Zur Aetiologie der Hysterie [IV.] 1896-003/1896.4
  • S.

    Zur Aetiologie der Hysterie.
    Von
    Dr. Sigm. Freud.
    (Fortsetzung.*)

    Wo ein Verhältniss zwischen zwei Kindern vorlag, ge-
    lang nun einige Male der Nachweis, dass der Knabe der
    auch hier die aggressive Rolle spielt — vorher von einer er-
    wachsenen weiblichen Person verführt worden war, und dass
    er dann unter dem Drucke seiner vorzeitig geweckten Libido
    und infolge des Erinnerungszwanges an dem kleinen Mädchen
    genau die nämlichen Praktiken zu wiederholen suchte, die er
    bei der Erwachsenen gelernt hatte, ohne dass er selbstständig
    eine Modification in der Art der sexuellen Bethätigung vor-
    genommen hätte.

    Ich bin daher geneigt anzunehmen, dass ohne vorherige
    Verführung Kinder den Weg zu Akten sexueller Aggression
    nicht zu finden vermögen. Der Grund zur Neurose wurde
    demnach im Kindesalter immer von Seiten Erwachsener gelegt,
    und die Kinder selbst übertragen einander die Disposition, später
    an Hysterie zu erkranken. Ich bitte, verweilen Sie noch einen
    Moment bei der besonderen Häufigkeit sexueller Beziehungen
    im Kindesalter gerade zwischen Geschwistern und Vettern in-
    folge der Gelegenheit zu häufigem Beisammensein, stellen Sie
    sich vor, dass 10 oder 15 Jahre später in dieser Familie
    mehrere Individuen der jungen Generation krank gefunden
    werden, und fragen Sie sich, ob dieses familiäre Auftreten
    der Neurose nicht geeignet ist, zur Annahme einer erblichen
    Disposition zu verleiten, wo doch nur eine Pseudoheredität
    vorliegt, und in Wirklichkeit eine Uebertragung, eine Infection,
    in der Kindheit stattgefunden hat.

    Nun wenden wir uns zu dem anderen Einwand, welcher
    gerade auf der zugestandenen Häufigkeit infantiler Sexual-
    erlebnisse und auf der Erfahrung fusst, dass viele Personen sich
    an solche Scenen erinnern, die nicht hysterisch geworden sind.
    Dagegen sagen wir zunächst, dass die übergrosse Häufigkeit
    eines ätiologischen Momentes unmöglich zum Einwurf gegen
    dessen ätiologische Bedeutung verwendet werden kann. Ist
    der Tuberkelbacillus nicht allgegenwärtig und wird von weit
    mehr Menschen eingeatmeth, als sich an Tuberculose erkrankt
    zeigen? Und wird seine ätiologische Bedeutung durch die
    Thatsache geschädigt, dass er offenbar der Mitwirkung anderer
    Factoren bedarf, um die Tuberculose, seinen specifischen
    Effect, hervorzurufen? Es reicht für seine Würdigung als

    *) Wiesbade, Bergmann, 1893.
    **) Siehe Wiener klinische Rundschau 1896, Nr. 22, 23 und 24.

    specifische Aetiologie aus, dass Tuberculose nicht möglich ist
    ohne seine Mitwirkung. Das Gleiche gilt wohl auch für unser
    Problem. Es stört nicht, wenn viele Menschen infantile
    Sexualscenen erleben ohne hysterisch zu werden, wenn nur
    alle, die hysterisch werden, solche Scenen erlebt haben. Der
    Kreis des Vorkommens eines ätiologischen Factors darf gerne
    ausgedehnter sein als der seines Effectes, nur nicht enger.
    Es erkranken nicht alle an Blattern, die einen Blatternkranken
    berühren oder ihm nahe kommen, und doch ist Uebertragung
    von reinem Blatternkranken fast die einzige uns bekannte
    Aetiologie der Erkrankung.

            Freilich, wenn infantile Bethätigung der Sexualität ein
    fast allgemeines Vorkommen wäre, kann viele auf deren
    Nachweis in allen Fällen kein Gewicht. Aber erstens wäre
    eine derartige Behauptung sicherlich eine arge Uebertreibung,
    und zweitens ruht der ätiologische Anspruch der infantilen
    Scenen nicht allein auf der Beständigkeit ihres Vorkommens
    in der Anamnese der Hysterischen, sondern vor Allem auf
    dem Nachweis der associativen und logischen Bande zwischen
    ihnen und den hysterischen Symptomen, der ihnen aus einer
    vollständig mitgetheilten Krankengeschichte sonnenklar ein-
    leuchten würde.

            Welches mögen die anderen Momente sein, deren die
    «specifische Aetiologie» der Hysterie noch bedarf, um die
    Neurose wirklich zu produciren? Dies, meine Herren, ist eigent-
    lich ein Thema für sich, das ich zu behandeln nicht vorhabe;
    ich brauche heute blos die Contactstelle aufzuzeigen, an
    welcher die beiden Theilstücke des Themas — specifische
    und Hilfsätiologie — in einander greifen. Es wird wohl eine
    ziemliche Anzahl von Factoren in Betracht kommen, die erb-
    liche und persönliche Constitution, die innere Bereitschafft
    der infantilen Sexualerlebnisse, vor allem deren Häufung; ein
    kurzes Verhältniss mit einem fremden, später gleichgiltigen
    Knaben wird an Wirksamkeit zurücktreten gegen mehrjährige,
    innige, sexuelle Beziehungen zum eigenen Bruder. Es sind in
    der Aetiologie der Neurosen quantitative Bedingungen eben-
    sowohl bedeutsam wie qualitative; es sind Schwellenwerthe
    zu überschreiten, wenn die Krankheit manifest werden
    soll. Ich halte die obige ätiologische Reihe übrigens selbst
    nicht für vollzählig und das Räthsel, warum die Hysterie in
    dem niederen Ständen nicht häufiger ist, durch sie noch nicht
    erledigt. (Erinnern Sie sich übrigens, welche überraschend
    grosse Verbreitung Charcot für die männliche Hysterie des
    Arbeiterstandes behauptete!) Ich darf Sie aber auch daran
    mahnen, dass ich selbst vor wenigen Jahren auf ein bisher
    wenig gewürdigtes Moment hingewiesen habe, für welches ich
    die Hauptrolle in der Hervorrufung der Hysterie nach der
    Pubertät in Anspruch nehme. Ich habe damals ausgeführt,
    dass sich der Ausbruch der Hysterie fast regelmässig auf
    einen psychischen Conflict zurückführen lässt, indem
    eine unverträgliche Vorstellung die Abwehr der ich-Rege-
    mente und zur Verdrängung aufforderte. Unter welchen Verhält-
    nissen dieses Abwehrbestreben den pathologischen Effect hat,
    die dem ich peinliche Erinnerung wirklich in’s Unbewusste
    zu drängen und an ihrer Statt ein hysterisches Symptom zu
    schaffen, das konnte ich damals nicht angeben. Ich ergänze
    es heute: Die Abwehr erreicht dann ihre Absicht,
    die unverträgliche Vorstellung aus dem Be-
    wusstsein zu drängen, wenn bei der betreffenden,
    bis dahin gesunden Person infantile Sexual-
    scenen als unbewusste Erinnerungen vorhanden
    sind, und wenn die zu verdrängende Vorstellung
    aetiologische oder associative Zusammenhänge
    mit einem solchen infantilen Erlebniss gebracht
    werden kann.

            Da das Abwehrbestreben des Ich von der gesammten
    moralischen und intellectuellen Ausbildung der Person ab-
    hängt, sind wir nun nicht mehr ohne jedes Verständniss für
    die Thatsache, dass die Hysterie beim niederen Volk so viel
    seltener ist, als ihre specifische Aetiologie gestatten würde.

  • S.

    Meine Herren, kehren wir noch einmal zurück zu jener
    letzten Gruppe von Einwänden, deren Beantwortung uns so
    weit geführt hat. Wir haben gehört und anerkannt, dass es
    zahlreiche Personen gibt, die infantile Sexualerlebnisse sehr
    deutlich erinnern, und die doch nicht hysterisch sind. Dieser
    Einwand ist ganz ohne Gewicht, er wird uns aber Anlass zu
    einer werthvollen Bemerkung bieten. Personen dieser Art
    dürfen nach unserem Verständniss der Neurose gar nicht
    hysterisch sein, oder niemals hysterisch, in Folge der
    geringen Belastung der Erinnerungen, die sie beim Kranken sind
    diese Erinnerungen niemals bewusst; wir heilen sie aber von
    ihrer Hysterie, indem wir ihnen die unbewussten Erinnerungen
    der Infantilescenen in’s Bewusste verwandeln. An der Thatsache,
    dass sie solche Erlebnisse gehabt haben, konnten und brauchten
    wir nichts zu ändern. Sie ersehen daraus, dass es auf die
    Existenz der infantilen Sexualerlebnisse allein nicht ankommt,
    sondern dass eine psychologische Bedingung noch dabei ist.
    Diese Scenen müssen als unbewusste Erinnerungen
    vorhanden sein; nur so lange und insoferne sie unbewusst
    sind, können sie hysterische Symptome erzeugen und unter-
    halten. Wovon es aber abhängt, ob diese Erlebnisse bewusste
    oder unbewusste Erinnerungen ergeben, ob die Bedingung hie-
    für im Inhalt der Erlebnisse, in der Zeit, zu der sie vorfallen,
    oder in späteren Einflüssen liegt, dies ist ein neues Problem,
    dem wir behutsam aus dem Wege gehen wollen. Lassen Sie
    sich blos daran mahnen, dass uns die Analyse als erstes
    Resultat den Satz gebracht hat: Die hysterischen Sym-
    ptome sind Abkömmlinge unbewusst wirkender
    Erinnerungen.

            c) Wenn wir daran festhalten, infantile Sexualerlebnisse
    seien die Grundbedingung, sozusagen die Disposition der
    Hysterie, welche erstens die hysterischen Symptome, welche
    durch die Verdrängung einer unverträglichen Vorstellung
    unmittelbar, sondern bleiben zunächst wirkungslos und an
    ihrer Statt gebildet werden, wenn sie im Alter nach der
    Pubertät an unbewusste Erinnerungen geweckt werden, so haben
    wir uns mit den zahlreichen Beobachtungen auseinander-
    zusetzen, welche das Auftreten hysterischer Erkrankung
    bereits im Kindesalter und vor der Pubertät verweisen. Indem
    wir aus den Analysen gewonnenen Daten über die zeitlichen
    Umstände der infantilen Sexualerlebnisse näher betrachten: man
    erfährt dann, dass in unseren schwereren Fällen die Bildung
    hysterischer Symptome nicht etwa ausnahmsweise, sondern
    eher regelmässig mit dem 8. Jahr beginnt, und dass die
    Sexualerlebnisse, die keine unmittelbare Wirkung äussern,
    jedesmal weiter zurück
    reichen, in’s 3. 4. selbst vor wenigen Jahren auf ein bisher
    wenig gewürdigtes Moment hingewiesen habe, für welches ich
    die Hauptrolle in der Hervorrufung der Hysterie nach der
    Pubertät in Anspruch nehme. Ich habe damals ausgeführt,
    dass sich der Ausbruch der Hysterie fast regelmässig auf
    einen psychischen Conflict zurückführen lässt, indem
    eine unverträgliche Vorstellung die Abwehr der ich-Rege-
    mente und zur Verdrängung aufforderte. Unter welchen Verhält-
    nissen dieses Abwehrbestreben den pathologischen Effect hat,
    die dem ich peinliche Erinnerung wirklich in’s Unbewusste
    zu drängen und an ihrer Statt ein hysterisches Symptom zu
    schaffen, das konnte ich damals nicht angeben. Ich ergänze
    es heute: Die Abwehr erreicht dann ihre Absicht,
    die unverträgliche Vorstellung aus dem Be-
    wusstsein zu drängen, wenn bei der betreffenden,
    bis dahin gesunden Person infantile Sexual-
    scenen als unbewusste Erinnerungen vorhanden
    sind, und wenn die zu verdrängende Vorstellung
    aetiologische oder associative Zusammenhänge
    mit einem solchen infantilen Erlebniss gebracht
    werden kann.

            Man gewinnt so einen Hinweis darauf, dass ein gewisser
    infantiler Zustand der psychischen Functionen wie des
    Sexualsystems erforderlich ist, damit eine in diese Periode
    fallende sexuelle Erfahrung später als Erinnerung pathogene
    Wirkung entfalte. Ich getraue mich indess noch nicht, über
    die Natur dieses psychischen Infantilismus und über seine
    zeitliche Begrenzung Näheres auszusagen.

            d) Eine weitere Einwendung könnte etwa daran Anstoss
    nehmen, dass die Erinnerung der infantilen Sexualerlebnisse
    so grossartige pathogene Wirkungen äussern soll, während das

    Erleben derselben selbst wirkungslos geblieben ist. Wir sind
    ja in der That nicht daran gewöhnt, dass von einem Er-
    innerungsbild Kräfte ausgehen, welche dem realen Eindruck
    gefehlt haben. Sie bemerken hier übrigens, mit welcher Con-
    sequenz bei der Hysterie der Satz durchgeführt ist, dass
    Symptome nur aus Erinnerungen hervorgehen können. Alle
    die späteren Scenen, bei denen die Symptome entstehen,
    sind nicht die wirksamen, und die eigentlich wirksamen
    Erlebnisse erzeugen zunächst keinen Effect. Wir stehen hier
    vor einem Problem, welches wir mit gutem Recht von
    unserem Thema sondern können. Man fühlt sich freilich zu
    einer Synthese aufgefordert, wenn man die Reihe von
    auffälligen Bedingungen überdenkt, zu deren Kenntniss wir
    gelangt sind: Dass, um ein hysterisches Symptom zu bilden,
    ein Abwehrbestreben gegen eine peinliche Vorstellung
    vorhanden sein muss; dass diese eine logische oder associative
    Verknüpfung aufweisen muss mit einer unbewussten Erinnerung
    durch zahlreiche oder wenige Mittelglieder, die in diesem
    Moment gleichfalls unbewusst bleiben; dass jene unbewusste
    Erinnerung nur sexuellen Inhalts sein kann; dass sie ein
    Erlebniss zum Inhalt hat, welches sich in einer gewissen
    infantilen Lebensperiode zugetragen hat; und man kann
    nicht umhin, sich zu fragen, wie es zugeht, dass diese
    Erinnerung an ein seinerzeit harm-
    loses Erlebniss posthum die abnorme Wirkung äussert,
    einen psychischen Vorgang wie die Abwehr zu einem
    pathologischen Resultat zu leiten, während sie selbst dabei
    unbe-
    wusst bleibt?

            Man wird sich aber sagen müssen, dies sei ein rein
    psychologisches Problem, dessen Lösung vielleicht bestimmte
    Annahmen über die normalen psychischen Vorgänge und über
    die Rolle des Bewusstseins dabei nothwendig macht, das aber
    einstweilen ungelöst bleiben kann, ohne unsere bisher ge-
    wonnene Einsicht in die Aetiologie der hysterischen Phänomene
    zu entwerthen.

    (Schluss folgt.)