S.
Zur Aetiologie der Hysterie.
Von
Dr. Sigm. Freud.
(Fortsetzung.*)Wo ein Verhältniss zwischen zwei Kindern vorlag, ge-
lang nun einige Male der Nachweis, dass der Knabe der
auch hier die aggressive Rolle spielt — vorher von einer er-
wachsenen weiblichen Person verführt worden war, und dass
er dann unter dem Drucke seiner vorzeitig geweckten Libido
und infolge des Erinnerungszwanges an dem kleinen Mädchen
genau die nämlichen Praktiken zu wiederholen suchte, die er
bei der Erwachsenen gelernt hatte, ohne dass er selbstständig
eine Modification in der Art der sexuellen Bethätigung vor-
genommen hätte.Ich bin daher geneigt anzunehmen, dass ohne vorherige
Verführung Kinder den Weg zu Akten sexueller Aggression
nicht zu finden vermögen. Der Grund zur Neurose wurde
demnach im Kindesalter immer von Seiten Erwachsener gelegt,
und die Kinder selbst übertragen einander die Disposition, später
an Hysterie zu erkranken. Ich bitte, verweilen Sie noch einen
Moment bei der besonderen Häufigkeit sexueller Beziehungen
im Kindesalter gerade zwischen Geschwistern und Vettern in-
folge der Gelegenheit zu häufigem Beisammensein, stellen Sie
sich vor, dass 10 oder 15 Jahre später in dieser Familie
mehrere Individuen der jungen Generation krank gefunden
werden, und fragen Sie sich, ob dieses familiäre Auftreten
der Neurose nicht geeignet ist, zur Annahme einer erblichen
Disposition zu verleiten, wo doch nur eine Pseudoheredität
vorliegt, und in Wirklichkeit eine Uebertragung, eine Infection,
in der Kindheit stattgefunden hat.Nun wenden wir uns zu dem anderen Einwand, welcher
gerade auf der zugestandenen Häufigkeit infantiler Sexual-
erlebnisse und auf der Erfahrung fusst, dass viele Personen sich
an solche Scenen erinnern, die nicht hysterisch geworden sind.
Dagegen sagen wir zunächst, dass die übergrosse Häufigkeit
eines ätiologischen Momentes unmöglich zum Einwurf gegen
dessen ätiologische Bedeutung verwendet werden kann. Ist
der Tuberkelbacillus nicht allgegenwärtig und wird von weit
mehr Menschen eingeatmeth, als sich an Tuberculose erkrankt
zeigen? Und wird seine ätiologische Bedeutung durch die
Thatsache geschädigt, dass er offenbar der Mitwirkung anderer
Factoren bedarf, um die Tuberculose, seinen specifischen
Effect, hervorzurufen? Es reicht für seine Würdigung als*) Wiesbade, Bergmann, 1893.
**) Siehe Wiener klinische Rundschau 1896, Nr. 22, 23 und 24.specifische Aetiologie aus, dass Tuberculose nicht möglich ist
ohne seine Mitwirkung. Das Gleiche gilt wohl auch für unser
Problem. Es stört nicht, wenn viele Menschen infantile
Sexualscenen erleben ohne hysterisch zu werden, wenn nur
alle, die hysterisch werden, solche Scenen erlebt haben. Der
Kreis des Vorkommens eines ätiologischen Factors darf gerne
ausgedehnter sein als der seines Effectes, nur nicht enger.
Es erkranken nicht alle an Blattern, die einen Blatternkranken
berühren oder ihm nahe kommen, und doch ist Uebertragung
von reinem Blatternkranken fast die einzige uns bekannte
Aetiologie der Erkrankung.Freilich, wenn infantile Bethätigung der Sexualität ein
fast allgemeines Vorkommen wäre, kann viele auf deren
Nachweis in allen Fällen kein Gewicht. Aber erstens wäre
eine derartige Behauptung sicherlich eine arge Uebertreibung,
und zweitens ruht der ätiologische Anspruch der infantilen
Scenen nicht allein auf der Beständigkeit ihres Vorkommens
in der Anamnese der Hysterischen, sondern vor Allem auf
dem Nachweis der associativen und logischen Bande zwischen
ihnen und den hysterischen Symptomen, der ihnen aus einer
vollständig mitgetheilten Krankengeschichte sonnenklar ein-
leuchten würde.Welches mögen die anderen Momente sein, deren die
«specifische Aetiologie» der Hysterie noch bedarf, um die
Neurose wirklich zu produciren? Dies, meine Herren, ist eigent-
lich ein Thema für sich, das ich zu behandeln nicht vorhabe;
ich brauche heute blos die Contactstelle aufzuzeigen, an
welcher die beiden Theilstücke des Themas — specifische
und Hilfsätiologie — in einander greifen. Es wird wohl eine
ziemliche Anzahl von Factoren in Betracht kommen, die erb-
liche und persönliche Constitution, die innere Bereitschafft
der infantilen Sexualerlebnisse, vor allem deren Häufung; ein
kurzes Verhältniss mit einem fremden, später gleichgiltigen
Knaben wird an Wirksamkeit zurücktreten gegen mehrjährige,
innige, sexuelle Beziehungen zum eigenen Bruder. Es sind in
der Aetiologie der Neurosen quantitative Bedingungen eben-
sowohl bedeutsam wie qualitative; es sind Schwellenwerthe
zu überschreiten, wenn die Krankheit manifest werden
soll. Ich halte die obige ätiologische Reihe übrigens selbst
nicht für vollzählig und das Räthsel, warum die Hysterie in
dem niederen Ständen nicht häufiger ist, durch sie noch nicht
erledigt. (Erinnern Sie sich übrigens, welche überraschend
grosse Verbreitung Charcot für die männliche Hysterie des
Arbeiterstandes behauptete!) Ich darf Sie aber auch daran
mahnen, dass ich selbst vor wenigen Jahren auf ein bisher
wenig gewürdigtes Moment hingewiesen habe, für welches ich
die Hauptrolle in der Hervorrufung der Hysterie nach der
Pubertät in Anspruch nehme. Ich habe damals ausgeführt,
dass sich der Ausbruch der Hysterie fast regelmässig auf
einen psychischen Conflict zurückführen lässt, indem
eine unverträgliche Vorstellung die Abwehr der ich-Rege-
mente und zur Verdrängung aufforderte. Unter welchen Verhält-
nissen dieses Abwehrbestreben den pathologischen Effect hat,
die dem ich peinliche Erinnerung wirklich in’s Unbewusste
zu drängen und an ihrer Statt ein hysterisches Symptom zu
schaffen, das konnte ich damals nicht angeben. Ich ergänze
es heute: Die Abwehr erreicht dann ihre Absicht,
die unverträgliche Vorstellung aus dem Be-
wusstsein zu drängen, wenn bei der betreffenden,
bis dahin gesunden Person infantile Sexual-
scenen als unbewusste Erinnerungen vorhanden
sind, und wenn die zu verdrängende Vorstellung
aetiologische oder associative Zusammenhänge
mit einem solchen infantilen Erlebniss gebracht
werden kann.Da das Abwehrbestreben des Ich von der gesammten
moralischen und intellectuellen Ausbildung der Person ab-
hängt, sind wir nun nicht mehr ohne jedes Verständniss für
die Thatsache, dass die Hysterie beim niederen Volk so viel
seltener ist, als ihre specifische Aetiologie gestatten würde.S.
Meine Herren, kehren wir noch einmal zurück zu jener
letzten Gruppe von Einwänden, deren Beantwortung uns so
weit geführt hat. Wir haben gehört und anerkannt, dass es
zahlreiche Personen gibt, die infantile Sexualerlebnisse sehr
deutlich erinnern, und die doch nicht hysterisch sind. Dieser
Einwand ist ganz ohne Gewicht, er wird uns aber Anlass zu
einer werthvollen Bemerkung bieten. Personen dieser Art
dürfen nach unserem Verständniss der Neurose gar nicht
hysterisch sein, oder niemals hysterisch, in Folge der
geringen Belastung der Erinnerungen, die sie beim Kranken sind
diese Erinnerungen niemals bewusst; wir heilen sie aber von
ihrer Hysterie, indem wir ihnen die unbewussten Erinnerungen
der Infantilescenen in’s Bewusste verwandeln. An der Thatsache,
dass sie solche Erlebnisse gehabt haben, konnten und brauchten
wir nichts zu ändern. Sie ersehen daraus, dass es auf die
Existenz der infantilen Sexualerlebnisse allein nicht ankommt,
sondern dass eine psychologische Bedingung noch dabei ist.
Diese Scenen müssen als unbewusste Erinnerungen
vorhanden sein; nur so lange und insoferne sie unbewusst
sind, können sie hysterische Symptome erzeugen und unter-
halten. Wovon es aber abhängt, ob diese Erlebnisse bewusste
oder unbewusste Erinnerungen ergeben, ob die Bedingung hie-
für im Inhalt der Erlebnisse, in der Zeit, zu der sie vorfallen,
oder in späteren Einflüssen liegt, dies ist ein neues Problem,
dem wir behutsam aus dem Wege gehen wollen. Lassen Sie
sich blos daran mahnen, dass uns die Analyse als erstes
Resultat den Satz gebracht hat: Die hysterischen Sym-
ptome sind Abkömmlinge unbewusst wirkender
Erinnerungen.c) Wenn wir daran festhalten, infantile Sexualerlebnisse
seien die Grundbedingung, sozusagen die Disposition der
Hysterie, welche erstens die hysterischen Symptome, welche
durch die Verdrängung einer unverträglichen Vorstellung
unmittelbar, sondern bleiben zunächst wirkungslos und an
ihrer Statt gebildet werden, wenn sie im Alter nach der
Pubertät an unbewusste Erinnerungen geweckt werden, so haben
wir uns mit den zahlreichen Beobachtungen auseinander-
zusetzen, welche das Auftreten hysterischer Erkrankung
bereits im Kindesalter und vor der Pubertät verweisen. Indem
wir aus den Analysen gewonnenen Daten über die zeitlichen
Umstände der infantilen Sexualerlebnisse näher betrachten: man
erfährt dann, dass in unseren schwereren Fällen die Bildung
hysterischer Symptome nicht etwa ausnahmsweise, sondern
eher regelmässig mit dem 8. Jahr beginnt, und dass die
Sexualerlebnisse, die keine unmittelbare Wirkung äussern,
jedesmal weiter zurück
reichen, in’s 3. 4. selbst vor wenigen Jahren auf ein bisher
wenig gewürdigtes Moment hingewiesen habe, für welches ich
die Hauptrolle in der Hervorrufung der Hysterie nach der
Pubertät in Anspruch nehme. Ich habe damals ausgeführt,
dass sich der Ausbruch der Hysterie fast regelmässig auf
einen psychischen Conflict zurückführen lässt, indem
eine unverträgliche Vorstellung die Abwehr der ich-Rege-
mente und zur Verdrängung aufforderte. Unter welchen Verhält-
nissen dieses Abwehrbestreben den pathologischen Effect hat,
die dem ich peinliche Erinnerung wirklich in’s Unbewusste
zu drängen und an ihrer Statt ein hysterisches Symptom zu
schaffen, das konnte ich damals nicht angeben. Ich ergänze
es heute: Die Abwehr erreicht dann ihre Absicht,
die unverträgliche Vorstellung aus dem Be-
wusstsein zu drängen, wenn bei der betreffenden,
bis dahin gesunden Person infantile Sexual-
scenen als unbewusste Erinnerungen vorhanden
sind, und wenn die zu verdrängende Vorstellung
aetiologische oder associative Zusammenhänge
mit einem solchen infantilen Erlebniss gebracht
werden kann.Man gewinnt so einen Hinweis darauf, dass ein gewisser
infantiler Zustand der psychischen Functionen wie des
Sexualsystems erforderlich ist, damit eine in diese Periode
fallende sexuelle Erfahrung später als Erinnerung pathogene
Wirkung entfalte. Ich getraue mich indess noch nicht, über
die Natur dieses psychischen Infantilismus und über seine
zeitliche Begrenzung Näheres auszusagen.d) Eine weitere Einwendung könnte etwa daran Anstoss
nehmen, dass die Erinnerung der infantilen Sexualerlebnisse
so grossartige pathogene Wirkungen äussern soll, während dasErleben derselben selbst wirkungslos geblieben ist. Wir sind
ja in der That nicht daran gewöhnt, dass von einem Er-
innerungsbild Kräfte ausgehen, welche dem realen Eindruck
gefehlt haben. Sie bemerken hier übrigens, mit welcher Con-
sequenz bei der Hysterie der Satz durchgeführt ist, dass
Symptome nur aus Erinnerungen hervorgehen können. Alle
die späteren Scenen, bei denen die Symptome entstehen,
sind nicht die wirksamen, und die eigentlich wirksamen
Erlebnisse erzeugen zunächst keinen Effect. Wir stehen hier
vor einem Problem, welches wir mit gutem Recht von
unserem Thema sondern können. Man fühlt sich freilich zu
einer Synthese aufgefordert, wenn man die Reihe von
auffälligen Bedingungen überdenkt, zu deren Kenntniss wir
gelangt sind: Dass, um ein hysterisches Symptom zu bilden,
ein Abwehrbestreben gegen eine peinliche Vorstellung
vorhanden sein muss; dass diese eine logische oder associative
Verknüpfung aufweisen muss mit einer unbewussten Erinnerung
durch zahlreiche oder wenige Mittelglieder, die in diesem
Moment gleichfalls unbewusst bleiben; dass jene unbewusste
Erinnerung nur sexuellen Inhalts sein kann; dass sie ein
Erlebniss zum Inhalt hat, welches sich in einer gewissen
infantilen Lebensperiode zugetragen hat; und man kann
nicht umhin, sich zu fragen, wie es zugeht, dass diese
Erinnerung an ein seinerzeit harm-
loses Erlebniss posthum die abnorme Wirkung äussert,
einen psychischen Vorgang wie die Abwehr zu einem
pathologischen Resultat zu leiten, während sie selbst dabei
unbe-
wusst bleibt?Man wird sich aber sagen müssen, dies sei ein rein
psychologisches Problem, dessen Lösung vielleicht bestimmte
Annahmen über die normalen psychischen Vorgänge und über
die Rolle des Bewusstseins dabei nothwendig macht, das aber
einstweilen ungelöst bleiben kann, ohne unsere bisher ge-
wonnene Einsicht in die Aetiologie der hysterischen Phänomene
zu entwerthen.(Schluss folgt.)
(Fortsetzung)
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