S.
Originalartikel. Berichte aus Kliniken und Spitälern.
Zur Aetiologie der Hysterie.
VonDr. Sigmund Freud.
(Fortsetzung.)*)Wir wollen es nun aber nicht versäumen, den einen Satz
nachdrücklich hervorzuheben, den die analytische Arbeit längs
dieser Erinnerungsketten unerwarteter Weise ergeben hat. Wir
haben erfahren, dass kein hysterisches Symptom
aus einem realen Erlebniss allein hervorgehen
kann, sondern dass alle Male die associativ ge-
weckte Erinnerung an frühere Erlebnisse zur
Verursachung des Symptomes mitwirkt. Wenn
dieser Satz — wie ich meine — ohne Ausnahme richtig ist,
so bezeichnet er uns aber auch das Fundament, auf dem eine
psychologische Theorie der Hysterie aufzubauen ist.Sie könnten meinen, jene seltenen Fälle, in welchen die
Analyse das Symptom sofort auf eine traumatische Scene
von guter determinirender Eignung und traumatischer Kraft
zurückführt und es durch solche Zurückführung gleichzeitig
wegschafft, wie dies in Breuer’s Krankengeschichte der
Anna O. geschildert wird, seien doch mächtige Einwände
gegen die allgemeine Geltung des eben aufgestellten Satzes.
Das sieht in der That so aus; allein ich muss Sie versichern,
ich habe die triftigsten Gründe anzunehmen, dass selbst in
diesen Fällen eine Verkettung wirksamer Erinnerungen vor-
liegt, die weit hinter die erste traumatische Scene zurück-
reicht, wenngleich die Reproduction der letzteren allein
die Aufhebung des Symptoms zur Folge haben kann.Ich meine, es ist wirklich überraschend, dass hysterische
Symptome nur unter Mitwirkung von Erinnerungen entstehen*) Siehe Wiener klinische Rundschau 1896, Nr. 22.
können, zumal wenn man erwägt, dass diese Erinnerungen
nach allen Aussagen der Kranken ihnen im Moment, da das
Symptom zuerst auftrat, nicht zum Bewusstsein gekommen
waren. Hier ist Stoff für sehr viel Nachdenken gegeben, aber
diese Probleme sollen uns für jetzt nicht verlocken, unsere
Richtung nach der Aetiologie der Hysterie zu verlassen. Wir
müssen uns vielmehr fragen: Wohin gelangen wir, wenn wir
den Ketten associirter Erinnerungen folgen, welche die Ana-
lyse uns aufdeckt? Wie weit reichen sie; haben sie irgend-
wo ein natürliches Ende; führen sie uns etwa zu Erlebnissen,
die irgendwie gleichartig sind, dem Inhalt oder der Lebens-
zeit nach, so dass wir in diesen überall gleichartigen Factoren
die gesuchte Aetiologie der Hysterie erblicken könnten?Meine bisherige Erfahrung gestattet mir bereits, diese
Fragen zu beantworten. Wenn man von einem Falle ausgeht,
der mehrere Symptome bietet, so gelangt man mittelst der
Analyse von jedem Symptom aus zu einer Reihe von Erleb-
nissen, deren Erinnerungen in der Association miteinander
verkettet sind. Die einzelnen Erinnerungsketten verlaufen zu-
nächst distinct von einander nach rückwärts, sind aber, wie
bereits erwähnt, verzweigt; von einer Scene aus sind gleich-
zeitig zwei oder mehr Erinnerungen erreicht, von denen nun
Seitenketten ausgehen, deren einzelne Glieder wieder mit
Gliedern der Hauptkette associativ verknüpft sein mögen. Der
Vergleich mit dem Stammbaum einer Familie, deren Mit-
glieder auch untereinander geheiratet haben, passt hier wirk-
lich nicht übel. Andere Complicationen der Verkettung er-
geben sich daraus, dass eine einzelne Scene in derselben
Weise mehrmals erweckt werden kann, so dass sie zu einer
späteren Scene mehrfache Beziehungen hat, eine directe Ver-
knüpfung mit ihr aufweist und eine durch Mitgltederglieder her-
gestellte. Kurz, der Zusammenhang ist keineswegs ein ein-
facher und die Aufdeckung der Scenen in umgekehrter chrono-
logischer Folge (die eben den Vergleich mit der AufgrabungS.
eines geschichteten Trümmerfeldes rechtfertigt) trägt zum
rascheren Verständniss des Hergangs gewiss nichts bei.Neue Verwicklungen ergeben sich, wenn man die Ana-
lyse weiter fortsetzt. Die Associationsketten für die einzelnen
Symptome beginnen dann in Beziehung zu einander zu treten;
der Stammbaum verificirt sich. Bei einem gewissen Erlebniss
der Erinnerungskette z. B. für das Erbrechen ist ausser den vier
läufigen Gliedern dieser Kette eine Erinnerung aus einer anderen
Kette erweckt worden, die ein anderes Symptom, etwa Kopf-
schmerz, begründet; jenes Erlebniss gehört darum beiden Ketten
an, es stellt einen Knotenpunkt dar, wie deren in jeder
Analyse mehrere aufzufinden sind. Kein klinischer Correlat mag
etwa sein, dass von einem gewissen Zeit an die beiden Sym-
ptome zusammen auftreten, symbiotisch, eigentlich ohne innere
Abhängigkeit von einander. Knotenpunkte anderer Art
findet man noch weiter rückwärts. Dort convergiren die ein-
zelnen Associationsketten; es finden sich Erlebnisse, von denen
zwei oder mehrere Symptome ausgegangen sind. An das eine
Detail der Scene hat die eine Kette, an ein anderes Detail
die zweite Kette angeknüpft.Das wichtigste Ergebniss aber, auf welches man bei
solcher consequenter Verfolgung der Analyse stießt, ist dieses:
Von welchem Fall und von welchem Symptom immer man
seinen Ausgang genommen, hat endlich gelangt man
unfehlbar auf das Gebiet der sexuellen Er-
lebniss. Hiemit wäre also zuerst eine ätiologische Bedingung
hysterischer Symptome aufgedeckt.Ich kann nach früheren Erfahrungen voraussehn, dass
gerade gegen diesen Satz oder gegen die Allgemeingültigkeit
dieses Satzes Ihr Widerspruch, meine Herren, gerichtet sein
wird, ich sage vielleicht besser: Ihre Widerspruchsneigung,
denn es stehen wohl noch keinem von Ihnen Unterlagen
zu Gebote, die mit demselben Verfahren angestellt, ein anderes
Resultat ergeben hätten. Zum Versuche suchte ich will ich nur
bemerken, dass die Auszeichnung des sexuellen Momentes in
der Aetiologie der Hysterie bei mir mindestens keiner vor-
gestellten Meinung entstammt. Die beiden Forscher, als deren
Zögling ich meine erhebt über Hysterie begonnen, hab
Charcot wie Breuer, standen einer derartigen Voraus-
setzung ferne, ja brachen ihr eine persönliche Abneigung
entgegen, von der ich anfangs meinen Antheil übernahm. Erst
langsam genug, zu der Meinung bekehrt, die ich heute ver-
trete. Wenn Sie meine Behauptung, die Aetiologie auch der
Hysterie läge im Sexualleben der strengsten Prüfung unter-
ziehen, so erweist sie sich als vertretbar durch die Angabe,
dass ich in etwa 18 Fällen von Hysterie diesen Zusammenhang
für jedes einzelne Symptom erkennen und wer es die Verhält-
nisse gestatteten, durch den therapeutischen Erfolg bekräftigen
konnte. Sie können mir dann freilich einwenden, die 19.
und die 20. Analyse werde vielleicht eine Ableugnung hysterischer
Symptome, auch aus anderen Quellen kennen lehren, und da
mit die Giltigkeit der sexuellen Aetiologie von der Allgemein-
heit auf 80 % einschränken. Wir wollen es gerne abwarten,
aber da jene 18 Fälle gleichzeitig alle sind, an denen ich die
Arbeit der Analyse unternehmen konnte, und da niemand
diese Fälle mir zum Gefallen ausgesucht hat, werden Sie es
begreiflich finden, dass ich jene Erwartung nicht theile, sondern
bereit bin, mit meinem Glauben über die Beweiskraft meiner
bisherigen Erfahrungen hinauszugehen. Dazu bewegt mich übrigens
noch ein anderes Motiv von einstweilen blos subjectiver Art. Es
ist dem einzigen Erklärungsversuch für den physiologischen
und psychischen Mechanismus der Hysterie, der ich mir zur
Zusammenfassung meiner Beobachtungen gestalten konnte,
ist, mir die Einmengung sexueller Triebkräfte zur unentbehr-
lichen Voraussetzung geworden.Also man gelangt, endlich, nachdem die Erinnerungs-
ketten convergirt haben, auf sexuelles Gebiet und zu einigen
wenigen Erlebnissen, die zumeist in die nämliche Lebens-
periode, in das Alter der Pübertät fallen. Aus diesen Erleb-nissen soll man die Aetiologie der Hysterie entnehmen und
durch sie die Entstehung hysterischer Symptome verstehen
lehren. Hier erlebt man aber eine neue und schwerwiegende
Enttäuschung; die mit viel Mühe aufgefundene, aus allen
Erinnerungsmaterial extrabirten, anscheinend letzten traumati-
schen Erlebnisse haben zwar den beiden Charakteren, Sexualität
und Pubertätszeit, gemein, aber sie sind sonst so sehr disparat
und ungleichwerthig. In einigen Fällen handelt es sich wohl
um Erlebnisse, die wir als schwere Traumen anerkennen
müssen, um einen Versuch der Vergewaltigung, den das un-
reife Mädchen mit einem Schlage die ganze Brutalität der
Geschlechtslust enthüllt, um eine unfreiwillige Zeugenschaft
bei sexuellen Acten der Eltern, die in Ehen ungleicher Hände
täfisches aufdeckt und das Kindliche wie das moralische Gefühl
verletzt und herabzieht. In anderen Fällen sind diese Erleb-
nisse von erstaunlicher Geringfügigkeit. Eine meiner Patientinnen
zeigte zu Grunde ihrer Neurose das Erlebniss, von denen
zwei oder mehrere Symptome ausgegangen sind. An das eine
Detail der Scene hat die eine Kette, an ein anderes Detail
die zweite Kette angeknüpft.
bei unreinlichen Tücher hielten, zumal ihr kleines Mädchen
sie einmal unter der Tischkante ihrerlei drohte, während
sie nebeneinander bei Tische sassen, wobei noch seine Miene
sie errathen liess, es handle sich um etwas unerlaubtes.
Bei einer anderen jungen Dame habe zwar das Anhören
einer Scherzfrage, die eine obscene Beantwortung ahnen liess,
hingereicht, den ersten Angstausfall hervorzurufen und damit
die Erkrankung zu eröffnen. Solche Erlebnisse sind offenbar
einem Verständniss für die Verursachung hysterischer Sym-
ptome nicht günstig. Wenn es eben sowohl schwere wie ge-
ringfügige Erlebnisse, eben sowohl Erfahrungen am eigenen
Leib wie visuelle Eindrücke und durch das Gehör empfangene
Mittheilungen sind, die sich als die letzten Traumen der
Hysterie erkennen lassen, so kann man etwa die Meinung ver-
suchen, die Hysterischen seien besonders geartete Menschen
Kinder, wahrscheinlicher in Folge erblicher Veranlagung oder
degenerativer Verkümmerung, bei denen die Scenen vor der
Sexualität, die im Pubertätsalter normaler Weise eine gewisse
Rolle spielen, in’s Pathologische gesteigert und damit fest-
gehalten wird, gewissermaassen Personen, die den Anforde-
rungen der Sexualität psychisch nicht Genüge leisten können.
Man vernachlässigt bei dieser Ausstellung allerdings die
Hysterie der Männer; aber auch wenn es derartige gäbe,
würde nicht gäbe, wäre die Versuchung kaum sehr gross, bei
dieser Lösung stehen zu bleiben. Man verspürt hier nur zu
deutlich die intellectuelle Empfindung des Halbverstandenen,
Unklaren und Unzureichenden.Zum Glücke für unsere Aufklärung zeigen einzelne der
sexuellen Pubertätserlebnisse eine weitere Zuzüglichkeit ein,
die geeignet ist, zur Fortsetzung der analytischen Arbeit an-
zuregen. Es kommt nämlich vor, dass auch diese Erlebnisse
der determinirenden Eignung entbehren, wenngleich dies viel
viel seltener ist als bei den traumatischen Scenen aus späterer
Lebenszeit. So z. B. hatten sich bei den beiden Patientinnen,
die ich vorhin als Fälle mit eigentlich harmlosen Pubertäts-
erlebnissen angeführt habe, in Folge dieser Erlebnisse eigen-
thümliche Erinnerungsstörungen. In den Genitalien liegen
statt der Analyse Hilfs-Symptome der Neurose festgeschraubt
deren Determinirung weder aus den Pubertätsscenen noch aus
späteren abzuleiten war, die aber sicherlich nicht zu den nor-
malen Organempfindungen oder zu den Zeichen sexueller An-
regung gehören. Die unklare lag es nun, sich hier zu sagen,
man müsse die Determinirung dieser Symptome noch irgendwo
noch ein anderes Motiv von einstweilen blos subjectiver Art
in dem einzigen Erklärungsversuch für den physiologischen
und psychischen Mechanismus der Hysterie, der ich mir zur
Zusammenfassung meiner Beobachtungen gestalten konnte,
ist, mir die Einmengung sexueller Triebkräfte zur unentbehr-
lichen Voraussetzung geworden.
man müsse hier zum zweiten Male jenem rettenden Einfall
folgen, der uns zuerst auf den ersten traumatischen Scenen
zuerst den Erinnerungsketten ihrer geliefert hat. Man kommt
damit freilich in die Zeit der ersten Kindheit, die Zeit vor
der Entwicklung des sexuellen Lebens, womit ein Verzicht
auf die sexuelle Aetiologie verbunden scheint. Aber das hat
nicht ein Recht anzunehmen, dass es auch dem Kindesalter
an beiden sexuellen Anregungen nicht gebricht, ja dass vielleicht
die spätere sexuelle Entwicklung durch Kindererlebnisse in ent-
scheidender Weise beeinflusst wird? Schädigungen, die unaus-S.
gebildete Organ, die in Entwicklung begriffene Function, treffen,
verursachen ja so häufig schwerere und nachhaltigere Wirkungen,
als sie im reiferen Alter entfalten könnten. Vielleicht liegen
der abnormen Reaction gegen sexuelle Eindrücke, durch welche
uns die Hysterischen in der Pubertätszeit überraschen, ganz
allgemein solche sexuelle Erlebnisse der Kindheit zu Grunde,
die dann von gleichförmiger und bedeutsamer Art sein müssten?
Man gewänne so eine Aussicht, als frühzeitig erworben auf-
zuklären, was man bisher einer durch die Heredität doch
nicht verständlichen Prädisposition zur Last legen musste.
Und da infantile Erlebnisse sexuellen Inhalts doch nur durch
ihre Erinnerungsspuren eine psychische Wirkung äussern
könnten, wäre dies nicht eine willkommene Ergänzung zu
jenem Ergebniss der Analyse, dass hysterische Sym-
ptome immer nur unter der Mitwirkung von Er-
innerungen entstehen?(Fortsetzung folgt.)
(Fortsetzung)
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