„Ein Kind wird geschlagen“ 1919-002/1919
  • S.

    Originalarbeiten.

    I
    „Ein Kind wird geschlagen.“

    Beitrag zur Kenntnis der Entstehung sexueller Perversionen.
    Von Sigm. Freud.

    es

    Die Phantasievorstellung: „ein Kind wird geschlagen“ wird mit
    überraschender Häufigkeit von Personen eingestanden, die wegen
    einer Hysterie oder einer Zwangsneurose die analytische Behandlung
    aufgesucht haben. Es ist recht wahrscheinlich, daß sie noch öfter
    bei anderen vorkommt, die nicht durch manifeste Erkrankung zu
    diesem Entschluß genötigt worden sind.

    An diese Phantasie sind Lustgefühle geknüpft, wegen welcher sie
    ungezihlte Male reproduziert worden ist oder noch immer reprodu-
    ziert wird. Auf der Höhe der vorgestellten Situation setzt sich fast
    regelmäßig eine onanistische Befriedigung (an den Genitalien also)
    durch, anfangs mit Willen der Person, aber ebenso spåterhin mit
    Zwangscharakter gegen ihr Widerstreben.

    Das Eingeständnis dieser Phantasie erfolgt nur zôgernd, die Er-
    innerung an ihr erstes Auftreten ist unsicher, der analytischen. Be-
    handlung des Gegenstandes tritt ein unzweideutiger Widerstand ent-
    gegen, Schimen und SchuldbewuBtsein regen sich hiebei vielleicht
    kräftiger als bei ähnlichen Mitteilungen über die erinnerten Anfänge
    des Sexuallebens.

    Es 1äßt sich endlich feststellen, daß die ersten Phantasien dieser
    Art sehr frühzeitig gepflegt worden sind, gewiß vor dem Schulbesuch,
    schon im fünften und sechsten Jahr. Wenn das Kind in der Schule
    mitangesehen hat, wie andere Kinder vom Lehrer geschlagen wurden,
    so hat dies Erleben die Phantasien wieder hervorgerufen, wenn sie
    eingeschlafen waren, hat sie verstärkt, wenn sie noch bestanden, und.
    ihren Inhalt in merklicher Weise modifiziert. Es wurden von da an

    Zeitschr. f. ūrztl. Paychoanalyse. V/3. 11

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    152 Sigm. Freud.

    „unbestimmt viele“ Kinder geschlagen. Der Einfluß der Schule war
    so deutlich, daß die betreffenden Patienten zunächst versucht waren,
    ihre Schlagephantasien ausschließlich auf diese Eindrücke der Schul- `
    zeit, nach dem sechsten Jahr, zurückzuführen. Allein dies ließ sich
    niemals halten; sie waren schon vorher vorhanden gewesen.

    Horte das Schlagen der Kinder in hoheren Schulklassen auf, so
    wurde dessen Einfluß durch die Einwirkung der bald zu Bedeutung
    kommenden Lektüre mehr als nur ersetzt. In dem Milieu meiner Pa-
    tienten waren es fast immer die nåmlichen, der Jugend zugänglichen
    Biicher, aus deren Inhalt sich die Schlagephantasien neue Anregungen
    holten: die sogenannte Bibliothéque rose, Onkel Toms Hütte u. dgl.
    Im Wetteifer mit diesen Dichtungen begann die eigene Phantasie-
    tätigkeit des Kindes, einen Reichtum von Situationen und Institutionen
    zu erfinden, in denen Kinder wegen ihrer Schlimmheit und ihrer Un-
    arten geschlagen oder in anderer Weise bestraft und gezüchtigt
    werden.

    Da die Phantasievorstellung, ein Kind wird geschlagen, regel-
    mäßig mit hoher Lust besetzt war und in einen Akt lustvoller auto-
    erotischer Befriedigung auslief, könnte man erwarten, daß auch das
    Zuschauen, wie ein anderes Kind in der Schule geschlagen wurde, eine
    Quelle åhnliches Genusses gewesen sei. Allein dies war nie der Fall.
    Das Miterleben realer Schlageszenen in der Schule rief beim zuschau-
    enden Kinde ein eigentiimlich aufgeregtes, wahrscheinlich gemischtes,
    Gefühl hervor, an dem die Ablehnung einen großen Anteil hatte. In
    einigen Fållen wurde das reale Erleben der Schlageszenen als unertråg-
    lich empfunden. Ubrigens wurde auch in den raffinierten Phanta-
    sien spåterer Jahre an der Bedingung festgehalten, daB den geziich-
    tigten Kindern kein ernsthafter Schaden zugefügt werde.

    Man mußte die Frage aufwerfen, welche Beziehung zwischen der
    Bedeutung der Schlagephantasien und der Rolle bestehen möge, die
    reale körperliche Züchtigungen in der häuslichen Erziehung des Kin-
    des gespielt hätten. Die nächstliegende Vermutung, es werde sich hie-
    bei eine umgekehrte Relation ergeben, ließ sich infolge der Einseitig-
    keit des Materials nicht erweisen. Die Personen, die den Stoff für
    diese Analysen hergaben, waren in ihrer Kindheit sehr selten ge-
    schlagen, waren jedenfalls nicht mit Hilfe von Prügeln erzogen wor-
    den. Jedes dieser Kinder hatte natürlich doch irgend einmal die über-
    legene Körperkraft seiner Eltern oder Erzieher zu spüren bekommen;
    daß es an Schlågereien zwischen den Kindern selbst in keiner Kinder-
    stube gefehlt, bedarf keiner ausdrücklichen Hervorhebung.

    Bei jenen frühzeitigen und simplen Phantasien, die nicht offen-
    kundig auf den Einfluß von Schuleindriicken oder Szenen aus der
    Lektüre hinwiesen, wollte die Forschung gern mehr erfahren. Wer

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    „Ein Kind wird geschlagen.“ 153

    war das geschlagene Kind? Das phantasierende selbst oder ein frem-
    des? War es immer dasselbe Kind oder beliebig oft ein anderes? Wer
    war es, der das Kind schlug? Ein Erwachsener? Und wer dann?
    Oder phantasierte das Kind, daß es selbst ein anderes schlüge? Auf
    alle diese Fragen kam keine aufklirende Auskunft, immer nur die eine
    scheue Antwort: Ich weiß nichts mehr darüber: ein Kind wird ge
    schlagen.

    Erkundigungen nach dem Geschlecht des geschlagenen Kindes
    hatten mehr Erfolg, brachten aber auch kein Verståndnis. Manchmal
    wurde geantwortet: Immer nur Buben, oder: Nur Mädel; öfter hieß
    es: Das weiß ich nicht, oder: Das ist gleichgültig. Das, worauf es
    dem Fragenden ankam, eine konstante Beziehung zwischen dem Ge-
    schlecht des phantasierenden und dem des geschlagenen Kindes, stellte
    sich niemals heraus. Gelegentlich einmal kam noch ein charakteri-
    stisches Detail aus dem Inhalt der Phantasie zum Vorschein: Das
    kleine Kind wird auf den nackten Popo geschlagen.

    Unter diesen Umständen konnte man vorerst nicht einmal ent-
    scheiden, ob die an der Schlagephantasie haftende Lust als eine
    sadistische oder als eine masochistische zu bezeichnen sei.

    ИЕ

    Die Auffassung einer solchen, im frithen Kindesalter vielleicht
    bei zufälligen Anlässen auftauchenden, und zur autoerotischen Befrie-
    digung festgehaltenen Phantasie kann nach unseren bisherigen Ein-
    sichten nur lauten, daß es sich hiebei um einen primären Zug von
    Perversion handle. Eine der Komponenten der Sexualfunktion sei
    den anderen in der Entwicklung vorangeeilt, habe sich vorzeitig selb-
    ständig gemacht, sich fixiert und dadurch den späteren Entwicklungs-
    vorgången entzogen, damit aber ein Zeugnis für eine besondere,
    anomale Konstitution der Person gegeben. Wir wissen, daß eine
    solche infantile Perversion nicht fürs Leben zu verbleiben braucht,
    sie kann noch später der Verdrängung verfallen, durch eine Reak-
    tionsbildung ersetzt oder durch eine Sublimierung umgewandelt wer-
    den. (Vielleicht ist es aber so, daß die Sublimierung aus einem beson-
    deren Prozeß hervorgeht, welcher durch die Verdrängung hintange-
    halten würde.) Wenn aber diese Vorgänge ausbleiben, dann erhält
    sich die Perversion im reifen Leben, und wo wir beim Erwachsenen
    eine sexuelle Abirrung — Perversion, Fetischismus, Inversion — vor-
    finden, da erwarten wir mit Recht, ein solches fixierendes Ereignis
    der Kinderzeit durch anammestische Erforschung aufzudecken. Ja
    lange vor der Zeit der Psychoanalyse haben Beobachter wie Binet
    die sonderbaren sexuellen Abirrungen der Reifezeit auf solehe Ein-

    IM

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    154 Sigm. Freud.

    driicke, gerade der nåmlichen Kinderjahre von fiinf oder sechs an,
    zurückführen können. Man war hiebei allerdings auf eine Schranke
    unseres Verstündnisses gestoßen, denn den fixierenden Eindrücken
    fehlte jede traumatische Kraft, sie waren zumeist banal und für
    andere Individuen nicht aufregend; man konnte nicht sagen, warum
    sich das Sexualstreben gerade an sie fixiert hatte. Aber man konnte
    ihre Bedeutung darin suchen, daf sie eben der voreiligen und sprung-
    bereiten Sexualkomponente den wenn auch zufälligen Anlaß zur An-
    heftung geboten hatten, und man mußte ja darauf vorbereitet sein,
    daß die Kette der Kausalverknüpfung irgendwo ein vorlåufiges Ende
    finden werde. Gerade die mitgebrachte Konstitution schien allen
    Anforderungen an einen solchen Haltepunkt zu entsprechen.

    Wenn die frühzeitig losgerissene Sexualkomponente die sadisti-
    Sche ist, so bilden wir auf Grund anderswo gewonnener Einsicht die
    Erwartung, daß durch spätere Verdrängung derselben eine Disposi-
    tion zur Zwangsneurose geschaffen werde. Man kann nicht sagen,
    daß dieser Erwartung durch das Ergebnis der Untersuchung wider-
    sprochen wird. Unter den sechs Füllen, auf deren eingehendem Stu-
    dium diese kleine Mitteilung aufgebaut ist (vier Frauen, zwei Min-
    ner) befanden sich zwei Fülle von Zwangsneurose, ein allerschwerster,
    lebenszerstórender, und ein mittelschwerer, der Beeinflussung gut
    zugünglicher, ferner ein dritter, der wenigstens einzelne deutliche
    Züge der Zwangsneurose aufwies. Ein vierter Fall war freilich eine
    glatte Hysterie mit Schmerzen und Hemmungen, und ein fünfter, der
    die Analyse bloB wegen Unschlüssigkeiten im Leben aufsuchte, wire
    von grober klinischer Diagnostik überhaupt nicht klassifiziert oder
    als ,Psychastheniker' abgetan worden. Man darf in dieser Statistik
    keine Enttäuschung erblicken, denn erstens wissen wir, daß nicht
    jegliche Disposition sich zur Affektion weiter entwickeln muß, und
    zweitens darf es uns genügen zu erklären, was vorhanden ist, und
    dürfen wir uns der Aufgabe, auch verstehen zu lassen, warum etwas
    nicht zu stande gekommen ist, im allgemeinen entziehen.

    So weit und nieht weiter würden uns unsere gegenwürtigen Ein-
    sichten ins Verstündnis der Schlagephantasien eindringen lassen. Eine
    Ahnung, daß das Problem hiemit nicht erledigt ist, regt sich aller-
    dings beim analysierenden Arzte, wenn er sich eingestehen muß, daß
    diese Phantasien meist abseits vom übrigen Inhalt der Neurose bleiben
    und keinen rechten Platz in deren Gefüge einnehmen, aber man pflegt,
    wie ich aus eigener Erfahrung weiß, über solche Eindrücke gern
    hinwegzugehen.

    III.

    Streng genommen — und warum sollte man dies nicht so streng

    als möglich nehmen? —, verdient die Anerkennung als korrekte

  • S.

    „Ein Kind wird geschlagen.“ 155

    Psychoanalyse nur die analytische Bemiihung, der es gelungen ist,
    die Amnesie 'zu beheben, welche dem Erwachsenen die Kenntnis seines
    Kinderlebens vom Anfang an (d. h. etwa vom zweiten bis zum fünften
    Jahr) verhüllt. Man kann das unter Analytikern nicht laut genug
    sagen und nicht oft genug wiederholen. Die Motive, sich über diese
    Mahnung hinwegzusetzen, sind ja begreiflich. Man möchte brauch-
    bare Erfolge in kürzerer Zeit und mit geringerer Miihe erzielen.
    Aber gegenwärtig ist die theoretische Erkenntnis noch ungleich wich-
    tiger für jeden von uns als der therapeutische Erfolg, und wer die
    Kindheitsanalyse vernachlässigt, muß notwendig den folgenschwersten
    Irrtümern verfallen. Eine Unterschitzung des Einflusses späterer
    Erlebnisse wird durch diese Betonung der Wichtigkeit der frühesten
    nicht bedingt; aber die späteren Lebenseindrücke sprechen in der
    Analyse laut genug durch den Mund des Kranken, für das Anrecht
    der Kindheit muß erst der Arzt die Stimme erheben.

    Die Kinderzeit zwischen zwei und vier oder fünf Jahren ist die-
    jenige, in welcher die mitgebrachten libidinösen Faktoren von den Er-
    lebnissen zuerst geweckt und an gewisse Komplexe gebunden werden.
    Die hier behandelten Schlagephantasien zeigen sich erst zu Ende oder
    nach Ablauf dieser Zeit. Es könnte also wohl sein, daß sie eine Vor-
    geschichte haben, eine Entwicklung durchmachen, einem Endausgang,
    nicht einer Anfangsäußerung entsprechen.

    Diese Vermutung wird durch die Analyse bestätigt. Die konse-
    quente Anwendung derselben lehrt, daß die Schlagephantasien eine
    gar nicht einfache Entwicklungsgeschichte haben, in deren Verlauf
    sich das meiste an ihnen mehr als einmal ändert: ihre Beziehung zur
    phantasierenden Person, ihr Objekt, Inhalt und ihre Bedeutung.

    Zur leichteren Verfolgung dieser Wandlungen in den Schlage-
    phantasien werde ich mir nun gestatten, meine Beschreibungen auf
    die weiblichen Personen einzuschränken, die ohnedies (vier gegen zwei)
    die Mehrheit meines Materials ausmachen. An die Schlagephantasien
    der Männer knüpft außerdem ein anderes Thema an, das ich in dieser
    Mitteilung beiseite lassen will. Ich werde mich dabei bemühen, nicht
    mehr zu schematisieren, als zur Darstellung eines durchschnittlichen
    Sachverhaltes unvermeidlich ist. Mag dann weitere Beobachtung
    auch eine größere Mannigfaltigkeit der Verhältnisse ergeben, so bin
    ich doch sicher, ein typisches Vorkommnis, und zwar nicht von sel-
    tener Art, erfaßt zu haben.

    Die erste Phase der Schlagephantasien bei Mädchen also muß
    einer sehr frühen Kinderzeit angehören. Einiges an ihnen bleibt in
    merkwürdiger Weise unbestimmbar, als ob es gleichgültig wäre.
    Die kärgliche Auskunft, die man von den Patienten bei der ersten
    Mitteilung erhalten hat: Ein Kind wird geschlagen, erscheint für

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    156 Sigm. Freud.

    diese Phase gerechtfertigt. Allein anderes ist mit Sicherheit bestimm-
    bar und dann allemal im gleichen Sinne. Das geschlagene Kind ist
    nämlich nie das phantasierende, regelmäßig ein anderes Kind, zu-
    meist ein Geschwisterchen, wo ein solches vorhanden ist. Da dies
    Bruder oder Schwester sein kann, kann sich hier auch keine konstante
    Beziehung zwischen dem Geschlecht des phantasierenden und dem
    des geschlagenen Kindes ergeben. Die Phantasie ist also sicherlich
    keine masochistische; man möchte sie sadistisch nennen, allein man
    darf nicht außer acht lassen, daß das phantasierende Kind auch nie-
    mals selbst das schlagende ist. Wer in Wirklichkeit die schlagende
    Person ist, bleibt zunächst unklar. Es läßt sich nur feststellen: kein
    anderes Kind, sondern ein Erwachsener. Diese unbestimmte erwach-
    sene Person wird dann späterhin klar und eindeutig als der Vater
    (des Miidchens) kenntlich.

    Diese erste Phase der Schlagephantasie wird also voll wieder-
    gegeben durch den Satz: Der Vater schlägt das Kind. Ich
    verrate viel von dem spiter aufzuzeigenden Inhalt, wenn ich anstatt
    dessen sage: Der Vater schlägt das mir verh a Bte Kind. Man
    kann iibrigens schwankend werden, ob man dieser Vorstufe der spi-
    teren Schlagephantasie auch schon den Charakter einer „Phantasie“
    zuerkennen soll. Es handelt sich vielleicht eher um Erinnerungen an
    solche Vorgänge, die man mitangesehen hat, an Wünsche, die bei ver-
    schiedenen Anlässen aufgetreten sind, aber diese Zweifel haben keine
    Wichtigkeit.

    Zwischen dieser ersten und der nächsten Phase haben sich große
    Umwandlungen vollzogen. Die schlagende Person ist zwar die näm-
    liche, die des Vaters, geblieben, aber das geschlagene Kind ist ein
    anderes geworden, es ist regelmäßig die des phantasierenden Kindes
    selbst, die Phantasie ist in hohem Grade lustbetont und hat sich mit.
    einem bedeutsamen Inhalt erfüllt, dessen Ableitung uns später be-
    schäftigen wird. Ihr Wortlaut ist jetzt also: Ich werde vom
    Vater geschlagen. Sie hat unzweifelhaft masochistischen Cha-
    rakter. i a į

    Diese zweite Phase ist die wichtigste und folgenschwerste von
    allen. Aber man kann in gewissem Sinne von ihr sagen, sie habe
    niemals eine reale Existenz gehabt. Sie wird in keinem Falle er-
    innert, sie hat es nie zum BewuBtwerden gebracht. Sie ist eine
    Konstruktion der Analyse, aber darum nicht minder eine Notwen-
    digkeit.

    "Die dritte Phase ähnelt wiederum der ersten. Sie hat den aus
    der Mitteilung der Patientin bekannten Wortlaut. Die schlagende *
    Person ist niemals die des Vaters, sie wird entweder wie in der.ersten
    Phase unbestimmt gelassen, oder in typischer Weise durch einen

  • S.

    „Ein Kind wird geschlagen.“ 157

    Vatervertreter (Lehrer) besetzt. Die eigene Person des phantasie-
    renden Kindes kommt in der Schlagephantasie nicht mehr zum Vor-
    schein. Auf eindringliches Befragen äußern die Patienten nur: Ich
    schaue wahrscheinlich zu. Anstatt des einen geschlagenen Kindes
    sind. jetzt meistens viele Kinder vorhanden. Überwiegend häufig
    sind es (in den Phantasien der Mädchen) Buben, die geschlagen werden,
    aber auch nicht individuell bekannte. Die ursprüngliche einfache
    und monotone Situation des Geschlagenwerdens kann die mannig-
    faltigsten Abånderungen und Ausschmiickungen erfahren, das Schla-
    gen selbst durch Strafen und Demütigungen anderer Art ersetzt wer-
    den. Der wesentliche Charakter aber, der auch die einfachsten Phan-
    tasien: dieser Phase von denen der ersten unterscheidet, und der die
    Beziehung zur mittleren Phase herstellt, ist der folgende: die Phan-
    tasie ist jetzt der Träger einer starken, unzweideutig sexuellen Er-
    regung und vermittelt als solcher die onanistische Befriedigung. Ge-
    rade das ist aber das Rätselhafte; auf welchem Wege ist die nun-
    mehr sadistische Phantasie, daß fremde und unbekannte Buben ge-
    schlagen werden, zu dem von da an dauernden Besitz der libidinôsen-
    Strebung des kleinen Mädchens gekommen?

    Wir verhehlen uns auch nicht, daß Zusammenhang und Aufein-
    anderfolge der drei Phasen der Schlagephantasie wie alle ihre anderen
    Eigentümlichkeiten bisher ganz unverständlich geblieben sind.

    IV.

    Führt man! die Analyse durch jene frühen Zeiten, in die die
    Schlagephantasien verlegt, und aus denen sie erinnert werden, so zeigt
    sie das Kind in die Erregungen seines Elternkomplexes verstrickt.

    Das kleine Mädchen ist zärtlich an den Vater fixiert, der wahr-
    scheinlich alles getan hat, um seine Liebe zu gewinnen, und legt dabei
    den Keim jzu einer HaB und Konkurrenzeinstellung gegen die Mutter,
    die neben einer Strömung‘ von zürtlicher Anhänglichkeit bestehen, und
    der vorbehalten sein kann, mit den Jahren immer stärker und deut-
    licher bewußt zu werden! oder den Anstoß zu einer übergroßen re-
    aktiven Liebesbindung an sie zu geben. Aber nicht an das Verhältnis
    zur Mutter knüpft die Schlagephantasie an. Es gibt in der Kinder-
    stube noch andere Kinder, um ganz wenige Jahre älter oder jünger,
    die man aus allen anderen Gründen, hauptsächlich aber darum nicht
    mag, weil man die Liebe der Eltern mit ihnen teilen soll, und die man
    darum mit der ganzen wilden Energie, die dem Gefühlsleben dieser
    Jahre eigen ist, von sich stößt. Ist es ein jüngeres Geschwisterchen
    (wie in drei von meinen vier Fällen), so verachtet man es, außerdem
    daß man es haßt, und muß doch zusehen, wie es jenen Anteil von
    Zärtlichkeit an sich zieht, den die verblendeten Eltern jedesmal für

  • S.

    158 Sigm. Freud.

    das Jüngste bereit haben. Man versteht bald, daß Geschlagenwerden,
    auch wenn es nicht sehr wehe tut, eine Absage der Liebe und eine
    Demiitigung bedeutet. So manches Kind, das sich fiir sicher thronend
    in der unerschütterlichen Liebe seiner Eltern hielt, ist durch einen
    einzigen Schlag aus allen Himmeln seiner eingebildeten Allmacht
    gestürzt worden. Also ist es eine behagliche Vorstellung, daß der
    Vater dieses verhaBte Kind schlägt, ganz unabhängig davon, ob man
    gerade ihn schlagen gesehen hat. Es heiBt: der Vater liebt dieses
    andere Kind nicht, er liebt nur mich.

    Dies ist also Inhalt und Bedeutung der Schlagephantasie in
    ihrer ersten Phase. Die Phantasie befriedigt offenbar die Eifersucht
    des Kindes und hångt von seinem Liebesleben ab, aber sie wird auch
    von dessen egoistisehen Interessen kräftig gestützt. Es bleibt also
    zweifelhaft, ob man sie als eine rein „sexuelle“ bezeichnen darf;
    auch eine ,,sadistische“ getraut man sich nicht, sie zu nennen. Man
    weiß ja, daß gegen den Ursprung hin alle die Kennzeichen zu ver-
    schwimmen pflegen, auf welche wir unsere Unterscheidungen aufzu-
    bauen gewohnt sind. Also vielleicht åhnlich wie die VerheiBung der
    drei Schicksalsschwestern an Banquo lautete: nicht sicher sexuell,
    nicht selbst sadistisch, aber doch der Stoff, aus dem später beides
    werden soll. Keinesfalls aber liegt ein Grund zur Vermutung vor,
    daß schon diese erste Phase der Phantasie einer Erregung dient,
    welche sich unter Inanspruchnahme der Genitalien Abfuhr in einem
    onanistischen Akt zu verschaffen lernt.

    In dieser vorzeitigen Objektwahl der inzestuösen Liebe erreicht
    das Sexualleben des Kindes offenbar die Stufe der genitalen Organi-
    sation. Es ist dies fiir den Knaben leichter nachzuweisen, aber auch
    fürs kleine Mädchen nicht zu bezweifeln. Etwas wie eine Ahnung
    der späteren definitiven. und normalen Sexualziele beherrscht das
    libidinöse Streben des Kindes; man mag sich füglich verwundern,
    woher es kommt, darf es aber als Beweis dafür nehmen, da die Ge-
    nitalien ihre Rolle beim Erregungsvorgang bereits angetreten haben.
    Der Wunsch, mit der Mutter ein Kind zu haben, fehlt nie beim
    Knaben, der Wunsch, vom Vater ein Kind zu bekommen, ist beim
    Mädchen konstant, und dies bei völliger Unfähigkeit, sich Klarheit
    über den Weg zu schaffen, der zur Erfüllung dieser Wünsche führen
    kann. Daß die Genitalien etwas damit zu tun haben, scheint beim
    Kinde festzustehen, wenngleich seine grübelnde Tätigkeit das Wesen
    der zwischen den Eltern vorausgesetzten Intimitåt in andersartigen
    Beziehungen suchen mag, z. B. im Beisammenschlafen, in gemein-
    samer Harnentleerung u. dgl. und solcher Inhalt eher in Wort-
    vorstellungen erfaBt werden kann als das Dunkle, das mit dem Ge-
    nitalen zusammenhångt.

  • S.

    „Ein Kind wird geschlagen.“ а 159

    Allein es kommt die Zeit, zu der diese frühe Blüte vom Frost
    geschädigt wird; keine dieser inzestuösen Verliebtheiten kann dem
    Verhängnis der Verdrängung entgehen. Sie verfallen ihr entweder
    bei nachweisbaren äußeren Anlässen, die eine Enttäuschung hervor-
    rufen, bei unerwarteten Kränkungen, bei der unerwünschten Ge-
    burt eines neuen Geschwisterchens, die als Treulosigkeit empfunden
    wird usw., oder ohne solche Veranlassungen, von innen heraus, viel-
    leicht nur infolge des Ausbleibens der zu lange ersehnten Erfüllung.
    Es ist unverkennbar, daß die Veranlassungen nicht die wirkenden Ur-
    sachen sind, sondern daß es diesen Liebesbeziehungen bestimmt ist,
    irgend einmal unterzugehen, wir können nicht sagen, woran. Am
    wahrscheinlichsten ist es, daß sie vergehen, weil ihre Zeit um ist,
    weil die Kinder in eine neue Entwicklungsphase eintreten, in welcher
    sie genötigt sind, die Verdrängung der inzestuósen Objektwahl aus
    der Menschheitsgeschichte zu wiederholen, wie sie vorher gedrängt
    waren, solche Objektwahl vorzunehmen. (Siehe das Schicksal in der
    Odipusmythe.) Was als psychisches Ergebnis der inzestučsen Liebes-
    regungen unbewuBt vorhanden ist, wird vom Bewußtsein der neuen
    Phase nicht mehr übernommen, was davon bereits bewußt geworden
    war, wieder herausgedrängt. Gleichzeitig mit diesem Verdrångungs-
    vorgang erscheint ein SchuldbewuBtsein, auch dieses unbekannter
    Herkunft, aber ganz unzweifelhaft an jene Inzestwiinsche geknüpft
    und durch deren Fortdauer im UnbewuBten gerechtfertigt.

    Die Phantasie der inzestuósen Liebeszeit hatte gesagt: Er (der
    Vater) liebt nur mich, nicht das andere Kind, denn dieses schlägt er
    ja. Das Schuldbewultsein weiß keine härtere Strafe zu finden, als
    die Umkehrung dieses Triumphes: „Nein, er liebt dich nicht, denn er
    schlägt dich.“ So würde die Phantasie der zweiten Phase, selbst vom
    Vater geschlagen zu werden, zum direkten Ausdruck des Schuld-
    bewuBtseins, dem nun die Liebe zum Vater unterliegt. Sie ist also
    masochistiseh geworden; meines Wissens ist es immer so, jedesmal ist
    das SchuldbewuBtsein das Moment, welches den Sadismus zum Maso-
    chismus umwandelt. Dies ist aber gewiB nicht der ganze Inhalt des
    Masochismus. Das SchuldbewuBtsein kann nicht allein das Feld be-
    hauptet haben; der Liebesregung muß auch ihr Anteil werden. Er-
    innern wir uns daran, daß es sich um Kinder handelt, bei denen die
    sadistische Komponente aus konstitutionellen Gründen vorzeitig und
    isoliert, hervortreten konnte. Wir brauchen diesen Gesichtspunkt
    nicht aufzugeben. Bei eben diesen Kindern ist ein Rückgreifen auf
    die prügenitale, sadistisch-anale Organisation des Sexuallebens be-
    sonders erleichtert. Wenn die kaum erreichte genitale Organisation
    von der Verdrüngung betroffen wird, so tritt nicht nur die eine Folge
    auf, daß jegliche psychische Vertretung der inzestučsen Liebe un-

  • S.

    160 Sigm. Freud.

    bewußt wird oder bleibt, sondern es kommt noch als andere Folge
    hinzu, daß die Genitalorganisation selbst eine regressive Erniedrigung
    erfibrt. Das: Der Vater liebt mich, war im genitalen Sinne ge-
    meint; durch die Regression verwandelt es sich in: Der Vater
    schlägt mich (ich werde vom Vater geschlagen). Dies Geschlagen-
    werden ist nun ein Zusammentreffen von SchuldbewuBtsein und
    Erotik; es ist nicht nur die Strafe fiir die verpönte
    genitale Beziehung, sondern auch der regressive Er
    satz fir sie, und aus dieser letzteren Quelle bezieht es die libi-
    dingse Erregung, die ihm von nun anhaften und in onanistischen
    Akten Abfuhr finden wird. Dies ist aber erst das Wesen des Maso-
    chismus.

    Die Phantasie der zweiten Phase, selbst vom Vater geschlagen
    zu werden, bleibt in der Regel unbewuBt, wahrscheinlich infolge der
    Intensität der Verdrängung. Ich kann nicht angeben, warum sie doch
    in einem meiner sechs Fille (einem männlichen) bewußt erinnert
    wurde. Dieser jetzt erwachsene Mann hatte es klar im Gedächtnis
    bewahrt, daß er die Vorstellung, von der Mutter geschlagen zu
    werden, zu onanistischen Zwecken zu gebrauchen pflegte; allerdings
    ersetzte er die eigene Mutter bald durch die Mütter von Sehul-
    kollegen oder andere, ihr irgendwie ähnliche Frauen. Es ist nicht
    zu vergessen, daß bei der Verwandlung der inzestuüsen Phantasie des
    Knaben in die entsprechende masochistische eine Umkehrung mehr
    vor sich geht als im Falle des Mädchens, nämlich die Ersetzung von
    Aktivität durch Passivitit, und dies Mehr von Entstellung mag die
    Phantasie vor dem UnbewuBtbleiben als Erfolg der Verdrängung
    schützen. Dem SchuldbewuBtsein hätte so die Regression an Stelle
    der Verdrängung genügt; in den weiblichen Fällen wäre das, viel-
    leicht an sich anspruchsvollere, Schuldbewuftsein erst durch das
    Zusammenwirken beider begiitigt worden.

    In zweien meiner vier weiblichen Fälle hatte sich über der
    masochistischen Schlagephantasie ein kunstvoller, für das Leben der
    Betreffenden sehr bedeutsamer Uberbau von Tagtriumen entwickelt,
    dem die Funktion zufiel, das Gefühl der befriedigten Erregung auch
    bei Verzicht auf den onanistischen Akt möglich zu machen. In einem
    dieser Fille durfte der Inhalt, vom Vater geschlagen zu werden,
    sich wieder ins Bewußtsein wagen, wenn das eigene Ich durch leichte
    Verkleidung unkenntlich gemacht war. Der Held dieser Geschichten
    wurde regelmåBig vom Vater geschlagen, spåter nur gestraft, ge
    demiitigt usw.

    Ich wiederhole aber, in der Regel bleibt die Phantasie unbewuBt
    und muß erst in der Analyse rekonstruiert werden. Dies läßt viel-
    leicht den Patienten recht geben, die sich erinnern wollen, die Onanie

  • S.

    „Ein Kind wird geschlagen.“ 161

    sei bei ihnen. früher aufgetreten, als die — gleich zu besprechende —
    Schlagephantasie der dritten Phase; letztere habe sich erst später
    hinzugesellt, etwa unter dem Eindruck von Schulszenen. So oft wir
    diesen Angaben Glauben schenkten, waren wir immer geneigt anzu-
    nehmen, die Onanie sei zunächst unter der Herrschaft unbewußter
    Phantasien gestanden, die später durch bewußte ersetzt wurden.

    Als solchen Ersatz fassen wir dann die bekannte Schlagephan-
    tasie der dritten Phase auf, die endgültige Gestaltung derselben, in
    der das phantasierende Kind höchstens noch als Zuschauer vorkommt,
    der Vater in der Person eines Lehrers oder sonstigen Vorgesetzten
    erhalten ist. Die Phantasie, die nun jener der ersten Phase ähnlich
    ist, scheint sich wieder ins Sadistische gewendet zu haben. Es macht
    den Eindruck, als wäre in dem Satze: Der Vater schlägt das andere
    Kind, er liebt nur mich, der Akzent auf den ersten Teil zurückge-
    wichen, nachdem der zweite der Verdrängung erlegen ist. Allein
    nur die Form dieser Phantasie ist sadistisch, die Befriedigung, die
    aus ihr gewonnen wird, ist eine masochistische, ihre Bedeutung liegt
    darin, daß sie die libidinöse Besetzung des verdrängten Anteils über-
    nommen. hat und mit dieser auch das am Inhalt haftende Schuld-
    bewußtsein. Alle die vielen unbestimmten Kinder, die vom Lehrer
    geschlagen werden, sind doch nur Ersetzungen der eigenen Person.

    Hier zeigt sich auch zum erstenmal etwas wie eine Konstanz
    des Geschlechtes bei den! der Phantasie dienenden Personen. Die ge-
    schlagenen Kinder sind fast durchwegs Knaben, in den Phantasien
    der Knaben ebensowohl wie in denen der Mädchen. Dieser Zug er-
    klärt sich greifbarerweise nicht aus einer etwaigen Konkurrenz der
    Geschlechter, denn sonst müßten ja in den Phantasien der Knaben
    vielmehr Mädchen geschlagen werden; er hat auch nichts mit dem
    Geschlecht des gehaBten Kindes der ersten Phase zu tun, sondern er
    weist auf einen komplizierenden. Vorgang bei den Mädchen hin. Wenn
    sie sich von der genital gemeinten inzestuösen Liebe zum Vater ab-
    wenden, brechen sie überhaupt leicht mit ihrer weiblichen Rolle, be-
    leben ihren „Männlichkeitskomplex“ (v. Ophuijsen) und wollen
    von da an nur Buben sein. Daher sind auch ‚ihre Prügelknaben, die
    sie vertreten, Buben. In beiden Fällen von Tagträumen — der eine
    erhob sich beinahe zum Niveau einer Dichtung — waren die Helden
    immer nur junge Männer, ja Frauen kamen in diesen Schópfungen
    überhaupt nicht vor und fanden erst nach vielen Jahren in Neben-
    rollen Aufnahme.

    V.

    Ich hoffe, ich habe meine analytischen Erfahrungen detailliert
    genug vorgetragen und bitte nur noch in Betracht zu ziehen, daß

  • S.

    162 Sigm. Freud.

    die oft erwähnten sechs Fälle nicht mein Material erschôpfen, sondern
    daß ich auch wie andere Analytiker über eine weit größere Anzahl
    von minder gut untersuchten Fällen verfüge. Diese Beobachtungen
    können nach mehreren Richtungen verwertet werden, zur Aufklärung
    über die Genese der Perversionen überhaupt. im besonderen des Maso-
    chismus, und zur Würdigung der Rolle, welche der Geschlechtsunter-
    schied in der Dynamik der. Neurose spielt.

    Das augenfålligste Ergebnis einer solchen Diskussion betrifft
    die Entstehung der Perversionen. An der Auffassung, die bei ihnen
    die konstitutionelle Verstärkung oder Voreiligkeit einer Sexualkompo-
    nente in den Vordergrund rückt, wird zwar nicht geriittelt, aber
    damit ist nicht alles gesagt. Die Perversion steht nicht mehr isoliert
    im Sexualleben des Kindes, sondern sie wird in den Zusammenhang
    der uns bekannten typischen — um nicht zu sagen: normalen — Ent-
    wicklungsvorginge aufgenommen. Sie wird in Beziehung zur in-
    zestuüsen Objektliebe des Kindes, zum Odipuskomplex desselben, ge-
    bracht, tritt auf dem Boden dieses Komplexes zuerst hervor, und
    nachdem er zusammengebrochen ist, bleibt sie, oft allein, von ihm
    übrig, als Erbe seiner libidinósen Ladung und belastet mit dem an
    ihm haftenden SchuldbewuBtsein. Die abnorme Sexualkonstitution
    hat schließlich ihre Stärke darin gezeigt, daß sie den Odipuskomplex
    in eine besondere Richtung gedrängt und ihn zu einer ungewöhnlichen
    Resterscheinung gezwungen hat.

    Die kindliche Perversion kann, wie bekannt, das Fundament für
    die Ausbildung einer gleichsinnigen, durchs Leben bestehenden Per-
    version werden, die das ganze Sexualleben des Menschen aufzehrt, oder
    sie kann abgebrochen werden und im Hintergrunde einer normalen
    Sexualentwicklung erhalten bleiben, der sie dann doch immer einen
    gewissen Energiebetrag entzieht. Der erstere Fall ist der bereits in
    voranalytischen Zeiten erkannte, aber die Kluft zwischen beiden wird
    durch die analytische Untersuchung solcher ausgewachsener Perver-
    sionen nahezu ausgefüllt. Man findet nämlich häufig genug bei
    diesen Perversen, daß auch sie, gewöhnlich in der Pubertätszeit, einen
    Ansatz zur normalen Sexualtätigkeit gebildet haben. Aber der war
    nicht kräftig genug, wurde vor den ersten; nie ausbleibenden Hin-
    dernissen aufgegeben, und dann griff die Person endgültig auf die
    infantile Fixierung zurück.

    Es wäre natürlich wichtig zu wissen, ob man die Entstehung
    der infantilen Perversionen aus dem Ödipuskomplex ganz allgemein
    tehaupten darf. Das kann ja ohne weitere Untersuchungen nicht
    entschieden werden, aber unmöglich erschiene es nicht. Wenn wir
    der Anamnesen gedenken, die von den Perversionen Erwachsener ge-
    wonnen wurden, so merken wir doch, daß der maßgebende Eindruck,

  • S.

    „Ein Kind wird geschlagen.“ 163

    das „erste Erlebnis“, all dieser Perversen, Fetischisten u. dgl. fast
    niemals in Zeiten früher als das sechste Jahr verlegt wird. Um
    diese Zeit ist die Herrschaft des Ödipuskomplexes aber bereits abge-
    laufen; das erinnerte, in so rätselhafter Weise wirksame Erlebnis
    könnte sehr wohl die Erbschaft desselben vertreten haben. Die Be-
    ziehungen zwischen ihm und dem nun verdrängten Komplex müssen
    dunkle bleiben, solange nicht die Analyse in die Zeit hinter dem
    ersten „pathogenen“ Eindruck Licht getragen hat. Man erwäge
    nun, wie wenig Wert z. B. die Behauptung einer angeborenen Homo-
    sexualität hat, die sich auf die Mitteilung stützt, die betreffende
    Person habe schon vom achten oder vom sechsten Jahre an nur Zu-
    neigung zum gleichen Geschlecht verspürt.

    Wenn aber die Ableitung der Perversionen aus dem Ödipus-
    komplex allgemein durchführbar ist, dann hat unsere Würdigung
    desselben eine neue Bekräftigung erfahren. Wir meinen ja, der
    Ödipuskomplex sei der eigentliche Kern der Neurose, die infantile
    Sexualität, die in ihm gipfelt, die wirkliche Bedingung der Neurose,
    und was von ihm im Unbewußten erübrigt, stelle die Disposition zur
    späteren neurotischen Erkrankung des Erwachsenen dar. Die Schlage-
    Phantasie und andere analoge perverse Fixierungen wären dann auch
    nur Niederschlige des Odipuskomplexes, gleichsam Narben nach dem
    abgelaufenen Prozeß, gerade so wie die berüchtigte „Minderwertig-
    keit“ einer solchen narziBtischen Narbe entspricht. Ich muß in dieser
    Auffassung Marcinowski, der sie kürzlich in glücklicher Weise
    vertreten hat (Die erotischen Quellen der Minderwertigkeitsgefiihle,
    Zeitschrift fiir Sexualwissenschaft, IV, 1918), uneingeschränkt bei-
    stimmen. Dieser Kleinheitswahn der Neurotiker ist bekanntlich auch
    nur ein partieller und mit der Existenz von Selbstiibersehåtzung aus
    anderen Quellen vollkommen verträglich. Uber die Herkunft des
    Odipuskomplexes selbst und tiber das dem Menschen wahrscheinlich
    allein unter allen Tieren zugemessene Schicksal, das Sexualleben
    zweimal beginnen zu müssen, zuerst wie alle anderen Geschöpfe von
    früher Kindheit an und dann nach langer Unterbrechung in der
    Pubertätszeit von neuem, über all das, was mit seinem „archaischen
    Erbe“ zusammenhängt, habe ich mich an anderer Stelle geäußert und
    darauf gedenke ich hier nicht einzugehen.

    Zur Genese des Masochismus liefert die Diskussion unserer
    Schlagephantasien nur spirliche Beiträge. Es scheint sich zunächst
    zu bestätigen, daß der Masochismus keine primäre TriebäuBerung ist,
    sondern aus einer Riickwendung des Sadismus gegen die eigene Person,
    also durch Regression vom Objekt aufs Ich entsteht. (Vgl. „Triebe und
    Triebschicksale* in Sammlung kleiner Schriften, IV. Folge, 1918.)
    Triebe mit passivem Ziele sind, zumal beim Weibe, von Anfang zu-

  • S.

    164 Sigm. Freud.

    zugeben, aber die Passivität ist noch nicht das Ganze des Masochismus ;
    es gehört. noch der Unlustcharakter dazu, der bei einer Trieberfüllung
    so befremdlich ist. Die Umwandlung des Sadismus in Masochismus
    scheint durch den Einfluß des am Verdrångungsakt beteiligten Schuld-
    bewuBtseins zu geschehen. Die Verdrängung äußert sich also hier
    in dreierlei Wirkungen; sie macht die Erfolge der Genitalorganisation
    unbewußt, nötigt diese selbst zur Regression auf die frühere sadistisch-
    anale Stufe und verwandelt deren Sadismus in den passiven, in ge-
    wissem Sinne wiederum narziBtischen Masochismus. Der mittlere
    dieser drei Erfolge wird durch die in diesen Fällen anzunehmende
    Schwäche der Genitalorganisation ermöglicht; der dritte wird not-
    wendig, weil das SchuldbewuBtsein am Sadismus ähnlichen Anstoß
    nimmt, wie an der genital gefaßten inzestuösen Objektwahl. Woher
    das Schuldbewußtsein selbst stammt, sagen wiederum die Analysen
    nicht. Es scheint von der neuen Phase, in die das Kind eintritt,
    mitgebracht zu werden, und wenn es von da an verbleibt, einer ähn-
    lichen Narbenbildung, wie es das Minderwertigkeitsgefühl ist, zu
    entsprechen. Nach unserer bisher noch unsicheren Orientierung in
    der Struktur des Ichs, würden wir es jener Instanz zuteilen, die sich
    als kritisches Gewissen dem übrigen Ich entgegen stellt, im Traum
    das Silberersche funktionale Phänomen erzeugt und sich im Be-
    achtungswahn vom Ich ablöst.

    Im Vorbeigehen wollen wir auch zur Kenntnis nehmen, daß die
    Analyse der hier behandelten kindlichen Perversion auch ein altes
    Rätsel lösen hilft, welches allerdings die außerhalb der Analyse
    Stehenden immer mehr gequält hat als die Analytiker selbst. Aber
    noch kürzlich hat selbst E. Bleuler als merkwürdig und uner-
    klårlich anerkannt, daß von den Neurotikern die Onanie zum Mittel-
    punkt ihres SchuldbewuBtseins gemacht werde. Wir haben von jeher
    angenommen, daß dies SchuldbewuBtsein die frühkindliche und nicht
    die Pubertåtsonanie meine, und daf es zum größten Teil nicht auf
    den onanistischen Akt, sondern auf die ihm zu Grunde liegende, wenn
    auch unbewuBte Phantasie 一 aus dem Odipuskomplex also — zu
    beziehen sei.

    Ich habe bereits ausgefiihrt, welche Bedeutung die dritte, schein-
    bar sadistische Phase der Schlagephantasie als Träger der zur Onanie
    drångenden Erregung gewinnen, und zu welcher teils gleichsinnig
    fortsetzender, teils kompensatorisch aufhebender Phantasietätigkeit
    sie anzuregen pflegt. Doch ist die zweite, unbewuBte und masochisti-
    sche Phase, die Phantasie, selbst vom Vater geschlagen zu werden,
    die ungleich wichtigere. Nicht nur, daß sie ja durch Vermittlung
    der sie ersetzenden fortwirkt; es sind auch Wirkungen auf den Cha-
    rakter nachzuweisen, welche sich unmittelbar von ihrer unbewuBten.

  • S.

    „Ein Kind wird geschlagen.“ 165

    Fassung ableiten. Menschen, die eine solche Phantasie bei sich tragen,
    entwickeln eine besondere Empfindlichkeit und Reizbarkeit gegen
    Personen, die sie in die Vaterreihe einfügen können; sie lassen sich
    leicht von ihnen kränken und bringen so die Verwirklichung der phan-
    tasierten Situation, daß sie vom Vater geschlagen werden, zu ihrem
    Leid und Schaden zu stande. Ich würde nicht verwundert sein, wenn
    es einmal gelänge, dieselbe Phantasie als Grundlage des paranoischen
    Querulantenwahns nachzuweisen.

    VI.

    Die Beschreibung der infantilen Schlagephantasien wäre völlig
    unübersichtlich geraten, wenn ich sie nicht, von wenigen Beziehungen
    abgesehen, auf die Verhältnisse bei weiblichen Personen eingeschränkt
    hätte. Ich wiederhole kurz die Ergebnisse: Die Schlagephantasie
    der kleinen Mädchen macht drei Phasen durch, von denen die erste
    und letzte als bewußt erinnert werden, die mittlere unbewußt bleibt.
    Die beiden! bewußten scheinen sadistisch, die mittlere, unbewußte, ist
    unzweifelhaft masochistischer Natur, ihr Inhalt ist, vom Vater ge-
    schlagen zu werden, an ihr hängt die libidinöse Ladung und das
    Schuldbewußtsein. Das geschlagene Kind ist in den beiden ersteren
    Phantasien stets ein anderes, in der mittleren Phase nur die eigene
    Person, in der dritten, bewußten, Phase sind es weit überwiegend nur
    Knaben, die geschlagen werden. Die schlagende Person ist von Anfang
    an der Vater, später ein Stellvertreter aus der Vaterreihe. Die un-
    bewußte Phantasie der mittleren Phase hatte ursprünglich genitale
    Bedeutung, ist durch Verdringung und Regression aus dem in-
    zestuüsen Wunsch, vom Vater geliebt zu werden, hervorgegangen. In
    anscheinend lockerem Zusammenhange schließt sich an, daß die Måd-
    chen zwischen der zweiten und dritten Phase ihr Geschlecht wechseln,
    indem sie sich zu Knaben phantasieren.

    In der Kenntnis der Schlagephantasieen der Knaben bin ich, viel-
    leicht mur durch die Ungunst des Materials, weniger weit gekommen.
    Ich habe begreiflicherweise volle Analogie der Verhältnisse bei Kna-
    ben und Mädchen erwartet, wobei an die Stelle des Vaters in der
    Phantasie die Mutter hätte treten müssen. Die Erwartung schien
    sich auch zu bestätigen, denn die für entsprechend gehaltene Phantasie
    des Knaben hatte zum Inhalt, von der Mutter (später von ciner Ersatz-
    person) geschlagen zu werden. Allein diese Phantasie, in welcher die
    eigene Person als Objekt festgehalten war, unterschied sich von der
    zweiten Phase bei Mädchen dadurch, dal sie bewußt werden konnte.
    Wollte man sie aber darum eher der dritten Phase beim Mädchen
    gleichstellen, so blieb als neuer Unterschied, daß die eigene Person
    des Knaben, nicht durch viele, unbestimmte, fremde, am wenigsten

  • S.

    166 Sigm. Freud.

    durch viele Mädchen ersetzt war. Die Erwartung eines vollen Pa-
    rallelismus hatte sich also getäuscht.

    Mein männliches Material umfaBte nur wenige Fille mit infan-
    tiler Schlagephantasie ohne sonstige grobe Schädigung der Sexual-
    tåtigkeit, dagegen eine größere Anzahl von Personen, die als richtige
    Masochisten im Sinne der sexuellen Perversion bezeichnet werden
    mußten. Es waren entweder solche, die ihre Sexualbefriedigung aus-
    schlieBlich in Onanie bei masochistischen Phantasien fanden, oder
    denen es gelungen war, Masochismus und Genitalbetåtigung so zu
    “verkoppeln, daß sie bei masochistischen Veranstaltungen und unter
    ebensolchen Bedingungen Erektion und Ejakulation erzielten oder
    zur Ausfiihrung eines normalen Koitus befåhigt wurden. Dazu kam
    der seltenere Fall, daß ein Masochist in seinem perversen Tun durch
    unerträglich stark auftretende Zwangsvorstellungen . gestört wurde.
    Befriedigte Perverse haben nun selten Grund, die Analyse aufzu-
    suchen; fiir die drei angeführten Gruppen von Masochisten können
    sich aber starke Motive ergeben, die sie zum Analytiker fithren.
    Der masochistische Onanist findet sich absolut impotent, wenn er
    endlich doch den Koitus mit dem Weibe versucht, und wer bisher
    mit Hilfe einer masochistischen Vorstellung oder Veranstaltung den
    Koitus zu stande gebracht hat, kann plötzlich die Entdeckung machen,
    daB dies ihm bequeme Biindnis versagt hat, indem das Genitale auf
    den masochistischen Anreiz nicht mehr reagiert. Wir sind gewohnt,
    den psychisch Impotenten, die sich in unsere Behandlung begeben,
    zuversichtlich Herstellung zu versprechen, aber wir sollten auch in
    dieser Prognose zuriiekhaltender sein, solange uns die Dynamik der
    Störung unbekannt ist. Es ist eine bose Überraschung, wenn uns die
    Analyse als Ursache der „bloß psychischen“ Impotenz eine exquisite,
    vielleicht långst eingewurzelte, masochistische Einstellung enthiillt.

    Bei diesen masochistischen Månnern macht man nun cine Ent-
    deckung. welche uns mahnt, die Analogie mit den Verhältnissen beim
    Weibe vorerst nicht weiter zu verfolgen, sondern den Sachverhalt
    selbständig zu beurteilen. Es stellt sich nämlich heraus, daß sie in
    den masochistischen Phantasien wie bei den Veranstaltungen zur
    Realisierung derselben sich regelmäßig in die Rolle von Weibern
    versetzen, daß also ihr Masochismus mit einer femininen Einstel-

    ' lung zusammenfällt. Dies ist aus den Einzelheiten der Phantasien
    leicht nachzuweisen; viele Patienten wissen es aber auch und äußern
    es als eine subjektive Gewißheit. Daran wird nichts geändert, wenn
    der spielerische Aufputz der masochistischen Szene an der Fiktion
    eines unartigen Knaben, Pagen oder Lehrlings, der gestraft werden
    soll, festhält. Die züchtigenden Personen sind aber in den Phantasien
    wie in den Veranstaltungen jedesmal Frauen. Das ist verwirrend

  • S.

    „Ein Kind wird geschlagen.“ 167

    genug; man möchte auch wissen, ob schon der Masochismus der in-
    fantilen Schlagephantasie auf solcher femininen Einstellung beruht.

    Lassen wir darum die schwer aufzuklärenden Verhältnisse des
    Masochismus der Erwachsenen beiseite und wenden uns zu den infan-
    tilen Schlagephantasien beim männlichen Geschlecht. Hier gestattet
    uns die Analyse der frühesten Kinderzeit wiederum, einen über-
    raschenden Fund zu machen: Die bewußte oder bewußtseinsfähige
    Phantasie des Inhalts, von der Mutter geschlagen zu werden, ist nicht
    primär. Sie hat ein Vorstadium, das regelmäßig unbewußt ist und
    das den Inhalt hat: Ich werde vom Vater geschlagen.
    Dieses Vorstadium entspricht also wirklich der zweiten Phase der
    Phantasie beim Mädchen. Die bekannte und bewußte Phantasie: Ich
    werde von der Mutter geschlagen, steht am der Stelle der dritten
    Phase beim Mädchen, in der, wie erwähnt, unbekannte Knaben die
    geschlagenen Objekte sind. Ein der ersten Phase beim Mädchen ver-
    gleichbares Vorstadium sadistischer Natur konnte ich beim Knaben
    nicht nachweisen, aber ich will hier keine endgültige Ablehnung aus-
    sprechen, denn ich sehe die Möglichkeit komplizierterer Typen
    wohl ein.

    Das Geschlagenwerden der männlichen Phantasie, wie ich sie
    kurz und hoffentlich nicht mißverständlich nennen werde, ist gleich-
    falls ein durch Regression erniedrigtes Geliebtwerden im genitalen
    Sinne. Die unbewußte männliche Phantasie hat also ursprünglich
    nicht gelautet: Ich werde vom Vater geschlagen, wie wir es vorhin
    vorläufig hinstellten, sondern vielmehr: Ich werde vom Vater
    geliebt. Sie ist durch die bekannten Prozesse umgewandelt worden
    in die bewußte Phantasie: Ich werde von der Mutter ge-
    schlagen. Die Schlagephantasie des Knaben ist also von Anfang
    an eine passive, wirklich aus der femininen Einstellung zum Vater
    hervorgegangen. Sie entspricht auch ebenso wie die weibliche (die
    des Mädchens) dem Ödipuskomplex, nur ist der von uns erwartete
    Parallelismus zwischen. beiden gegen eine Gemeinsamkeit anderer Art
    aufzugeben: In beiden Fällen leitet sich die Schlage-
    Phantasie von der inzestuösen Bindung an den Va-
    ter ab.

    Es wird der Übersichtlichkeit dienen, wenn ich hier die anderen
    Ubereinstimmungen und Verschiedenheiten zwischen den Schlage-
    Phantasien der beiden Geschlechter anfüge. Beim Mädchen geht die
    unbewußte masochistische Phantasie von der normalen Ödipuseinstel-
    lung aus; beim Knaben von der verkehrten, die den Vater zum Liebes-
    objekt nimmt. Beim Mädchen hat die Phantasie eine Vorstufe (die
    erste Phase), in welcher das Schlagen in seiner indifferenten Bedeu-
    tung auftritt und eine eifersüchtig gehaßte Person betrifft; beides

    Zeitschr. f, ärztl, Psychoanalyse, V/3. 12

  • S.

    168 Sigm. Freud.

    entfällt beim Knaben, doch könnte gerade diese Differenz durch
    glücklichere Beobachtung beseitigt werden. Beim Übergang zur er-
    setzenden ‘bewuften Phantasie hält das Mädchen die Person des
    Vaters und somit das Geschlecht der schlagenden Person fest; es
    ändert aber die geschlagene Person und ihr Geschlecht, so daß am
    Ende ein Mann männliche Kinder schlägt; der Knabe ändert im
    Gegenteil Person und Geschlecht des Schlagenden, indem er Vater
    durch Mutter ersetzt, und behält seine Person bei, so daß am Ende
    der Schlagende und die geschlagene Person verschiedenen Geschlechts
    sind. Beim Mädchen wird die ursprünglich masochistische (passive)
    Situation durch die Verdrängung in eine sadistische umgewandelt,
    deren sexueller Charakter sehr verwischt ist, beim Knaben bleibt sie
    masochistisch und bewahrt infolge der Geschlechtsdifferenz zwischen
    schlagender und geschlagener Person mehr Ähnlichkeit mit der ur-
    sprünglichen, genital gemeinten Phantasie. Der Knabe entzieht sich
    durch die Verdrängung und Umarbeitung der unbewußten Phantasie
    seiner Homosexualität; das Merkwürdige an seiner späteren bewußten
    Phantasie ist, daß sie feminine Einstellung ohne homosexuelle Objekt-
    wahl zum Inhalt hat. Das Mädchen dagegen entläuft bei dem gleichen
    Vorgang dem Anspruch des Liebeslebens überhaupt, phantasiert sich
    zum Manne, ohne selbst männlich aktiv zu werden, und. wohnt dem
    Akt, welcher einen sexuellen ersetzt; nur mehr als Zuschauer bei.
    Wir sind berechtigt anzunehmen, daß durch die Verdrängung
    der ursprünglichen unbewußten Phantasie nicht allzuviel geändert
    wird. Alles fürs Bewußtsein Verdrängte und Ersetzte bleibt im
    Unbewußten erhalten und wirkungsfähig. Anders ist es mit dem
    Effekt der Regression auf eine frühere Stufe der Sexualorganisation.
    Von dieser dürfen wir glauben, daß sie auch die Verhältnisse im Un-
    bewußten ändert, so daß nach der Verdrängung im Unbewußten bei
    beiden Geschlechtern zwar nicht die (passive) Phantasie, vom Vater
    geliebt zu werden, aber doch die masochistische, von ihm geschlagen
    zu werden, bestehen bleibt. Es fehlt auch nicht an Anzeichen dafür,
    daß die Verdrängung ihre Absicht nur sehr unvollkommen erreicht
    hat. Der Knabe, der ja der homosexuellen Objektwahl entfliehen
    wollte und sein Geschlecht nicht gewandelt hat, fühlt sich doch in
    seinen bewuften Phantasien als Weib und stattet die schlagenden
    Frauen mit männlichen Attributen und Eigenschaften aus. Das
    Mädchen, das selbst sein Geschlecht aufgegeben und im ganzen gründ-
    lichere Verdringungsarbeit geleistet hat, wird doch den Vater nicht
    los, getraut sich nicht, selbst zu schlagen, und weil es selbst zum
    Buben geworden ist, läßt es hauptsächlich Buben geschlagen‘ werden.
    “Ich weiß, daß die hier beschriebenen Unterschiede im Verhalten
    ‘der Schlagephantasie bei beiden Geschlechtern nicht genügend auf-

  • S.

    „Ein Kind wird geschlagen.“ 169

    geklärt sind, unterlasse aber den Versuch, diese Komplikationen durch
    Verfolgung ihrer Abhängigkeit von anderen Momenten zu entwirren,
    weil ich selbst das Material der Beobachtung nicht für erschöpfend
    halte. Soweit es aber vorliegt, möchte ich es zur Prüfung zweier
    Theorien benützen, die, einander entgegengesetzt, beide die Beziehung
    der Verdrängung zum Geschlechtscharakter behandeln und dieselbe,
    jede in ihrem Sinne, als eine sehr innige darstellen. Ich schicke vor-
    aus, daß ich beide immer für unzutreffend und irreführend gehalten
    habe.

    Die erste dieser Theorien ist anonym; sie wurde mir vor vielen
    Jahren von einem damals befreundeten Kollegen vorgetragen. Ihre
    großzügige Einfachheit wirkt so bestechend, daß man sich nur ver-
    wundert fragen muß, warum sie sich seither in der Literatur nur durch
    vereinzelte Andeutungen vertreten findet. Sie lehnt sich an die bi-
    sexuelle Konstitution der menschlichen Individuen und behauptet,
    bei jedem einzelnen sei der Kampf der Geschlechtscharaktere das
    Motiv der Verdrängung. Das stärker ausgebildete, in der Person
    vorherrschende Geschlecht habe die seelische Vertretung des unter-
    legenen Geschlechts ins Unbewußte verdrängt. Der Kern des Un-
    bewufiten, das Verdrängte, sei also bei jedem Menschen das in ihm
    vorhandene Gegengeschlechtliche. Das kann einen greifbaren Sinn
    wohl nur dann geben, wenn wir das Geschlecht eines Menschen durch
    die Ausbildung seiner Genitalien bestimmt sein lassen, sonst wird ja
    das stärkere Geschlecht eines Menschen unsicher, und wir laufen
    Gefahr, das, was uns als Anhaltspunkt bei der Untersuchung dienen
    soll, selbst wieder aus deren Ergebnis abzuleiten. Kurz zusammen-
    gefaßt: Beim Manne ist das unbewußte Verdrängte auf weibliche
    Triebregungen zurückzuführen; umgekehrt so beim Weibe.

    Die zweite Theorie ist neuerer Herkunft; sie stimmt mit der
    ersten darin überein, daß sie wiederum den Kampf der beiden Ge-
    schlechter als entscheidend für die Verdrängung hinstellt. Im übrigen
    muß sie mit der ersteren in Gegensatz geraten; sie beruft sich auch
    nicht auf biologische, sondern auf soziologische Stützen. Diese von
    Alf. Adler ausgesprochene Theorie des „männlichen Protestes“ hat
    zum Inhalt, daß jedes Individuum sich sträubt, auf der minder-
    wertigen „weiblichen Linie zu verbleiben und zur allein befriedi-
    genden männlichen Linie hindrängt. Aus diesem männlichen Protest
    erklärt Adler ganz allgemein die Charakter- wie die Neurosen-
    bildung. Leider sind die beiden, doch gewiß auseinander zu haltenden
    Vorgänge bei Adler so wenig scharf geschieden und wird die Tat-
    sache der Verdrängung überhaupt so wenig gewürdigt, daß man sich
    der Gefahr eines Mißverständnisses aussetzt, wenn man die Lehre
    vom männlichen Protest auf die Verdrängung anzuwenden versucht.

    12"

  • S.

    170 Sigm. Freud.

    Ich meine, dieser Versuch müßte ergeben, daß der männliche Protest,
    das Abrückenwollen von der weiblichen Linie, in allen Fällen das
    Motiv der Verdrängung ist. Das Verdrångende wäre also stets eine
    männliche, das Verdrängte eine weibliche Triebregung. Aber auch
    das Symptom wire Ergebnis einer weiblichen Regung, denn wir
    können den Charakter des Symptoms, daß es ein Ersatz des Ver-
    drängten sei, der sich der Verdrängung zum Trotze durchgesetzt
    hat, nicht aufgeben.

    Erproben wir nun die beiden Theorien, denen sozusagen die
    Sexualisierung des Verdringungsvorganges gemeinsam ist, an dem
    Beispiel der hier studierten Schlagephantasie. Die ursprüngliche
    Phantasie: Ich werde vom Vater geschlagen, entspricht beim Knaben
    einer femininen Einstellung, ist also eine Äußerung seiner gegenge-
    schlechtlichen Anlage. Wenn sie der Verdrängung unterliegt, so scheint
    die erstere Theorie Recht behalten zu sollen, die ja die Regel auf-
    gestellt hat, das Gegengeschlechtliche deckt sich mit dem Ver-
    drängten. Es entspricht freilich unseren Erwartungen wenig, wenn
    das, was sich nach erfolgter Verdrängung herausstellt, die bewußte
    Phantasie, doch wiederum die feminine Einstellung, nur diesmal zur
    Mutter, aufweist. Aber wir wollen nicht auf Zweifel eingehen,
    wo die Entscheidung so nahe bevorsteht. Die ursprüngliche Phan-
    tasie der Mädchen: Ich werde vom Vater geschlagen (d.h.: geliebt),
    entspricht doch gewiß als feminine Einstellung dem bei ihnen vor-
    herrschenden, manifesten Geschlecht, sie sollte also der Theorie zu-
    folge der Verdrängung entgehen, brauchte nicht unbewußt zu wer-
    den. In Wirklichkeit wird sie es doch und erfährt eine Ersetzung
    durch eine bewußte Phantasie, welche den manifesten Geschlechts-
    charakter verleugnet. Diese Theorie ist also für das Verständnis
    der Schlagephantasien unbrauchbar und durch sie widerlegt. Man
    könnte einwenden, es seien eben weibische Knaben und männische
    Mädchen, bei denen diese Schlagephantasien vorkommen und diese
    Schicksale erfahren, oder es sei ein Zug vom Weiblichkeit beim
    Knaben und von Männlichkeit beim Mädchen dafür verantwortlich
    zu machen; beim Knaben für die Entstehung der passiven Phan-
    tasie, beim Mädchen für deren Verdrängung. Wir würden dieser
    Auffassung wahrscheinlich zustimmen, aber die behauptete Be-
    ziehung zwischen manifestem Geschlechtscharakter und Auswahl des
    zur Verdrängung Bestimmten wäre darum nicht minder unhaltbar.
    Wir sehen im Grunde nur, daß bei männlichen und weiblichen Indi-
    viduen sowohl männliche wie weibliche Triebregungen vörkommen
    und ebenso durch Verdrängung unbewußt werden können.

    Sehr viel besser scheint sich die Theorie des männlichen Protestes
    gegen die Probe an den Schlagephantasien zu behaupten. Beim Kna-

  • S.

    „Ein Kind wird geschlagen.“ 171

    ben wie beim Mädchen entspricht die Schlagephantasie einer femininen
    Einstellung, also einem Verweilen auf der weiblichen Linie, und
    beide Geschlechter beeilen sich durch Verdrängung der Phantasie
    von dieser Einstellung loszukommen. Allerdings scheint der männ-
    liche Protest nur beim Mädchen vollen Erfolg zu erzielen, hier stellt
    sich ein geradezu ideales Beispiel für das Wirken des männlichen
    Protestes her. Beim Knaben ist der Erfolg nicht voll befriedigend,
    die weibliche Linie wird nicht aufgegeben, der Knabe ist in seiner
    bewufiten masochistischen Phantasie gewiß nicht „oben“. Es ent-
    spricht also der aus der Theorie abgeleiteten Erwartung, wenn wir
    in dieser Phantasie ein Symptom erkennen, das durch Mißglücken
    des männlichen Protestes entstanden ist. Es stört uns freilich, daß
    die aus der Verdrängung hervorgegangene Phantasie des Mädchens
    ebenfalls Wert und Bedeutung eines Symptoms hat. Hier, wo der
    männliche Protest seine Absicht voll durchgesetzt hat, müßte doch
    die Bedingung für die Symptombildung entfallen sein.

    Ehe wir noch aus dieser Schwierigkeit die Vermutung schöpfen,
    daß die ganze Betrachtungsweise des männlichen Protestes den Pro-
    blemen der Neurosen und Perversionen unangemessen und in ihrer
    Anwendung auf sie unfruchtbar sei, werden wir unseren Blick von
    den passiven Schlagephantasien weg zu anderen Triebäußerungen
    des kindlichen Scxuallebens richten, die gleichfalls der Verdrängung
    unterliegen. Es kann doch niemand daran zweifeln, daß es auch
    Wünsche und Phantasien gibt, die von vorn herein die männliche
    Linie einhalten und Ausdruck männlicher Triebregungen sind, z. B.
    sadistische Impulse oder die aus dem normalen Odipuskomplex her-
    vorgehenden Geliiste des Knaben gegen seine Mutter. Es ist ebenso-
    wenig zweifelhaft, daß auch diese von der Verdrängung befallen
    werden; wenn der männliche Protest die Verdrängung der passiven,
    später masochistischen Phantasien gut erklärt haben sollte, so wird
    er eben dadurch fiir den entgegengesetzten Fall der aktiven Phan-
    tasien völlig unbrauchbar. Das heißt: die Lehre vom männlichen
    Protest ist mit der Tatsache der Verdrängung überhaupt unverein-
    bar. Nur wer bereit ist, alle psychologischen Erwerbungen von sich
    zu werfen, die seit der ersten kathartischen Kur Breuers und durch
    sie gemacht worden sind, kann erwarten, daß dem Prinzip des männ-
    lichen Protestes in der Aufklärung der Neurosen und Perversionen
    eine Bedeutung zukommen wird.

    Die auf Beobachtung gestützte psychoanalytische Theorie hält
    fest daran, daß die Motive der Verdrängung nicht sexualisiert werden
    dürfen. Den Kern des seelisch UnbewuBten bildet die archaische
    Erbschaft‘ des Menschen, und dem Verdrángungsprozef verfällt, was
    immer davon beim Fortschritt zu späteren Entwicklungsphasen als

  • S.

    172 Sigm. Freud: „Ein Kind wird geschlagen.“

    unbrauchbar, als mit dem Neuen unvereinbar und ihm schädlich
    zurückgelassen werden soll. Diese Auswahl gelingt bei einer Gruppe
    von Trieben besser als bei der anderen. Letztere, die Sexualtriebe,
    vermögen es, kraft besonderer Verhältnisse, die schon oftmals auf-
    gezeigt worden sind, die Absicht der Verdrängung zu vereiteln und
    sich die Vertretung durch störende Ersatzbildungen zu erzwingen. Da-
    her ist die der Verdrängung unterliegende infantile Sexualität die
    Haupttriebkraft der Symptombildung, und das wesentliche Stück
    ihres Inhalts, der Ödipuskomplex, der Kernkomplex der Neurose.
    Ich hoffe, in dieser Mitteilung die Erwartung rege gemacht zu haben,
    daß auch die sexuellen Abirrungen des kindlichen wie des reifen Alters
    von dem nämlichen Komplex abzweigen.