Zur Aetiologie der Hysterie [II.] 1896-003/1896.2
  • S.

     

    Originalartikel. Berichte aus Kliniken und Spitälern.

    Zur Aetiologie der Hysterie.


    Von

    Dr. Sigmund Freud.
    (Fortsetzung.)*)

    Wir wollen es nun aber nicht versäumen, den einen Satz
    nachdrücklich hervorzuheben, den die analytische Arbeit längs
    dieser Erinnerungsketten unerwarteter Weise ergeben hat. Wir
    haben erfahren, dass kein hysterisches Symptom
    aus einem realen Erlebniss allein hervorgehen
    kann, sondern dass alle Male die associativ ge-
    weckte Erinnerung an frühere Erlebnisse zur
    Verursachung des Symptomes mitwirkt. Wenn
    dieser Satz — wie ich meine — ohne Ausnahme richtig ist,
    so bezeichnet er uns aber auch das Fundament, auf dem eine
    psychologische Theorie der Hysterie aufzubauen ist.

    Sie könnten meinen, jene seltenen Fälle, in welchen die
    Analyse das Symptom sofort auf eine traumatische Scene
    von guter determinirender Eignung und traumatischer Kraft
    zurückführt und es durch solche Zurückführung gleichzeitig
    wegschafft, wie dies in Breuer’s Krankengeschichte der
    Anna O. geschildert wird, seien doch mächtige Einwände
    gegen die allgemeine Geltung des eben aufgestellten Satzes.
    Das sieht in der That so aus; allein ich muss Sie versichern,
    ich habe die triftigsten Gründe anzunehmen, dass selbst in
    diesen Fällen eine Verkettung wirksamer Erinnerungen vor-
    liegt, die weit hinter die erste traumatische Scene zurück-
    reicht, wenngleich die Reproduction der letzteren allein
    die Aufhebung des Symptoms zur Folge haben kann.

    Ich meine, es ist wirklich überraschend, dass hysterische
    Symptome nur unter Mitwirkung von Erinnerungen entstehen

    *) Siehe Wiener klinische Rundschau 1896, Nr. 22.

    können, zumal wenn man erwägt, dass diese Erinnerungen
    nach allen Aussagen der Kranken ihnen im Moment, da das
    Symptom zuerst auftrat, nicht zum Bewusstsein gekommen
    waren. Hier ist Stoff für sehr viel Nachdenken gegeben, aber
    diese Probleme sollen uns für jetzt nicht verlocken, unsere
    Richtung nach der Aetiologie der Hysterie zu verlassen. Wir
    müssen uns vielmehr fragen: Wohin gelangen wir, wenn wir
    den Ketten associirter Erinnerungen folgen, welche die Ana-
    lyse uns aufdeckt? Wie weit reichen sie; haben sie irgend-
    wo ein natürliches Ende; führen sie uns etwa zu Erlebnissen,
    die irgendwie gleichartig sind, dem Inhalt oder der Lebens-
    zeit nach, so dass wir in diesen überall gleichartigen Factoren
    die gesuchte Aetiologie der Hysterie erblicken könnten?

    Meine bisherige Erfahrung gestattet mir bereits, diese
    Fragen zu beantworten. Wenn man von einem Falle ausgeht,
    der mehrere Symptome bietet, so gelangt man mittelst der
    Analyse von jedem Symptom aus zu einer Reihe von Erleb-
    nissen, deren Erinnerungen in der Association miteinander
    verkettet sind. Die einzelnen Erinnerungsketten verlaufen zu-
    nächst distinct von einander nach rückwärts, sind aber, wie
    bereits erwähnt, verzweigt; von einer Scene aus sind gleich-
    zeitig zwei oder mehr Erinnerungen erreicht, von denen nun
    Seitenketten ausgehen, deren einzelne Glieder wieder mit
    Gliedern der Hauptkette associativ verknüpft sein mögen. Der
    Vergleich mit dem Stammbaum einer Familie, deren Mit-
    glieder auch untereinander geheiratet haben, passt hier wirk-
    lich nicht übel. Andere Complicationen der Verkettung er-
    geben sich daraus, dass eine einzelne Scene in derselben
    Weise mehrmals erweckt werden kann, so dass sie zu einer
    späteren Scene mehrfache Beziehungen hat, eine directe Ver-
    knüpfung mit ihr aufweist und eine durch Mitgltederglieder her-
    gestellte. Kurz, der Zusammenhang ist keineswegs ein ein-
    facher und die Aufdeckung der Scenen in umgekehrter chrono-
    logischer Folge (die eben den Vergleich mit der Aufgrabung

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    eines geschichteten Trümmerfeldes rechtfertigt) trägt zum
    rascheren Verständniss des Hergangs gewiss nichts bei.

            Neue Verwicklungen ergeben sich, wenn man die Ana-
    lyse weiter fortsetzt. Die Associationsketten für die einzelnen
    Symptome beginnen dann in Beziehung zu einander zu treten;
    der Stammbaum verificirt sich. Bei einem gewissen Erlebniss
    der Erinnerungskette z. B. für das Erbrechen ist ausser den vier
    läufigen Gliedern dieser Kette eine Erinnerung aus einer anderen
    Kette erweckt worden, die ein anderes Symptom, etwa Kopf-
    schmerz, begründet; jenes Erlebniss gehört darum beiden Ketten
    an, es stellt einen Knotenpunkt dar, wie deren in jeder
    Analyse mehrere aufzufinden sind. Kein klinischer Correlat mag
    etwa sein, dass von einem gewissen Zeit an die beiden Sym-
    ptome zusammen auftreten, symbiotisch, eigentlich ohne innere
    Abhängigkeit von einander. Knotenpunkte anderer Art
    findet man noch weiter rückwärts. Dort convergiren die ein-
    zelnen Associationsketten; es finden sich Erlebnisse, von denen
    zwei oder mehrere Symptome ausgegangen sind. An das eine
    Detail der Scene hat die eine Kette, an ein anderes Detail
    die zweite Kette angeknüpft.

            Das wichtigste Ergebniss aber, auf welches man bei
    solcher consequenter Verfolgung der Analyse stießt, ist dieses:
    Von welchem Fall und von welchem Symptom immer man
    seinen Ausgang genommen, hat endlich gelangt man
    unfehlbar auf das Gebiet der sexuellen Er-
    lebniss. Hiemit wäre also zuerst eine ätiologische Bedingung
    hysterischer Symptome aufgedeckt.

            Ich kann nach früheren Erfahrungen voraussehn, dass
    gerade gegen diesen Satz oder gegen die Allgemeingültigkeit
    dieses Satzes Ihr Widerspruch, meine Herren, gerichtet sein
    wird, ich sage vielleicht besser: Ihre Widerspruchsneigung,
    denn es stehen wohl noch keinem von Ihnen Unterlagen
    zu Gebote, die mit demselben Verfahren angestellt, ein anderes
    Resultat ergeben hätten. Zum Versuche suchte ich will ich nur
    bemerken, dass die Auszeichnung des sexuellen Momentes in
    der Aetiologie der Hysterie bei mir mindestens keiner vor-
    gestellten Meinung entstammt. Die beiden Forscher, als deren
    Zögling ich meine erhebt über Hysterie begonnen, hab
    Charcot wie Breuer, standen einer derartigen Voraus-
    setzung ferne, ja brachen ihr eine persönliche Abneigung
    entgegen, von der ich anfangs meinen Antheil übernahm. Erst
    langsam genug, zu der Meinung bekehrt, die ich heute ver-
    trete. Wenn Sie meine Behauptung, die Aetiologie auch der
    Hysterie läge im Sexualleben der strengsten Prüfung unter-
    ziehen, so erweist sie sich als vertretbar durch die Angabe,
    dass ich in etwa 18 Fällen von Hysterie diesen Zusammenhang
    für jedes einzelne Symptom erkennen und wer es die Verhält-
    nisse gestatteten, durch den therapeutischen Erfolg bekräftigen
    konnte. Sie können mir dann freilich einwenden, die 19.
    und die 20. Analyse werde vielleicht eine Ableugnung hysterischer
    Symptome, auch aus anderen Quellen kennen lehren, und da
    mit die Giltigkeit der sexuellen Aetiologie von der Allgemein-
    heit auf 80 % einschränken. Wir wollen es gerne abwarten,
    aber da jene 18 Fälle gleichzeitig alle sind, an denen ich die
    Arbeit der Analyse unternehmen konnte, und da niemand
    diese Fälle mir zum Gefallen ausgesucht hat, werden Sie es
    begreiflich finden, dass ich jene Erwartung nicht theile, sondern
    bereit bin, mit meinem Glauben über die Beweiskraft meiner
    bisherigen Erfahrungen hinauszugehen. Dazu bewegt mich übrigens
    noch ein anderes Motiv von einstweilen blos subjectiver Art. Es
    ist dem einzigen Erklärungsversuch für den physiologischen
    und psychischen Mechanismus der Hysterie, der ich mir zur
    Zusammenfassung meiner Beobachtungen gestalten konnte,
    ist, mir die Einmengung sexueller Triebkräfte zur unentbehr-
    lichen Voraussetzung geworden.

            Also man gelangt, endlich, nachdem die Erinnerungs-
    ketten convergirt haben, auf sexuelles Gebiet und zu einigen
    wenigen Erlebnissen, die zumeist in die nämliche Lebens-
    periode, in das Alter der Pübertät fallen. Aus diesen Erleb-

    nissen soll man die Aetiologie der Hysterie entnehmen und
    durch sie die Entstehung hysterischer Symptome verstehen
    lehren. Hier erlebt man aber eine neue und schwerwiegende
    Enttäuschung; die mit viel Mühe aufgefundene, aus allen
    Erinnerungsmaterial extrabirten, anscheinend letzten traumati-
    schen Erlebnisse haben zwar den beiden Charakteren, Sexualität
    und Pubertätszeit, gemein, aber sie sind sonst so sehr disparat
    und ungleichwerthig. In einigen Fällen handelt es sich wohl
    um Erlebnisse, die wir als schwere Traumen anerkennen
    müssen, um einen Versuch der Vergewaltigung, den das un-
    reife Mädchen mit einem Schlage die ganze Brutalität der
    Geschlechtslust enthüllt, um eine unfreiwillige Zeugenschaft
    bei sexuellen Acten der Eltern, die in Ehen ungleicher Hände
    täfisches aufdeckt und das Kindliche wie das moralische Gefühl
    verletzt und herabzieht. In anderen Fällen sind diese Erleb-
    nisse von erstaunlicher Geringfügigkeit. Eine meiner Patientinnen
    zeigte zu Grunde ihrer Neurose das Erlebniss, von denen
    zwei oder mehrere Symptome ausgegangen sind. An das eine
    Detail der Scene hat die eine Kette, an ein anderes Detail
    die zweite Kette angeknüpft.
    bei unreinlichen Tücher hielten, zumal ihr kleines Mädchen
    sie einmal unter der Tischkante ihrerlei drohte, während
    sie nebeneinander bei Tische sassen, wobei noch seine Miene
    sie errathen liess, es handle sich um etwas unerlaubtes.
    Bei einer anderen jungen Dame habe zwar das Anhören
    einer Scherzfrage, die eine obscene Beantwortung ahnen liess,
    hingereicht, den ersten Angstausfall hervorzurufen und damit
    die Erkrankung zu eröffnen. Solche Erlebnisse sind offenbar
    einem Verständniss für die Verursachung hysterischer Sym-
    ptome nicht günstig. Wenn es eben sowohl schwere wie ge-
    ringfügige Erlebnisse, eben sowohl Erfahrungen am eigenen
    Leib wie visuelle Eindrücke und durch das Gehör empfangene
    Mittheilungen sind, die sich als die letzten Traumen der
    Hysterie erkennen lassen, so kann man etwa die Meinung ver-
    suchen, die Hysterischen seien besonders geartete Menschen
    Kinder, wahrscheinlicher in Folge erblicher Veranlagung oder
    degenerativer Verkümmerung, bei denen die Scenen vor der
    Sexualität, die im Pubertätsalter normaler Weise eine gewisse
    Rolle spielen, in’s Pathologische gesteigert und damit fest-
    gehalten wird, gewissermaassen Personen, die den Anforde-
    rungen der Sexualität psychisch nicht Genüge leisten können.
    Man vernachlässigt bei dieser Ausstellung allerdings die
    Hysterie der Männer; aber auch wenn es derartige gäbe,
    würde nicht gäbe, wäre die Versuchung kaum sehr gross, bei
    dieser Lösung stehen zu bleiben. Man verspürt hier nur zu
    deutlich die intellectuelle Empfindung des Halbverstandenen,
    Unklaren und Unzureichenden.

            Zum Glücke für unsere Aufklärung zeigen einzelne der
    sexuellen Pubertätserlebnisse eine weitere Zuzüglichkeit ein,
    die geeignet ist, zur Fortsetzung der analytischen Arbeit an-
    zuregen. Es kommt nämlich vor, dass auch diese Erlebnisse
    der determinirenden Eignung entbehren, wenngleich dies viel
    viel seltener ist als bei den traumatischen Scenen aus späterer
    Lebenszeit. So z. B. hatten sich bei den beiden Patientinnen,
    die ich vorhin als Fälle mit eigentlich harmlosen Pubertäts-
    erlebnissen angeführt habe, in Folge dieser Erlebnisse eigen-
    thümliche Erinnerungsstörungen. In den Genitalien liegen
    statt der Analyse Hilfs-Symptome der Neurose festgeschraubt
    deren Determinirung weder aus den Pubertätsscenen noch aus
    späteren abzuleiten war, die aber sicherlich nicht zu den nor-
    malen Organempfindungen oder zu den Zeichen sexueller An-
    regung gehören. Die unklare lag es nun, sich hier zu sagen,
    man müsse die Determinirung dieser Symptome noch irgendwo
    noch ein anderes Motiv von einstweilen blos subjectiver Art
    in dem einzigen Erklärungsversuch für den physiologischen
    und psychischen Mechanismus der Hysterie, der ich mir zur
    Zusammenfassung meiner Beobachtungen gestalten konnte,
    ist, mir die Einmengung sexueller Triebkräfte zur unentbehr-
    lichen Voraussetzung geworden.
    man müsse hier zum zweiten Male jenem rettenden Einfall
    folgen, der uns zuerst auf den ersten traumatischen Scenen
    zuerst den Erinnerungsketten ihrer geliefert hat. Man kommt
    damit freilich in die Zeit der ersten Kindheit, die Zeit vor
    der Entwicklung des sexuellen Lebens, womit ein Verzicht
    auf die sexuelle Aetiologie verbunden scheint. Aber das hat
    nicht ein Recht anzunehmen, dass es auch dem Kindesalter
    an beiden sexuellen Anregungen nicht gebricht, ja dass vielleicht
    die spätere sexuelle Entwicklung durch Kindererlebnisse in ent-
    scheidender Weise beeinflusst wird? Schädigungen, die unaus-

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    gebildete Organ, die in Entwicklung begriffene Function, treffen,
    verursachen ja so häufig schwerere und nachhaltigere Wirkungen,
    als sie im reiferen Alter entfalten könnten. Vielleicht liegen
    der abnormen Reaction gegen sexuelle Eindrücke, durch welche
    uns die Hysterischen in der Pubertätszeit überraschen, ganz
    allgemein solche sexuelle Erlebnisse der Kindheit zu Grunde,
    die dann von gleichförmiger und bedeutsamer Art sein müssten?
    Man gewänne so eine Aussicht, als frühzeitig erworben auf-
    zuklären, was man bisher einer durch die Heredität doch
    nicht verständlichen Prädisposition zur Last legen musste.
    Und da infantile Erlebnisse sexuellen Inhalts doch nur durch
    ihre Erinnerungsspuren eine psychische Wirkung äussern
    könnten, wäre dies nicht eine willkommene Ergänzung zu
    jenem Ergebniss der Analyse, dass hysterische Sym-
    ptome immer nur unter der Mitwirkung von Er-
    innerungen entstehen?

    (Fortsetzung folgt.)