S.
VIII.
Weitere Bemerkungen iiber die Abwehr-
Neuropsychosen リ .Als ,Abwehr-Neuropsychosen“ habe ich 1894 in
einem kleinen Aufsatze (Neurologisches Zentralblatt, Nr. 10 und
11) Hysterie, Zwangsvorstellungen sowie gewisse Fille von
akuter halluzinatorischer Verworrenheit zusammengefaßt, weil
sich fiir diese Affektionen der gemeinsame Gesichtspunkt er-
"geben hatte, ihre Symptome entstünden durch den psychischen
Mechanismus der (unbewuBten) Abwehr, d. .מ bei dem Ver-
suche, eine unvertrigliche Vorstellung zu verdrängen, die in
e Gegensatz zum Ich der or» getreten war. Ani s Buches „Studien
pra Hysterie von Dr. J. Breuer und mir, habe ich dann er-
S.
112
die ich auf den nachfolgenden Seiten vorliufig und in Kiirze
= berichten will. Ich kann es mit dieser Art der Mitteilung nicht
vereinen, den Behauptungen die Beweise anzufügen, deren sie
bediirfen, hoffe aber, diese Verpflichtung in einer ausführlichen
Darstellung einlösen zu können.1. Die „spezifische“ Ätiologie der Hysterie.
Daß die Symptome der Hysterie erst durch Zurückführung
auf „traumatisch“ wirksame Erlebnisse verständlich werden, und
daß diese psychischen Traumen sich auf das Sexualleben be- -
ziehen, ist von Breuer und mir bereits in früheren Veröffent-
lichungen ausgesprochen worden. Was ich heute als einförmiges
Ergebnis meiner an 13 Fällen von Hysterie durchgeführten
Analysen hinzuzufügen habe, betrifft einerseits die Natur dieser
sexuellen Traumen, anderseits die Lebensperiode, in. der sie
vorfallen. Es reicht für die Verursachung der Hysterie nicht
hin, daß zu irgend einer Zeit des Lebens ein Erlebnis auftrete,
welches das Sexnalleben irgendwie streift und durch die Ent-
bindung und Unterdrückung eines peinlichen Affektes pathogen
wird. Es müssen vielmehr diese sexuellen Traumen der
frühen Kindheit (der Lebenszeit vor der Pubertät)
angehören, und ihr Inhalt muß in wirklicher Irri-
tation der Genitalien ue hs Hole Vorgängen)
bestehen. ;
Diese spezifische Bedingung der Hysterie — ל
assivitit in vorsexuellen Zeiten — fand ich i in allenS.
113
Wesen betreffen; ferner daß man sich hüten müsse, derlei an-
gebliche Reminiszenzen den Kranken durchs Examen aufzu-
drängen, oder an die Romane, die sie selbst erdichten, zu
glauben. Den letzteren Einwendungen ist die Bitte entgegen-
zuhalten, daß doch niemand allzu sicher auf diesem dunkeln
Gebiete urteilen möge, der sich noch nicht der einzigen Methode
bedient hat, welche es zu erhellen vermag (der Psychoanalyse
zur BewuDtmachung des bisher UnbewuBten'). Das Wesentliche
an den ersteren Zweifeln erledigt sich durch die Bemerkung,
daß ja nicht die Erlebnisse selbst traumatisch wirken, sondern
deren Wiederbelebung als Erinnerung, nachdem das Indivi-
duum in die sexuelle Reifung eingetreten ist.
Meine 13 Fälle von Hysterie waren durchwegs von schwerer
Art, alle mit vieljähriger Krankheitsdauer, einige nach längerer
und erfolgloser Anstaltsbehandlung. Die Kindertraumen, welche
die Analyse‘ für diese schweren Fälle aufdeckte, mußten sämt-
lich als schwere sexuelle Schädigungen. bezeichnet werden; ge-
Jegentlich waren es geradezu abscheuliche Dinge. Unter den
Personen, welche sich eines solchen folgenschweren Abusus
schuldig machten, stehen obenan Kinderfrauen, Gouvernanten
mund andere ו ni denen man allzu sorglos die Kinder
berläßt, ferner sind in bedauerlicher Häufigkeit lehrende Per-
vertreten; in 7 von jenen 13 Fällen handelte es sich aber
ı um schuldlose kindliche Attentäter, meist Brüder, die mit
n um wenig jüngeren Schwestern Jahre hindurch sexuelle E
gen unterhalten hatten. Der Hergang war wohl jedes- |
úbnlich, wie man ihn in einzelnen Fällen mit Sicherheit
en konnte, daß nämlich der Knabe von einer Person |S.
114
alters ausschlieBen. Wenn diese doch so häufig neben der
Hysterie gefunden wird, so rührt dies von dem Umstande her,
daß die Masturbation selbst weit häufiger, als man meint, die
Folge des Mifibrauches oder der Verführung ist. Gar nicht selten
erkranken‘ beide Teile des kindlichen Paares später an Abwehr-
neurosen, der Bruder an Zwangsvorstellungen, die Schwester an
Hysterie, was natürlich den Anschein einer familiären neuroti-
schen Disposition ergibt. Diese Pseudoheredität löst sich aber.
mitunter auf überraschende Weise; in einer meiner Beobachtun-
gen waren Bruder, Schwester und ein etwas älterer Vetter
krank. Aus der Analyse, die ich mit dem Bruder vornahm, er-
fuhr ich, daß er an Vorwürfen darüber litt, daß er die Krank-
heit der Schwester verschuldet; ihn selbst hatte der Vetter ver-
führt, und von diesem war in der Familie bekannt, daß er das
Opfer seiner Kinderfrau geworden war.Die obere. Altersgrenze, bis zu welcher sexuelle Schädi-
gung in die Ätiologie der Hysterie fällt, kann ich nicht sicher
angeben; ich zweifie aber, ob sexuelle Passivität nach dem 8.
bis 10. Jahre Verdrängung ermöglichen kann, wenn sie nicht
durch vorherige Erlebnisse dazu befähigt wird. Die untere Grenze
reicht so weit als das Erinnern überhaupt, also bis ins zarte
Alter von 1!/; oder 2 Jahren! (2 Fülle.) In einer Anzahl meiner
Fille ist das sexuelle Trauma (oder die Reihe von Traumen) |
im 3. und 4. Lebensjahre enthalten. Ich würde diesen sonder-
baren Funden selbst nicht Glauben schenken, wenn sie sich |
nicht durch die Ausbildung der späteren Neurose volle Ver-
Arauenswürdigkeit verschaffen würden. In jedem Falle is
Summe von krankhaf ten ı Symptomen, Gewohnheiten undS.
115
bereiten oder veranlassen, wirken nachweisbar nur dadurch,
daß sie die Erinnerungsspur jener Kindheitstraumen erwecken,
welche dann nicht bewußt wird, sondern zur Affektentbindung
und Verdrängung führt. Es steht mit dieser Rolle der späteren
Traumen in gutem Einklange, daß sie nicht der strengen Be-
dingtheit der Kindertraumen unterliegen, sondern nach Intensität
und Beschaffenheit variieren können, von wirklicher sexueller
Überwältigung bis zu bloßen sexuellen Annäherungen und zur
Sinneswahrnehmung sexueller Akte bei anderen oder Aufnahme
von Mitteilungen über geschlechtliche Vorgänge‘).In meiner ersten Mitteilung über die Abwehrneurosen blieb
es unaufgeklärt, wieso das Bestreben der bis dahin Gesunden,
ein solches traumatisches Erlebnis zu vergessen, den Erfolg
haben könne, die beabsichtigte Verdrängung wirklich zu erzielen
und damit der Abwehrneurose das Tor zu öffnen. An der Natur
des Erlebnisses konnte es nicht liegen, da andere Personen trotz
der gleichen Anlässe gesund blieben. Es konnte also die Hysterie
nicht aus der Wirkung des Traumas voll erklärt werden; man
mußte zugestehen, daß die Fähigkeit zur hysterischen Reaktion
schon vor dem Trauma bestanden hatte.An Stelle dieser unbestimmten hysterischen Disposition
kann nun ganz oder teilweise die posthume Wirkung des sexuellen
Kindertraumas treten. Die „Verdrängung“ der Erinnerung an
ein peinliches sexuelles Erlebnis reiferer Jahre gelingt nur
solchen Personen, bei denen dies Erlebnis die Erinnerungsspur
eines Kindertraumas zur Wirkung bringen kann?).1) In einem Aufsatze über die Angstneurose (Neurologisches Zentral-
blatt, 1895, Nr. 2) erwähnte ich, daB „ein erstes Zusammentreffen mit dem
sexuellen Problem bei heranreifenden Mädchen eine Angstneurose hervor-
rufen kann, die in fast typischer Weise mit Hysterie kombiniert ist“. Ich
weiß heute, daß die Gelegenheit, bei welcher solche virginale Angst
ausbricht, eben nicht dem ersten Zusammentreffen mit der Sexualität ent-
spricht, sondern daB bei diesen Personen ein Erlebnis sexueller Passivitát
in den Kinderjahren vorhergegangen ist, dessen Erinnerug bei dem „ersten
Zusammentreffen“ geweckt wird. a ~⑥ 2) Eine psychologische Theorie der Verdrängung müßte auch Aus-
kunft darüber geben, warum nur Vorstellungen sexuellen Inhaltes verdrängt
werden können, Sie darf-von folgenden Andeutungen ausgehen: Das Vor-
stellen sexuellen Inhaltes erzeugt bekanntlich ähnliche ErregungsvorgängeS.
Zwangsvorstellungen haben gleichfalls ein sexuelles Ki
erlebnis (ånderer Natur als bei Hysterie) zur Voraussetz
Die Ätiologie der beiden — rro bietetich es in einem Aufsatze über die D ncüröse 1895 aud
babe; die beiden Abwehrneurosen sind mittelbare Folgen sexuellerAngstneurose erzeugen, spielen häufig gleichzeitig die Rolle
erweckenden Ursachen für die Abwehrneurosen; anderseits ki
die spezifischen Ursachen der Abwehrneurose, die Kindertraumen,
gleichzeitig den Grund für die spüter sich entwickelnde Nei
asthenie legen. Endlich ist auch der Fall nicht selten, daß
Neurasthenie oder Angstneurose anstatt durch aktuelle sexuelle |
Sehüdliehkeiten nur durch fortwirkende Erinnerung an Kinder-
traumen in ihrem Bestande erhalten wird.Wesen und Mechanismus der Zwangsneurose. .וו
In der Atiologie der Zwangsneurose haben sexuelle Erleb-
nisse der frühen Kinderzeit dieselbe Bedeutung wie bei Hysterie,in den Genitalien wie das sexuelle Erleben selbst. Man darf annehmen, daß ..
diese somatische Erregung sich in psychische umsetzt. In der Regel ist die
diesbezügliche Wirkung beim Erlebnisse viel stärker als bei der Erinnerung |
daran. Wenn aber das sexuelle Erlebnis in die Zeit sexueller Unreife fallt,
die Erinnerung daran während oder nach der Reife erweckt wird, dann
wirkt die Erinnerung ungleich stärker erregend als seinerzeit das Erlebnis,
denn inzwischen hat die Pubertät die Reaktionsfähigkeit des Sexualapparates _in unvergleichbarem Maße gesteigert. Ein solches umgekehrtes Verhältnis 。
zwischen realem Erlebnis und Erinnerung scheint "aber die psychologische —
Bedingung einer Verdrängung zu enthalten. Das Sexualleben bietet — durch
die Verspätung der Pubertåtsreife gegen die psychischen Funktionen — die |
einzig vorkommende Möglichkeit für jene Umkehrung der relativen Wirksam- |
keit, Die Kindertraumen wirken nachtrüglich wie frische Erleb-
nisse, dann aber unbewuBt. Weitergehende psychologische Erórterungen
müßte ich auf ein anderes Mai verschieben. — Ich bemerke noch, daß die |
hier in Betracht kommende Zeit der „sexuellen Reifung“ nicht mit der
Pubertät zusammenfällt, sondern vor dieselbe (8. bis 10. Jahr). MSS.
⑪⑦
da handelt es sich hier nicht mehr um sexuelle Passivität,
sondern um mit Lust ausgeführte Aggressionen und mit Lust
empfundene Teilnahme an sexuellen Akten, also um sexuelleAktivität. Mit dieser Differenz der ätiologischen Verhältnisse
hängt es zusammen, daß bei der Zwangsneurose das männliche
Geschlecht bevorzugt erscheint.= Ich habe übrigens in all meinen Fällen von Zwangsneurose
einen Untergrund von hysterischen Symptomen ge-
finden, die sich auf eine der Lusthandlung vorhergehende
Szene sexueller Passivität zurückführen ließen, Ich vermute, daß
dieses. Zusammentreffen ein gesetzmäßiges ist, und daß vorzeitige
sexuelle Aggression stets ein Erlebnis von Verführung voraus-
setzt. Ich kann aber gerade von der Atiologie der Zwangs-
neurose noch keine abgeschlossene Darstellung geben; es macht
mir nur den Eindruck, als hinge die Entscheidung darüber, ob
auf Grund der Kindertraumen Hysterie oder Zwangsneurose
entstehen soll, mit den zeitlichen Verhältnissen der Entwick-
lung von Libido zusammen.Das Wesen der Zwangsneurose läßt sich in einer einfachen
Formel aussprechen: Zwangsvorstellungen sind jedes-
mal verwandelte, aus der Verdringung wieder-
kehrende Vorwiirfe, die sich immer auf eine sexuelle,
mit Lust ausgeführte Aktion der Kinderzeit bezie-
hen. Zur Erläuterung dieses Satzes ist es notwendig, den typi-
. schen Verlauf einer Zwangsneurose zu beschreiben.— In einer ersten Periode 一 Periode der kindlichen Im-
moralitit — fallen die Ereignisse vor, welche den Keim der
Spüteren Neurose enthalten. Zuerst in frühester Kindheit die
Erlebnisse sexueller Verführung, welche spüter die Verdrüngung
ermüglichen, sodann die Aktionen sexueller Aggression gegen
das andere Geschlecht, welche spiiter als Vorwurfshandlungen
erscheinen.Dieser Periode wird ein Ende. bereitet durch den — oft
selbst verfrühten — Eintritt der. sexuellen „Reifung“. Nun
knüpft sich an die Erinnerung jener Lustaktionen ein Vorwurf,
und der Zusammenhang mit dem initialen Erlebnisse von Pas-
sivität ermöglicht es — oft erst nach bewuBter und erinnerter
Anstrengung — diesen zu verdrüngen und durch ein primüresS.
118
Abwehrsymptom zu ersetzen. Gewissenhaftigkeit, Scham,
SelbstmiBtrauen sind solche Symptome, mit denen die dritte
Periode, die der scheinbaren Gesundheit, eigentlich der ge-“lungenen Abwehr beginnt.
Die nächste Periode, die der Krankheit, ist ausgezeichnet.
durch die Wiederkehr der verdrängten Erinnerungen,
also durch das Mißglücken der Abwehr, wobei es unentschieden
bleibt, ob die Erweckung derselben häufiger zufällig und spontan
oder infolge aktueller sexueller Störungen gleichsam als Neben-
wirkung derselben erfolgt. Die wiederbelebten Erinnerungen
und die aus ihnen gebildeten Vorwürfe treten aber niemals
unverändert ins Bewußtsein ein, sondern was als Zwangs-
vorstellung und Zwangsaffekt bewußt wird, die pathogene Er-
innerung für das bewuDte Leben substituiert, sind KompromiB-
bildungen zwischen den verdringten und den verdrängenden
Vorstellungen.Um die Vorgänge der Verdrängung, der Wiederkehr des
Verdringten' und der Bildung der pathologischen Kompromiß-
vorstellungen anschaulich und wahrscheinlich zutreffend zu be-. schreiben, müßte man sich zu ganz bestimmten Annahmen über
‚das Substrat des psychischen Geschehens und des Bewußtseinsentschließen. So lange man dies vermeiden will, muß man sich
mit folgenden, cher bildlich verstandenen Bemerkungen be-
scheiden: Es gibt zwei Formen der Zwangsneurose, je nachdem
allein der Erinnerungsinhalt der Vorwurfshandlung sich den
Eingang ins Bewußtsein erzwingt oder auch der an sie ge-
knüpfte Vorwurfsaffekt. Der erstere Fall ist der der typischen
Zwangsvorstellungen, bei denen der Inhalt die Aufmerksamkeit
des Kranken auf sich zieht, als Affekt nur eine unbestimmte
Unlust empfunden wird, während zum Inhalt der Zwangsvorstel-
lung nur der Affekt des Vorwurfes passen wiirde. Der Inhalt
der Zwangsvorstellung ist gegen den der Zwangshandlung im -
Kindesalter in zweifacher Weise entstellt: erstens, indem etwas
Aktuelles an die Stelle des Vergangenen gesetzt ist, zweitens,-
indem das Sexuelle durch Analoges, nicht Sexuelles substituiert
wird. Diese boiden Abünderungen sind die Wirkung der immer
noch in Kraft stehenden Verdrüngungsneigung, die wir dem
'pIch“ zuschreiben wollen. Der Einfluß der wiederbelebten patho-S.
119
n Erinnerung zeigt sich darin, daß der Inhalt der Zwangs-
vol stellung noch stückweise mit dem Verdrängten identisch ist
oder sich durch korrekte Gedankenfolge von ihm ableitet. Re-
konstruiert man mit Hilfe der psychoanalytisehen Methode die
stehung einer einzelnen Zwangsvorstellung, so findet man,
daß von einem aktuellen Eindrucke aus zwei verschiedene Ge-
dankengänge angeregt worden sind; der eine davon, der über
die verdrängte Erinnerung gegangen ist, erweist sich als ebenso
korrekt logisch gebildet wie der andere, obwohl er bewußtseins-
unfähig und unkorrigierbar ist. Stimmen die Resultate der beiden
psychischen Operationen nicht zusammen, so kommt es nicht
etwa zur logischen Ausgleichung des Widerspruches zwischen
beiden, sondern neben dem normalen Denkergebnisse tritt als
Kompromiß zwischen dem Widerstande und dem pathologischen
Denkresultate eine absurd erscheinende Zwangsvorstellung ins
Bewußtsein. Wenn die beiden Gedankengänge den gleichen
Schluß ergeben, verstärken sie einander, so daß ein normal
-gewonnenes Denkresultat sich nun psychisch wie eine Zwangs-
vorstellung verhält. Wo immer neurotischer Zwang im
Psychischen auftritt, rührt er von Verdrängung
her. Die Zwangsvorstellungen haben sozusagen psychischen
Zwangskurs nicht wegen ihrer eigenen Geltung, sondern wegen
der Quelle, aus der sie stammen, oder die zu ihrer Geltung
einen Beitrag geliefert hat.
⑧ Eine zweite Gestaltung der Zwangsneurose ergibt sich,
wenn nicht der verdrängte Erinnerungsinhalt, sondern der gleich-
falls verdringte Vorwurf eine Vertretung im bewuBten psychi-
‚schen Leben erzwingt. Der Vorwurfsaffekt kann sich durch einen
psychischen Zusatz in einen beliebigen andern Unlustaffekt ver-
wandeln; ist dies geschehen, so steht dem Bewultwerden des
- substituierenden Affektes nichts mehr im Wege. So verwandelt
sich Vorwurf (die sexuelle Aktion im Kindesalter vollführt
zu haben) mit Leichtigkeit in Scham (wenn ein anderer davon
\erfilhre), in hypochondrische Angst (vor den körperlich
schådigenden Folgen jener Vorwurfshandlung), in soziale
Angst (vor der gesellschaftlichen Ahndung jenes Vergehens)
in religiöse Angst, in Beachtungswahn (Furcht, daß
man jene Handlung anderen verrate), in Versuchungsangst⑨
Å
=S.
(berechtigtes MiBtrauen in die eigene moralische Widerstands-
kraft) u. dgl. Dabei kann der Erinnerungsinhalt der Vorwurfs-
handlung im Bewußtsein mitvertreten sein oder gänzlich zuriick-
stehen, was die diagnostische Erkennung sehr erschwert. Viele
Fälle, die man bei oberflächlicher Untersuchung für gemeine
(neurasthenische) Hypochondrie hält, gehören zu dieser Gruppe
der Zwangsaffekte, insbesondere die sogenannte ,perio-
dische Neurasthenie“ oder „periodische Melancholie“ scheint in
ungeahnter Häufigkeit sich in Zwangsaffekte und Zwangsvorstel-
lungen aufzulösen, eine Erkennung, die therapeutisch nicht
gleichgiiltig ist.Neben diesen KompromiBsymptomen, welche die Wieder-
kehr des Verdriingten und somit ein Scheitern der urspriinglich
erzielten Abwehr bedeuten, bildet die Zwangsneurose eine Reihe
weiterer Symptome von ganz anderer Herkunft. Das Ich sucht
sich nämlich jener Abkómmlinge der initial verdringten Er-
innerung zu erwehren und schafft in diesem Abwehrkampfe
Symptome, die man als „sekundäre Abwehr“ zusammen-
fassen könnte. Es sind dies durchwegs ,SchutzmaBregeln“,
die bei der Bekämpfung der Zwangsvorstellungen und Zwangs-
affekte gute Dienste geleistet haben. Gelingt es diesen Hilfen
im Abwehrkampfe wirklich, die dem Ich aufgedrängten
Symptome der Wiederkehr neuerdings zu verdrängen, so über-
trägt sich der Zwang auf die SchutzmaBregeln selbst und schafft.
eine dritte Gestaltung der „Zwangsneurose*, die Zwangs-
handlungen. Niemals sind diese primär, niemals ent-
halten sie etwas anderes als eine Awehr, nie eine Aggression;
die psychische Analyse weist von ihnen nach, daß sie —
‚trotz ihrer Sonderbarkeit 一 durch Zurückführung auf ! die
Zwangserinnerung, die sie bekämpfen, jedesmal voll aufzuklären
sind").り Ein Beispiel‘ anstatt vieler: Ein lljühriger Knabe hatte sich fol-
gendes Zeremoniell vor dem Zubettgehen zwangsartig eingerichtet: Er
schlief nicht eher ein, als bis er seiner Mutter alle Erlebnisse des Tages.
haarklein vorerzühlt hatte; auf dem Teppich des Schlafzimmers durfte abends ·
kein Papiersehnitzelehen und kein anderer Unrat zu finden sein; das Bett.
mußte ganz an die Wand angerückt werden, drei Stühle davorstehen, die-Polster in ganz bestimmter Weise liegen. Er selbst mußte, um einzuschlafen,.
zuerst eine gewisse Anzahl von Malen mit beiden Beinen stoßen und sichS.
‘sekundäre Abwehr der Zwangsvorstellungen kann
‘durch govsiči 、 Able auf andere Gedanken,lzwang, regelmäßig über abstrakte, iibersinnliche
weil die verdrängten Vorstellungen immer sich mit der
chkeit beschäftigten. Oder der Kranke versucht, jeder
nen Zwangsidee durch logische Arbeit und Berufung auf .
bewuften Erinnerungen Herr zu werden; dies führt zum
und Prüfungszwange und zur Zweifelsucht Der
der Wahrnehmung vor der Erinnerung bei diesen Prii- |
reranlaBt den Kranken zuerst und zwingt ihn später,
bjekte, mit denen er in Beriihrung getreten ist, zu sam-
| und aufzubewahren. Die sekundäre Abwehr gegen die
ffekte ergibt eine noch größere Reihe von SchutzmaD-
die der Verwandlung in Zwangshandlungen fihig sind.
ann dieselben nach ihrer Tendenz gruppieren: MaDregeln |
Bule (lästiges Zeremoniell, Zahlenbeobachtung), der
eugung (allerlei Phobien, Aberglauben, Pedanterie, :
ung des Primiirsymptoms der Gewissenhaftigkeit) der -
vor Verrat (Papiersammeln, Menschenscheu) der
bung (Dipsomanie) Unter diesen Zwangshandlungen
impulsen spielen die Phobien als mea
anken die größte Rolle.auf die Seite legen. | — Das klärte sich folgendermaßen auf: Jahre ③
"hatte es sich zugetragen, daf ein Dienstmüdchen, welches den
Knaben zu Bette bringen sollte, die Gelegenheit benutzte, 1 um sich
über ihn zu legen und ihn sexuell zu miBbrauchen. Als dann später
iese Erinnerung durch ein rezentes Erlebnis geweckt wurde, gab
dem BewuBtsein durch den Zwang zu obigem Zeremoniell kund,
Sinn leicht zu erraten war und im einzelnen durch die Psychoana-
stgestellt wurde: Sessel vor dem Bett und dieses an die Wand ge-
damit niemand mehr zum Bett Zugang haben kunne; Polster in
ewissen Weise geordnet — damit sie anders geordnet seien als an
Abend; die Bewegungen mit den Beinen 一 Wegstofien der auf ihm
nden Person; Schlafen auf der Seite — weil er bei der Szene auf dem
gelegen; die ausführliche Beichte vor der Mutter 一 weil er diese
ere sexuelle Erlebnisse infolge von Verbot der Verfiihrerin ihr ver-
gen hatte; endlich Reinhaltung des Bodens im Schlafzimmer — weil
der Hauptvorwurf war, den er bis dahin von deg Motte hatte ii
| müssen, -S.
122
Es gibt Fälle, in welchen man beobachten kann, wie sich
der Zwang von der Vorstellung oder vom Affekt auf die Maß-
regel überträgt; andere, in denen der Zwang periodisch zwischen
dem Wiederkehrsymptome und dem Symptom der sekundären
Abwehr oszilliert; aber daneben noch Fälle, in denen iiber-
haupt keine Zwangsvorstellung gebildet, sondern die verdriingte
"Erinnerung sogleich durch die scheinbar primäre Abwehrmab-
regel vertreten wird. Hier wird mit einem Sprunge jenes Sta-
dium erreicht, welches sonst erst nach dem Abwehrkampf den
Verlauf der Zwangsneurose abschließt. Schwere Fülle dieser
Affektion enden mit der Fixierung von Zeremoniellhandlungen,
allgemeiner Zweifelsucht oder einer durch Phobien bedingten
Sonderlingsexistenz. 5Dal die Zwangsvorstellung und alles von ihr Abgeleitete
keinen Glauben findet, rührt wohl daher, daß bei der ersten
Verdrångung das Abwehrsymptom der Gewissenhaftigkeit
gebildet worden ist, das gleichfalls Zwangsgeltung gewonnen
hat. Die Sicherheit, in der ganzen Periode der gelungenen
Abwehr moralisch gelebt zu haben, macht es unmåglich, dem
- Vorwurfe, welchen ja die Zwangsvorstellung involviert, Glauben
zu schenken. Nur voriibergehend beim Auftreten einer neuen
Zwangsvorstellung und hie und da bei melancholischen Er-
schôpfungszuständen des Ichs erzwingen die krankhaften Sym-
ptome der Wiederkehr auch den Glauben. Der „Zwang“ der
hier beschriebenen psychischen Bildungen hat ganz allgemein
mit der Anerkennung durch den Glauben nichts zu tun, und
ist auch mit jenem Moment, das man als „Stärke“ oder ,Inten-
sitåt" einer Vorstellung bezeichnet, nicht zu verwechseln. Sein
wesentlicher Charakter ist vielmehr die Unauflosbarkeit durch
die bewuBtseinsfähige psychische Tätigkeit, und dieser Charakter
erfährt keine Änderung, ob nun die Vorstellung, an der der -
Zwang haftet, stårker oder schwiicher, intensiver oder geringer
„beleuchtet“, ,mit Energie besetzt“ u. dgl. wird.Ursache dieser Unangreifbarkeit der Zwangsvorstellung oder
ihrer Derivate ist aber nur ihr Zusammenhang mit der verdriingten
Erinnerung aus friiher Kindheit, denn wenn es gelungen ist, diesen
bewußt zu machen, wofür die psychotherapeutischen Methoden
bereits auszureichen scheinen, dann ist auch der Zwang gelöst.S.
123
ЈИ, Analyse eines Falles von chronischer Paranoia.
"Seit längerer Zeit schon hege ich die Vermutung, daß
auch die Paranoia 一 oder Gruppen von Fällen, die zur Paranoia
gehören — eine Abwehrpsychose ist, d. h. daß sie wie Hysterie
und Zwangsvorstellungen hervorgeht aus der Verdrängung pein-
3 licher Erinnerungen, und daß ihre Symptome durch den Inhalt
! des Verdrüngten in ihrer Form determiniert werden. Eigentüm-
i lich müsse der Paranoia ein besonderer Weg oder Mechanismus
der Verdrängung sein, etwa wie die Hysterie die Verdrängung
1 auf dem Wege der Konversion in die Körperinnervation,
| die Zwangsneurose durch Substitution (Verschiebung längs-
gewisser assoziativer Kategorien) bewerkstelligt. Ich beobachtete
: mehrere Fülle, die dieser Deutung günstig waren, hatte aber
keinen gefunden, der sie erwies, bis mir durch die Güte des
Herrn Dr. J. Breuer vor einigen Monaten ermöglicht wurde, .
- den Fall einer intelligenten 32jihrigen Frau, dem man die
Bezeichnung als chronische Paranoia nicht wird versagen können,
in therapeutischer Absicht einer Psychoanalyse zu unterziehen.
Ich berichte schon hier über einige bei dieser Arbeit gewon-
mene Aufklärungen, weil ich keine Aussicht habe, die Paranoia
anders als in sehr vereinzelten Beispielen zu studieren, und weil
ich es für móglich halte, daf diese Bemerkungen einen hierin
„günstiger gestellten Psychiater veranlassen könnten, in der jetzt
80 regen Diskussion über Natur und psychischen Mechanismus
‘der Paranoia das Moment der „Abwehr“ zu seinem Rechte zu
bringen. Natürlich liegt es mir fern, mit der nachstehenden |
_ einzigen Beobachtung etwas anderes sagen zu wollen, als: dieser
Fall ist eine Abwehrpsychose, und es dürfte in der Gruppe
„Paranoia“ noch andere geben, die es gleichfalls sind,ste Frau P., 32 Jahre alt, seit 3 Jahren verheiratet, Mutter eines 2jåh-
rigen Kindes, stammt von nicht nervósen Eltern; ihre beiden Geschwister
kenne ich aber als gleichfalls neurotisch. Es ist zweifelhaft, ob sie nicht
‚einmal in der Mitte der 20er Jahre vorübergehend deprimiert und in ihrem
| | Urteile Бейт! war; in den letzten Jahren war sie gesund und leistungsfähig, -
‘bis sie !/, Jahr nach der Geburt ihres Kindes die ersten Anzeichen der
gegenwärtigen Erkrankung erkennen 1160. Sie wurde verschlossen und miB-
= tranisch, zeigte Abneigung gegen den Verkehr mit den Geschwistern ihres
-Mannes und klagte, daB die Nachbarn in der kleinen Stadt sich anders alsS.
früher, unhóflich und rücksichtslos gegen sie berühmen. Allmiihlich stei;
sich diese Klagen an Intensität, wenn auch nicht an Bestimmtheit:
habe etwas gegen sie, obwohl sie keine Ahnung habe, was es sein E
° Aber es sei kein Zweifel, alle 一 Verwandte wie Freunde 一 exe edie Achtung, tüten alles, sie zu krünken. Sie zerbreche sich den Kopf, «
her das komme; wisse es nicht. Einige Zeit später klagte sie, daß sie be-
obachtet SE man ihre Gedankem errate, alles wisse, was bei ihr im
Hause vorgehe. Eines Nachmittags kam ihr plötzlich der Gedanke, ma
beobachte sie abends beim Auskleiden. Von nun an wendete sie beim Au
kleiden die kompliziertesten VorsichtsmaBregeln an, schlüpfte im Dunkeln
ins Bett und entkleidete sich erst unter der Decke. Da sie jedem Verkehr
auswich, sich schlecht nährte und sehr verstimmt war, wurde sie im Sommer
1895 in eine Wasserheilanstalt geschickt. Dort traten neue Symptom та
und verstärkten sich schon vorhandene. Schon im Frühjahr hatte sie plôtz- |
lich eines Tages, als sie mit ihrem Stubenmiidchen allein war, eine Empfin-
dung im Schofe bekommen und sich dabei gedacht, das Mädchen habe
jetzt einen unanstândigen Gedanken. Diese Empfindung wurde im Sommer
häufiger, nahezu kontinuierlich, sie spürte ihre Genitalien, „wie man eine
schwere Hand spürt“. Dann fing sie an, Bilder zu sehen, über die sie sich |
entsetzte, Halluzinationen von weiblichen Nacktheiten, besonders einen ent-
bl⑧Bten weiblichen Schoß mit Behaarung; gelegentlich auch minnlicl
Genitalien. Das Bild des behaarten SchoBes und die Organempfindung im
Schofie kamen meist gemeinsam. Die Bilder wurden sehr quilend für sie,
da sie dieselben regelmäßig bekam, wenn sie in Gesellschaft einer Frau
war und daran die Deutung sich anschloB, sie sehe jetzt die Frau in uniståndigster Blöße, aber im selben Moment habe die Frau dasselbe Bild von Så
ihr (1). Gleichzeitig mit diesen Gesichtshalluzinationen 一 die nach ih:
ersten Auftreten in der Heilanstalt für mehrere Monate wieder verschwan- -
den — fingen Stimmen an, sie zu belästigen, die sie nicht erkannte und
sich nicht zu erklären wußte. Wenn sie auf der Straße war, hieß es: Das
ist die Frau P. — Da geht sie. Wo geht sie hin? — Man kommentierte
jede ihrer Bewegungen und Handlungen, gelegentlich hörte sie Drohungen |
und Vorwürfe. Alle diese Symptome wurden ärger, wenn sie in Gesellschał
oder gar auf der Straße war; sie verweigerte darum auszugehen, erklärte.
dann, sie habe Ekel vor dem Essen und kam rasch herunter.Dies erfuhr ich von ihr, als sie im Winter 1895 nach
Wien in meine Behandlung kam. Ich habe es ausfiihrlich dar-
gestellt, um den Eindruck zu erwecken, daß es sich hier wirk-
lich um eine recht häufige. Form von chronischer Paranoia
handle, zu welchem Urteil die noch später anzufiihrenden Details
der Symptome und ihres Verhaltens stimmen werden. Wahn-
bildungen zur Deutung der Halluziationen verbarg sie mir da- `
mals oder sie waren wirklich noch nicht vorgefallen; ihre In- —^
S.
125
war unvermindert; als auffällig wurde mir nur berichtet,
ihrem in der Nachbarschaft lebenden Bruder wieder-etwas mitgeteilt habe. Sie sprach nie iiber ihre Hallu-
nen und zuletzt auch nicht mehr viel über die Kränkungen
Verfolgungen, unter denen sie litt. ② な yt
ich nun von dieser Kranken zu berichten habe, be-
ie Atiologie des Falles und den Mechanismus der Hallu-
еп. Ich fand die Ätiologie, als ich ganz wie bei einer |
ie die Breuersche Methode zunächst zur Erforschung:
Beseitigung der Halluzinationen in Anwendung brachte. Ich
abei von der Voraussetzung aus, es müsse bei dieser
Par: noia wie bei den zwei anderen mir bekannten Abwehr-
irosen unbewußte Gedanken und verdrüngte Erinnerungen
die auf dieselbe Weise, wie dort, ins Bewußtsein zu
en seien, unter Uberwindung eines gewissen Widerstandes,
| die Kranke bestätigte sofort diese Erwartung, indem sie
bei der Analyse ganz wie zum Beispiel eine Hysterica be-
m und unter Aufmerksamkeit auf den Druck meiner Hand
iche die „Studien über Hysterie“) Gedanken vorbrachte,
ehabt zu haben sie sich nicht erinnerte, die sie zunächst
nicht verstand, und die ihrer Erwartung widersprachen. Es war
as Vorkommen bedeutsamer unbewubter Vorstellungen auch
inen Fall von Paranoia erwiesen, und ich durfte hoffen,
den Zwang der Paranoia auf Verdrängung zurückzuführen.
tümlich war nur, daß sie die aus dem Unbewuften stam-
en Angaben zumeist wie ihre Stimmen innerlich hórte oderiblichen SchoBes kam fast immer mit der Organempfindung
Schoße zusammen, letztere war aber viel konstanter und
oft ohne das Bild.- Die ersten Bilder von weiblichen Schößen waren aufge-
A ten in der Wasserheilanstalt, wenige Stunden, nachdem sie
hen hatte, erwiesen sich also als einfache Reproduktionen |
es realen Eindruckes. Man durfte nun voraussetzen, daß diesendez-vous gegeben, um ihm etwas anzuvertrauen, ihm ~
Å
eine Anzahl von Frauen tatsächlich im Baderaum entblößt ge- —
S.
126
Eindrücke nur darum wiederholt worden seien, weil sich ein
großes Interesse an sie geknüpft habe. Sie gab die Auskunft, ·
sie habe sich damals für jene Frauen geschümt; sie schäme
sich selbst, nackt gesehen zu werden, seitdem sie sich erinnere.
Da ich nun diese Scham für etwas Zwanghaftes ansehen mußte,
schloß ich nach dem Mechanismus der Abwehr, es müsse hier
ein Erlebnis verdrüngt worden sein, bei dem sie sich nicht
geschümt, und forderte sie auf, die Erinnerungen auftauchen zu
lassen, welche zu dem Thema des Schümens gehörten. Sie re-
produzierte mir prompt eine Reihe von Szenen vom 17. Jahre
bis zum 8., in denen sie sich im Bade vor der Mutter, der
Schwester, dem Arzte ihrer Nacktheit geschümt hatte; die Reihe
lief aber in eine Szene mit 6 Jahren aus, wo sie sich im
Kinderzimmer zum Schlafengehen entkleidete, ohne sich vor dem
anwesenden Bruder zu schümen. Auf mein Befragen kam heraus,
daß es solcher Szenen viele gegeben habe, und daß die Ge-
schwister Jahre hindurch die Gewohnheit geübt hätten, sich
einander vor dem Sehlafengehen nackt zu zeigen. Ich verstand
nun, was der plótzliche Einfall bedeutet hatte, man beobachte
sie beim Schlafengehen. Es war ein unveründertes Stück der
alten Vorwurfserinnerung, und sie holte jetzt an Schümen nach,
was sie als Kind versüumt hatte.Die Vermutung, daß es sich hier um ein Kinderverhältnis
handle, wie auch in der Ätiologie der Hysterie so häufig, wurde
. durch weitere Fortschritte der Analyse bekräftigt, bei denen
sich gleichzeitig Lösungen für einzelne im Bild der Paranoia
häufig wiederkehrende Details ergaben. Der Anfang ihrer Ver--
stimmung fiel zusammen mit einem Zwiste zwischen ihrem
Manne und ihrem Bruder, infolgedessen der letztere ihr Haus
nicht mehr betrat. Sie hatte diesen Bruder immer sehr geliebt
und entbehrte ihn um diese Zeit sehr. Sie sprach aber auBer-
dem von einem Moment ihrer Krankengeschichte, in dem ihr
zuerst „alles klar wurde“, das heißt in dem sie zur Überzeugung
gelangte, daß ihre Vermutung, allgemein milachtet und mit
Absicht gekrünkt zu werden, Wahrheit sei; Diese Sicherheit
gewann sie durch den Besuch einer Schwügerin, welche im Ver-
lauf des Gesprüches die Worte fallen lief: »Wenn mir etwas.
Derartiges passiert, nehme ich es auf die leichte Achsel!* FrauS.
«-.---
127
m diese Äußerung zunächst arglos hin; nachdem aber
such sie verlassen hatte, kam es ihr vor, als sei in diesen.
Worten ein Vorwurf fiir sie enthalten gewesen, als ob sie ge-
wohnt sei, ernste Dinge leicht zu nehmen, und von dieser
Stunde an war sie sicher, daß sie ein Opfer der allgemeinen
Nachrede sei. Als ich sie examinierte, wodurch sie sich berech-
tigt gefühlt, jene Worte auf sich za beziehen, antwortete sie,
der Ton, in dem die Schwiigerin,gesprochen, habe sie — aller-
dings nachträglich — davon überzeugt, was doch ein für Para-
пой charakteristisches Detail ist. Ich zwang sie nun, sich an
die Reden der Schwägerin vor der angeschuldigten Äußerung
zu erinnern, und es ergab sich, daß diese erzählt hatte, im
Vaterhause habe es mit den Brüdern allerlei Schwierigkeiten
gegeben, und daran die weise Bemerkung geknüpft: „In jeder
Familie gehe allerlei vor, worüber man gerne eine Decke breite.
Wenn ihr aber Derartiges passiere, dann nehme sie es leicht.“
Frau P. mußte. nun bekennen, daß an diese Sätze vor der
letzten Äußerung ihre Verstimmung angeknüpft hatte. Da sie
diese beiden Sätze, die eine Erinnerung an ihr Verhältnis zum
Bruder wecken konnte, verdrängt hatte und nur den bedeutungs--
løsen letzten Satz “behalten, mußte sie die Empfindung, als
mache ihr die Schwägerin einen Vorwurf, an diesen knüpfen,
und da der Inhalt desselben keine Anlehnung hierfür bot, warf”
sie sich vom Inhalte auf den Ton, mit dem diese Worte ge-
sprochen worden waren. Ein wahrscheinlich typischer Beleg
dafür, daß die MiBdeutungen der Paranoia auf einer Verdrän-
gung beruhen. ⑧
“In überraschender Weise löste sich auch ihr sonderbares:
Verfahren, ihren Bruder zu Zusammenkiinften zu bestellen, bei
denen sie ihm dann nichts zu sagen hatte. Ihre Erklärung lautete,.
sie habe gemeint, er miisse ihr Leiden verstehen, wenn sie ihn
bloß. ansehe, da er um die Ursache desselben wisse. Da nun
dieser Bruder tatsächlich die einzige Person war, die um die
Ätiologie ihrer Krankheit wissen konnte, ergab sich, daß sie
nach einem Motiv gehandelt hatte, das sie bewußt zwarselbst. nicht verstand, das aber vollkommen gerechtfertigt
erschien, sobald man ihm einen Sinn aus dem SOD
unterlegte.S.
128
Es gelang mir dann, sie zur Reproduktion der verschie-
denen Szenen zu veranlassen, in denen der sexuelle Verkehr mit
zale dem Bruder (mindestens vom 6. bis zum 10. Jahre) gegipfelt
: hatte. Während dieser Reproduktionsarbeit sprach die Organ-
empfindung im SchoBe mit, wie es bei der Analyse hysterischer
Erinnerungsreste regelmäßig beobachtet wird. Das Bild einesnackten weiblichen SchoBes (jetzt aber auf kindliche Propor-
tionen reduziert und ohne Behaarung) stellte sich dabei gleich-
falls ein oder blieb weg, je nachdem die betreffende Szene bei
hellem Lichte oder im Dunkeln vorgefallen war. Auch der EB-
ekel fand in einem abstoBenden Detail dieser Vorgänge eine :
Erklärung. Nachdem wir die Reihe dieser Szenen durch-
gemacht hatten, waren die halluzinatorischen Empfindungen
und Bilder verschwunden, um (wenigstens bis heute) nicht
wiederzukehren !). jIch hatte also gelernt, daß diese Halluzinationen. nichts
e anderes als Stücke aus dem Inhalt der verdringten Kinder-
= erlebnisse waren, Symptome der Wiederkehr des Verdringten.
Nun wandte ich mich an die Analyse der Stimmen. Hier„war vor allem zu erklären, daß ein so gleichgültiger Inhalt:
„Hier geht die Frau P.“ — „Sie sucht jetzt Wohnung“ u. dgl.
von ihr so peinlich empfunden werden konnte; sodann, auf
welchem. Wege gerade diese harmlosen Sätze es dazu brachten,
durch halluzinatorische Verstärkung ausgezeichnet zu werden.
Von vornherein war klar, daß diese „Stimmen“ nicht hallu-
zinatorisch reproduzierte Erinnerungen sein konnten wie die
Bilder und Empfindungen, sondern vielmehr „laut gewordene“Gedanken. x
Das erste Mal, als sie Stimmen hörte, geschah es unter
folgenden Umständen: Sie hatte mit großer Spannung die schöne
Erzählung von O. Ludwig, Die Heiterethei, gelesen und
bemerkt, daß sie bei der Lektüre von aufsteigenden Gedanken
in Anspruch genommen wurde. Unmittelbar darauf ging sie auf
der Landstraße spazieren, und nun sagten ihr plötzlich die1) Als späterhin eine Exazerbatiou die ohnehin spärlichen Erfolge der
Behandlung aufhob, sah sie die anstößigen Bilder fremder Genitalien nicht
wieder, sondern. hatte die Idee, die Fremden sähen ihre Genitalien, sobald
sie sich hinter ihr befinden. こS.
129
m, als sie an einem Bauernhäuschen voriiberging: „So
Haus der Heiterethei ausgesehen! Da ist der Brunnen
er Strauch! Wie gliicklich war sie doch bei all ihrer
Dann wiederholten ihr die, Stimmen ganze Abschnitte, '
eben gelesen hatte; aber es blieb unverstündlich, warum
| Strauch und Brunnen der Heiterethei und gerade die
‘und beziehungslosesten Stellen der Dichtung sich ihrer
erksamkeit mit pathologischer Stärke aufdrüngen mußten.
war die Lösung des Riitsels nicht schwer; Die Analyse
daD sie wührend dér Lektüre auch andere Gedanken
hatte und durch ganz andere Stellen des Buches an-
worden war. Gegen dieses Material 一 Analogien zwi-
dem Paare der Dichtung und ihr und ihrem Manne,
ungen an Intimitüten ihres Ehelebens und an Familien-
se — gegen dies alles hatte sich ein verdrüngender
rstand erhoben, weil es auf leicht nachweisbaren Gedanken-
mit ihrer sexuellen Scheu zusammenhing und so in letzter
uf die Erweckung der alten Kindererlebnisse hinauskam.harmlosen und idyllischen Stellen, die mit den beanstandeten
h Kontrast und auch durch Vizinität verknüpft waren, die
stirkung fir das Bewußtsein, die ihnen das Lautwerden er-161 auf die Nachrede, der die vereinsamt lebende Heldin
⑤eiten der Nachbarn ausgesetzt war. Die Analogie mit ihrerem kleinen Orte, verkehrte mit niemand und glaubte sich
| Yon den Nachbarn miBachtet. Dies MiDtrauen gegen ihre Nach-
| bam hatte seinen wirklichen Grund darin, daß sie anfangs ge-
E st war, sich mit einer kleinen Wohnung zu begnügen, in
her die Schlafzimmerwand, an der die Ehebetten des jungen
lares standen, an ein Zimmer der Nachbarn stieß. Mit dem
m ihrer Ehe erwachte in ihr ~~~ offenbar durch unbewubte
kung ihres Kinderverhültnisses, in dem sie Mann und
gespielt hatten — eine große sexuelle Scheu; sie besorgte
dig, daß die Nachbarn Worte und Geräusche durch die
nde Wand vernehmen kónnten, und diese Scham verwan-
sich bei ihr in Argwohn gegen die Nachbarn. —ud, Neurosenlehre. I. 4. Auflage. 9
S.
e
130Die Stimmen verdankten also ihre Entstehung der Ver-
driingung von Gedanken, die in letzter Auflösung eigentlich
Vorwürfe anläßlich eines dem Kindertrauma analogen Erleb-~ nisses bedeudeten; sie waren demnach Symptome der Wiederkehr
des Verdriingten, aber gleichzeitig Folgen eines Kompromisses
zwischen Widerstand des Ich und Macht des Wiederkehrenden,
der in diesem Falle eine Entstellung bis zur Unkenntlichkeit
herbeigeführt hatte. In anderen Fällen, in denen ich Stimmen
bei Frau P. zu analysieren Gelegenheit hatte, war die Entstel-
lung minder groß; doch hatten die gehörten Worte immer einen
Charakter von diplomatischer Unbestimmtheit; die kriinkende
Anspielung war meist tief versteckt, der Zusammenhang der
einzelnen Sätze durch fremdartigen Ausdruck, ungewöhnliche
Sprachformen u. dgl. verkleidet: Charaktere, die den Gehörs-
halluzinationen der Paranoiker allgemein eigen sind, und in
denen ich die Spur der Kompromißentstellung erblicke. Die
Rede: „Da geht die Frau P., sie sucht Wohnung in der Straße“,
bedeutete zum Beispiel die Drohung, daß sie nie genesen werde,
denn ich hatte ihr zugesagt, daß sie nach der Behandlung im-
stande sein werde, in die kleine Stadt, wo ihr Mann beschäftigt
war, zurückzukehren; sie hatte fiir einige Monate in Wien pro-
visorisch Wohnung gemietet.In einzelnen Fällen vernahm Frau P. auch deutlichere
Drohungen, zum Beispiel in betreff der Verwandten ihres Mannes,
deren zurückhaltender Ausdruck aber immer noch mit der Qual
kontrasfierte, welche ihr solche Stimmen bereiteten. Nach dem,
was man sonst von Paranoikern weil, bin ich geneigt, ein all-
mähliches Erlahmen jenes die Vorwürfe abschwächenden Wider-
standes anzunehmen, so daß endlich die Abwehr voll mißlingt,
und der ursprüngliche Vorwurf, das Schimpfwort, welches man
sich ersparen wollte, in unveränderter Form zurückkehrt. Indes
weiß ich nicht, ob dies ein konstanter Ablauf ist, ob die Zensur
der Vorwurfsreden nicht von Anfang an ausbleiben oder bis
zum Ende ausharren kann.-Es erübrigt mir nur noch, die an diesem Falle von Paranoia
gewonnenen Aufklärungen für eine Vergleichung der Paranoiaa mit der Zwangsneurose zu verwerten. Die Verdrängung als Kern
È des psychischen Mechanismus ist hier wie dort nachgewiesen,S.
131
Verdriingte ist in beiden Fillen ein sexuelles Kindererlebnis.
Zwang rührt auch bei ‘dieser Paranoia von Verdrängung
her; die Symptome der Paranoia lassen eine ähnliche Klassi-
rung zu, wie sie sich fiir die Zwangsneurose als berechtigt
erwiesen hat. Ein Teil der Symptome entspringt wieder der
primären Abwehr, nämlich alle Wahnideen des MiBtrauens,
Argwohnes, der Verfolgung durch andere. Bei der Zwangsneurose
ist der initiale Vorwurf verdrängt worden durch die Bildung
des primären Abwehrsymptoms: SelbstmiBtrauen. Dabei
ist der Vorwurf als berechtigt anerkannt worden, und zur Aus-
gleichung schiitzt nun die Geltung, welche sich die Gewissen-
haftigkeit im gesunden Intervall erworben hat, davor, dem als
Zwangsvorstellung wiederkehrenden Vorwurfe Glauben zu schen-
ken. Bei Paranoia wird der Vorwurf auf einem Wege, den man
als Projektion bezeichnen kann, verdrängt, indem das Ab-
wehrsymptom des MiBtrauens gegen andere errichtet wird;
. dabei wird dem Vorwurfe die Anerkennung entzogen, und wie
zur Vergeltung fehlt es dann an einem Schutze gegen die in
den Wahnideen wiederkehrenden Vorwürfe.Andere Symptome meines Falles von Paranoia sind als
Symptome der Wiederkehr des Verdriingten zu bezeichnen und
tragen auch, wie die der Zwangsneurose, die Spuren des Kom-
promisses an sich, der ihnen allein den Eintritt ins Bewußtsein
gestattet. So die Wahnidee, beim. Auskleiden beobachtet zu
werden, die visuellen, die Empfindungshalluzinationen und das
Stimmenhóren. Nahezu unveründerter, nur durch Auslassung
unbestimmt gewordener Erinnerungsinhalt findet sich in der
erwihnten Wahnidee vor. Die Wiederkehr des Verdrüngten in
visuellen Bildern nähert sich eher dem Charakter der Hysterie
als dem der Zwangsneurose, doch pflegt die Hysterie ihre Er-
innerungssymbole ohne Modifikation zu wiederholen, während
die paranoische Erinnerungshalluzination eine Entstellung er-
führt, wie sie der Zwangsneurose zukommt; ein analoges mo-
dernes Bild setzt sich an die Stelle des verdrüngten (Schoßeiner erwachsenen Frau anstatt eines Kindes; daran sogar die
1 Behaarung besonders deutlich, weil diese dem ursprünglichen
E Eindruck fehlte). Ganz der Paranoia eigentümlich und in dieser9
Vergleichung weiter nicht zu beleuchten ist der Umstand, daß
S.
132
die verdriingten Vorwiirfe als lautgewordene Gedanken wieder-
kehren, wobei sie sich eine zweifache Entstellung gefallen lassen
müssen, eine Zensur, die zur Ersetzung durch andere assoziierte |
Gedanken oder zur Verhüllung durch unbestimmte Ausdrucks- |
weise führt, und die Beziehung auf moderne, den alten bloßanaloge Erlebnisse.
Die dritte Gruppe der bei Zwangsneurose gefundenen
Symptome, die Symptome der sekundären Abwehr, kann bei der
Paranoia nicht als solche vorhanden sein, da sich gegen die
wiederkehrenden Symptome, die ja Glauben finden, keine Abwehr
geltend macht. Zum Ersatze hierfür findet sich bei Paranoia
eine andere Quelle für Symptombildung; die durch das Kom-
promiß ins Bewußtsein gelangten Wahnideen (Symptome der
Wiederkehr) stellen Anforderungen an die Denkarbeit des Ich,
bis daß sie widerspruchsfrei angenommen werden können. Da
sie selbst unbeeinflußbar wird, muß das Ich sich ihnen anpassen,und somit entspricht den Symptomen der sekundären Abwehr
bei der Zwangsneurose hier die kombinatorische Wahnbildung,
der א у der in die. Ichverånderung aus-
liuft, Mein Fall war ser insicht unvollständig; er zeigte |
damals noch nichts von Deutungsversuchen, die 'sich erst später| | einstellten, Ich zweifle aber nicht daran, daß man noch ein
sksn14
111
–132