„Über den Gegensinn der Urworte“ 1910-003/1910.2
  • S.

    179

    „Über den Gegensinn der Urworte.“

    Refarat über die gleichnamige Broschüre von Karl Abel, 1884.

    Von Sigm. Freud.

    In meiner „Traumdeutung“ habe ich als unverstandenes Ergebnis
    der analytischen Bemühung eine Behauptung aufgestellt, die ich nun
    zu Eingang dieses Referates wiederholen werde1):

    „„Höchst auffällig ist das Verhalten des Traumes gegen die Kate-
    gorie von Gegensatz und Widerspruch. Dieser wird schlechtweg
    vernachlässigt. Das „Nein“ scheint für den Traum nicht zu existieren.
    Gegensätze werden mit besonderer Vorliebe zu einer Einheit zusammen-
    gezogen oder in einem dargestellt. Der Traum nimmt sich ja auch die Frei-
    heit, ein beliebiges Element durch seinen Wunschgegensatz darzustellen,
    so daß man zunächst von keinem eines Gegenteils fähigen Elemente weiß,
    ob es in den Traumgedanken positiv oder negativ enthalten ist.““

    Die Traumdeuter des Altertums scheinen von der Voraussetzung,
    daß ein Ding im Traume sein Gegenteil bedeuten könne, den ausgiebig-
    sten Gebrauch gemacht zu haben. Gelegentlich ist diese Möglichkeit
    auch von modernen Traumforschern, insofern sie dem Traume überhaupt
    Sinn und Deutbarkeit zugestanden haben, erkannt worden2). Ich glaube
    auch keinen Widerspruch hervorzurufen, wenn ich annehme, daß all die-
    jenigen die oben zitierte Behauptung bestätigt gefunden haben, welche
    mir auf den Weg einer wissenschaftlichen Traumdeutung gefolgt sind.

    Zum Verständnisse der sonderbaren Neigung der Traumarbeit,
    von der Verneinung abzusehen und durch dasselbe Darstellungsmittel
    Gegensätzliches zum Ausdrucke zu bringen, bin ich erst durch die
    zufällige Lektüre einer Arbeit des Sprachforschers K. Abel gelangt,
    welche 1884 als selbstständige Broschüre veröffentlicht, im nächste Jahre
    auch unter die „Sprachwissenschaftlichen Abhandlungen“ des Verfassers
    aufgenommen worden ist. Das Interesse des Gegenstandes wird es

    1) Zweite Auflage, pag. 232, im Abschnitte VI: Die Traumarbeit.

    2) Siehe z. B. B. G. H. v. Schubert, Die Symbolik des Traumes, vierte
    Auflage, 1862, Kap: 2. Die Sprache des Traumes.

  • S.

    180

    rechtfertigen, wenn ich die entscheidenden Stellen der Abelschen 
    Abhandlung nach ihrem vollen Wortlaute (wenn auch mit Weglassung
    der meisten Beispiele) hier anführe. Wir erhalten nämlich die erstaun-
    liche Aufklärung, daß die angegebene Praxis der Traumarbeit sich
    mit. einer Eigentümlichkeit der ältesten uns bekannten Sprachen deckt.

    Nachdem Abel das Alter der ägyptischen Sprache hervorgehoben,
    die lange Zeiten vor den ersten hieroglyphischen Inschriften entwickelt
    werden sein muß, fährt er fort (pag. 4):

    „„In der ägyptischen Sprache nun, dieser einzigen Reliquie einer 
    primitiven Welt, findet sich eine ziemliche Anzahl von Worten mit zwei 
    Bedeutungen, deren eine das gerade Gegenteil der anderen besagt. 
    Man denke sich, wenn man solch augenscheinlichen Unsinn zu denken 
    vermag, daß das Wort „stark“ in der deutschen Sprache sowohl „stark“ 
    als „schwach“ bedeute; daß das Nomen „Licht“ in Berlin gebraucht 
    werde, um sowohl „Licht“ als „Dunkelheit“ zu bezeichnen; daß ein 
    Münchener Bürger das Bier „Bier“ nännte, während ein anderer das-
    selbe Wort anwendete, wenn er vom Wasser spräche, und man hat die 
    erstaunliche Praxis, welcher sich die alten Ägypter in ihrer Sprache 
    gewohnheitsmäßig hinzugeben pflegten. Wem kann man es verargen, 
    wenn er dazu ungläubig den Kopf schüttelt? …““ (Beispiele.) 

    (Pag. 7): „Angesichts dieser und vieler ähnlicher Fälle anti-
    thetischer Bedeutung (siehe Anhang) kann es keinem Zweifel unter-
    liegen, daß es in einer Sprache wenigstens eine Fülle von Worten 
    gegeben hat, Welche ein Ding und das Gegenteil dieses Dingcs gleich-
    zeitig bezeichneten. Wie erstaunlich es sei, wir stehen vor der Tatsache
    und haben damit zu rechnen.“

    Der Autor weist nun die Erklärung dieses Sachverhaltes durch 
    zufälligen Gleichlaut ab und verwahrt sich mit gleicher Entschiedenheit 
    gegen die Zurückührung desselben auf den Tiefstand der ägyptischen 
    Geistesentwicklung:

    (Pag. 9): „Nun war aber Ägypten nichts weniger, als eine Heimat 
    des Unsinnes. Es war im Gegenteil eine der frühesten Entwicklungs-
    stätten der menschlichen Vernunft … Es kannte eine reine und 
    würdevolle Morel und hatte einen großen Teil der zehn Gebote for-
    muliert, als diejenigen Völker, welchen die heutige Zivilisstion gehört, 
    blutdürstigen Idolen Menschenopfer zu schlachten pflegten. Ein Volk, 
    welches die Fackel der Gerechtigkeit und Kultur in so dunkeln Zeiten 
    entzündete, kann doch in seinem alltäglichen Reden und Denken nicht 
    geradezu stupid gewesen sein … Wer Glas machen und ungeheure 

  • S.

    181

    Blöcke maschinenmäßig zu heben und zu bewegen vermochte, muß 
    doch mindestens Vernunft genug gehabt haben, um ein Ding nicht für 
    sich selbst und gleichzeitig für sein Gegenteil anzusehen. Wie vereinen 
    wir es nun damit, daß die Ägypter sich eine so sonderbare kontra-
    diktorische Sprache gestatteten? … daß sie überhaupt den feindlichsten 
    Gedanken ein und denselben lautlichen Träger zu geben und das, was 
    sich gegenseitig am stärksten opponierte, in einer Art unlöslicher Union 
    zu verbinden pflegten?“

    Vor jedem Versuche einer Erklärung muß noch einer Steigerung 
    dieses unbegreiflichen Verfahrens der ägyptischen Sprache gedacht 
    werden. „Von allen Exzentrizitäten des ägyptischen Lexikons ist es 
    vielleicht die außerordentlichste, daß es, außer den Worten, die entgegen-
    gesetzte Bedeutungen in sich vereinen, andere zusammengesetzte 
    Worte besitzt, in denen zwei Vokabeln von entgegengesetzter Be-
    deutung zu einem Kompositum vereint werden, welches die Bedeutung 
    nur eines von seinen beiden konstituierenden Gliedern besitzt. Es gibt 
    also in dieser außerordentlichen Sprache nicht allein Worte, die sowohl 
    „stark“ als „schwach“ oder sowohl „befehlen“ als „gehorchen“ be-
    sagen; es gibt auch Komposita wie „altjung“, „fernnah“, „binden-
    trennen“, „außeninnen“ (…), die trotz ihrer, ds Verschiedenste 
    einschließenden Zusammensetzung das erste nur „jung“, das zweite 
    nur „nah”, das dritte nur „verbinden“, das vierte nur „innen“ bedeuten. 
    … Man hat also bei diesen zusammengesetzten Worten begriffliche 
    Widersprüche geradezu absichtlich vereint, nicht um einen dritten 
    Begriff zu schaffen, wie im Chinesischen mitunter geschieht, sondern 
    nur um durch des Kompositum die Bedeutung eines seiner kontra-
    diktorischen Glieder, das allein dasselbe bedeutet haben würde, auszu-
    drücken …

    Indes ist des Rätsel leichter gelöst, als es scheinen will. Unsere 
    Begriffe entstehen durch Vergleichung. „Wäre es immer hell, so würden 
    wir zwischen hell und dunkel nicht unterscheiden und demgemäß weder 
    den Begriff noch das Wort der Helligkeit haben können …
    “ „Es 
    ist offenbar, alles auf diesem Planeten ist relativ, und hat unabhängige 
    Existenz, nur insofern es in seinen Beziehungen zu und von anderen 
    Dingen unterschieden wird …
    “ „Da jeder Begriff somit der Zwilling 
    seines Gegensetzes ist, wie konnte er zuerst gedacht, wie konnte er 
    anderen, die ihn zu denken versuchten, mitgeteilt werden, wenn nicht 
    durch die Messung an seinem Gegensatz! …
    “ (Pag. 15): „„Da man 
    den Begriff der Stärke nicht konzipieren konnte, außer im Gegensatze 

  • S.

    182

    zur Sehwäche, so enthielt das Wort, welches „stark“ besagte, eine 
    gleichzeitige Erinnerung an „schwach”, als durch welche es erst zum 
    Dasein gelangte. Dieses Wort bezeichnete in Wahrheit weder „stark“ 
    noch „schwach“, sondern das Verhältnis zwischen beiden, und den 
    Unterschied beider, welcher beide gleichmäßig erschuf …
    “ „„Der 
    Mensch hat eben seine ältesten und einfachsten Begriffe nicht anders 
    erringen können, als im Gegensatze zu ihrem Gegensatz, und erst all-
    mählich die beiden Seiten der Antithese sondern und die eine ohne 
    bewußte Messung an der andern denken gelernt.

    Da die Sprache nicht nur zum Ausdruck der eigenen Gedanken, 
    sondern wesentlich zur Mitteilung derselben an andere dient, kann 
    man die Frage aufwerfen, auf welche Weise hat der „Urägypter“ dem 
    Nebenmenschen zu erkennen gegeben, „welche Seite des Zwitterbegriffes er 
    jedesmal meinte?
    “ In der Schrift geschah dies mit Hilfe der sogenannten 
    „determinativen“ Bilder, welche, hinter die Buchstabenzeichen gesetzt, 
    den Sinn derselben angeben und selbst nicht zur Aussprache bestimmt 
    sind. (Pag. 18): „Wenn das ägyptische Wort ken „stark“ bedeuten soll, 
    steht hinter seinem alphabetisch geschriebenen Laut des Bild eines 
    aufrechten, bewaffneten Mannes; wenn dasselbe Wort „schwach“ 
    auszudrücken hat, folgt den Buchstaben, die den Laut darstellen, das 
    Bild eines hockenden, lässigen Menschen. In ähnlicher Weise werden 
    die meisten anderen zweideutigen Worte von erklärenden Bildern 
    begleitet.
    “ In der Sprache diente nach Abels Meinung die Geste dazu, 
    dem gesprochenen Worte das gewünschte Vorzeichen zu gehen.

    Die „ältesten Wurzeln“ sind es, nach Abel, an denen die Er-
    scheinung des antithetischen Doppelsinnes beobachtet wird. Im weiteren 
    Verlaufe der Sprachentwicklung schwand nun diese Zweideutigkeit, 
    und im Altägyptischen wenigstens lassen sich alle Übergänge bis zur 
    Eindeutigkeit des modernen Sprachschatzes verfolgen „„Die ursprünglich 
    doppelsinnigen Worte legen sich in der späteren Sprache in je zwei 
    einsinnige auseinander, indem jeder der beiden entgegengesetzten 
    Sinne je eine lautliche „Ermäßigung“ (Modifikation) derselben Wurzel 
    für sich allein okkupiert.
    ““ So z.B. spaltet sich schon im Hieroglyphischen 
    selbst ken („starkschwach“) in ken „stark“ und kan „schwach“. „Mit 
    anderen Worten, die Begriffe die nur antithetisch gefunden werden 
    konnten, werden dem menschlichen Geiste im Laufe der Zeit genügend 
    angeübt, um jedem ihrer beiden Teile eine selbständige Existenz zu 
    ermöglichen und jedem somit seinen separaten lautlichen Vertreter 
    zu verschaffen.

  • S.

    183

    Der fürs Ägyptische leicht zu führende Nachweis kontradiktorischer 
    Urbedeutungen läßt sich nach Abel auch auf die semitischen und 
    indoeuropäischen Sprachen ausdehnen. „Wie weit dieses in anderen 
    Sprachfamilien geschehen kann, bleibt abzuwarten; denn obschon 
    der Gegensinn ursprünglich den Denkenden jeder Rasse gegenwärtig 
    gewesen sein muß, so braucht derselbe nicht überall in den Bedeutungen 
    erkennbar geworden oder erhalten zu sein.

    Abel hebt ferner hervor, daß der Philosoph Bain diesen Doppel-
    sinn der Worte, wie es scheint, ohne Kenntnis der tatsächliche Phäno-
    mene aus rein theoretischen Gründen als eine logische Notwendigkeit 
    gefordert hat. Die betreffende Stelle (Logic I, 54) beginnt mit den Sätzen:

    „The essential Relativity of all knowledge, thought or consciousness 
    cannot but show itself in language. If everything that we can know 
    is viewed as a transition from something else, every experience must 
    have two sides; and either every name must have a double meaning,
    or else for every meaning there must be two names.“

    Aus dem „Anhang von Beispielen des ägyptischen, indoger-
    manischen und arabischen Gegensinns“ hebe ich einige Fälle hervor,
    die auch uns Sprachunkundigen Eindruck machen können: Im La-
    teinischen heißt altus hoch und tief, sacer heilig und verflucht, wo 
    also noch der volle Gegensinn ohne Modifikation des Wortlaute besteht. 
    Die phonetische Abänderung zur Sonderung der Gegensätze wird 
    belegt durch Beispiele wie clamare schreien — clam leise, still; siccus 
    trocken — succus Saft. Im Deutschen bedeutet „Boden“ heute 
    noch das Oberste wie das Unterste im Haus. Unserem bös (schlecht) 
    entspricht ein bass (gut), im Altsächsischen bat (gut) gegen englisch 
    bad (schlecht); im Englischen to lock (schließen) gegen deutsch 
    Lücke, Loch. Deutsch kleben — englisch to cleave (spalten); 
    deutsch Stumm — Stimme usw. So käme vielleicht noch die viel-
    belachte Ableitung lucus a non lucendo zu einem guten Sinn.

    In seiner Abhandlung über den „Ursprung der Sprache“ (l. c., 
    pag. 305) mach Abel noch auf andere Spuren alter Denkmühlen auf-
    merksam. Der Engländer sagt noch heute, um „ohne“ auszudrücken 
    without“, also „mitohne“ und ebenso der Ostpreuße. „With“ selbst, 
    das heute unserem „mit“ entspricht, hat ursprünglich sowohl „mit“ 
    als auch „ohne“ geheißen, wie noch aus „withdraw“ (fortgehen), „with-
    hold
    “ (entziehen) zu erkennen ist. Dieselbe Wandlung erkennen wir 
    in dem deutschen „wider“ (gegen) und „wieder“ (zusammen mit).

    Für den Vergleich mit der Traumarbeit hat noch eine andere, 

  • S.

    184

    höchst sonderbare Eigentümlichkeit der altägyptischen Sprache Be-
    deutung. „Im Ägyptischen können die Worte — wir wollen zunächst 
    sagen, scheinbar — sowohl Laut wie Sinn umdrehen. Angenommen, 
    das deutsche Wort gut wäre ägyptisch, so könnte es neben gut auch 
    schlecht bedeuten, neben gut auch tug, lauten. Von solchen Laut-
    umdrehungen, die zu zahlreich sind, um durch Zufälligkeit erklärt zu 
    werden, kann man auch reichliche Beispiele aus den arischen und 
    semitischen Sprachen beibringen. Wenn man sich zunächst aufs Ger-
    manische beschränkt, merke man: Topf — pot, boat — tub, wait — 
    täuwen, hurry — Ruhe, care — reck, Balken — klobe, club.
     
    Zieht man die anderen indogermanischen Sprachen mit in Betracht, 
    so wächst die Zahl der dazugehörigen Fälle entsprechen z. B.: capere 
    — packen, ren — Niere, the leaf (Blatt) — folium, dum-a 

    ϑυμος — Sansc. mêdh, mûdha, Mut, Rauchen — Russ. Kur-iti, 
    kreischen — to shriek
    usw.

    Das Phänomen der Lautumdrehung sucht Abel aus einer 
    Doppelung, Reduplikation der Wurzel zu erklären. Hier würden wir 
    eine Schwierigkeit empfinden, dem Sprachforscher zu folgen. Wir 
    erinnern uns daran, wie gerne die Kinder mit der Umkehrung des Wort-
    lautes spielen, und wie häufig sich die Traumarbeit der Umkehrung 
    ihres Darstellungsmaterials zu verschiedenen Zwecken bedient. (Hier 
    sind es nicht mehr Buchstaben, sondern Bilder, deren Reihenfolge 
    verkehrt wird.) Wir würden also eher geneigt sein, die Lautumdrehung 
    auf ein tiefer greifendes Moment zurückzuführen1).

    In der Übereinstimmung zwischen der eingangs hervorgehobenen 
    Eigentümlichkeit der Traumarbeit und der vom Sprachforscher auf-
    gedeckten Praxis der ältesten Sprachen dürfen wir eine Bestätigung 
    unserer Auffassung vom regressiven, archaischen Charakter des Ge-
    dankenausdruckes im Traume erblicken. Und als unabweisebare Ver-
    mutung drängt sich uns Psychiatern auf, daß wir die Sprache des 
    Traumes besser verstehen und leichter übersetzen würden, wenn wir 
    von der Entwicklung der Sprache mehr wüßten2).

    1) Über das Phänomen der Lautumdrehung (Metathesis), welches zur 
    Traumarbeit vielleicht noch innigere Beziehungen hat als der Gegensinn (Anti-
    these), vgl. noch W. Meyer-Rinteln in: Kölnische Zeitung, 7. März 1909.

    2) Es liegt auch nahe anzunehmen, daß der ursprüngliche Gegensinn der 
    Worte den vorgebildeten Mechanismus darstellt, der von dem Versprechen zum 
    Gegenteile in Dienste mannigfacher Tendenzen ausgenützt wird.