreicht. Wenn sich diese Annahme beweisen liesse,
    kämen wir ein gutes Stück in der Physiologie der Nervenelemente weiter;
    wir könnten dann daran denken, dass ein Reiz von gewisser Stärke
    die Isolirung der Fibrillen zu durch-

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    brechen vermag, so dass die Nervenfaser als Ganzes die Erregung
    leitet; wir könnten suchen, welche Innervationsstörung einer etwaigen
    Ernährungsstörung entspricht, durch welche die isolirte Leitung der
    Fibrillen in der Nervenfaser aufgehoben wird u. dgl., doch will ich
    dieses Gebiet verlassen und lieber aus der Histologie des Nerven-
    systems ein Beispiel anführen, in welchem die Annahme der fibrillären
    Structur sich als aufklärend für ein morphologisches Verhältniss
    erweist.

    Es ist lange bekannt, dass die Spinalganglien der Fische bipolare Zellen
    enthalten, deren Fortsätze nach entgegengesetzten Richtungen – central und
    peripher – verlaufen. Es ist durch die Untersuchungen von R a n v i e r ,1
    dann von K e y und R e t z i u s 2 erwiesen worden, dass die Spinalganglienzellen
    der höheren Wirbelthiere nicht eigentlich unipolar sind, sondern
    einen Fortsatz besitzen, welcher nach längerem oder kürzerem Verlauf in
    zwei entgegengesetzt gerichtete Fortsätze auseinandergeht. Ich3 habe dann
    gezeigt, dass bei einem der niedersten Wirbelthiere, dem Petromyzon, beide
    Zellformen in den Spinalganglien vorhanden sind und einander morphologisch
    vertreten, auch durch eine fliessende Reihe von Uebergangsformen
    verbunden werden. Nach diesen Befunden scheint die Ueberzeugung von der
    anatomischen Gleichwerthigkeit der bipolaren und der unipolaren Zellen
    mit getheiltem Fortsatz allgemeinen Eingang gefunden zu haben.15 Die Annahme
    einer physiologischen Gleichwerthigkeit scheint dagegen auf Schwierigkeiten
    zu stossen. In der bipolaren Zelle liegt der Zellleib offenbar auf
    dem Wege der Nervenleitung, in der unipolaren Zelle liegt er seitab davon,
    und es scheint für die Leitung der Erregung einen kürzeren Weg aus dem
    centralen Fortsatz in den peripheren zu geben. Diese Schwierigkeit besteht
    aber nur so lange, als wir die Nervenfaser als eine einheitliche Leitungsbahn
    betrachten. Sobald wir in der Nervenfaser isolirt leitende Fibrillen annehmen,
    ist diese Schwierigkeit behoben. Es ist dann offenbar gleichgiltig, ob
    die isolirt leitenden Fibrillen beider Fortsätze von einander getrennt oder in
    einer Strecke neben einander liegen; der Weg der Erregung geht dann immer
    durch das Protoplasmanetz im Zellleib, und die morphologische Gleichwerthigkeit
    hat ihr physiologisches Correlat gefunden.

    1 Comptes Rendus, T. 81.

    2 Studien in der Anatomie des Nervensystems und des Bindegewebes, 1876.

    3 Sitzungsb. der Wiener Akademie, LXXVIII. Bd., 1878.