Zur Kritik der „Angstneurose“ (Schluss) 1895-006/1895.3
  • S.

    Der freie Rand des Stimmbandes ist: eingenommen von
    einem System leistenl'ürmiger Papillen, die in ihrer Grund-
    richtung der Richtung des Stimmbendes annähernd parallel
    laufen, sich aber doch vielfach gegen einander neigen und
    treffen. Diese Leisten liegen zum grösseren Theile unterlith
    des freien Bundes, miehen aber doch auch mehr oder weniger
    weit auf die obere Fläche des Stimmbandes hinauf. In der
    Gegend des Processus vooalis ändert sich das Bild insofern
    als sich dort gewissermassen ein Scheitelpunkt findet, um
    den herum die Gruppirung der Leisten angeordnet ist. Die
    Leistenbildung findet sich nur im Gebiet des Plattenepithels
    und hört auf, sobald das Flilnlnerepithel im die Stelle des-
    selben tritt.

    Was das Vorkommen dieser Leisten heim Fütus und Neu-
    geborenen und in der Thierreihe nnhetriil‘t, so sind die Unter-
    suchungen darüber nicht abgeschlossen, resp. weil auf wenige
    Fälle beschränkt, nicht. illassgehcnd. Von den früheren Autoren
    gibt B 0 ] dyrew m) an, er habe die den Leisten entsprechenden
    Pnpillen beim Pferd, beim Hund und beim Menschen constant
    angetrotl'en; B ende hat die Leisten bei der Katze, ich beim
    Kaninchen nachweisen können; an einem Hundepriiparnt
    fanden sie sich ebenfalls, wiihrend an einem Kehlkopfe eines
    Affen und einem solchen eines neugeborenen Kindes dieselben
    nicht mit sicherheit gefunden wurden.

    Zur Kritik der „Angstneurose“.
    Von

    Dr. Sig-m. Proud.
    (Schluss!)

    4, Ich übergehe nun zu einer Bemerkung, die ieh meinem
    geehrten Herrn Kritiker nicht unu'idei‘spi'ocherl lassen darf.

    Ich hatte in meiner Mittheilung über die Angstncurose
    (l. c. p. 56) geschrieben:

    «In manchen Fällen von Angstneurosc lässt sich eine
    Aetiolcgie überhaupt nicht erkennen. Es ist bemerkenswerth,
    dass in solchen Fällen der Nachweis einer schweren heredi»
    tären Belastung selten aufSchwierigkcitcn stllsst»

    «Wo man aber Grund hat die Neurnse fiir eine er-
    Worbene zu halten, da findet man bei sorgfiiltigem, dahin
    zielendem Examen als ätiologisch wirksame Momente eine
    Reihe von Schädlichkeiten und Einflüssen aus dem Sexual—
    leben „.) Lilwenfeld druckt diese Stelle al) und knüpft
    an sie folgende Glosse: Als «erworben» scheint demnach F.
    die Neurose immer zu betrachten, wenn Gelegcnheitsursachen
    derselben aufzufinden sind.

    Wenn sich dieser Sinn zwanglos aus meinem Text abe
    leiten lässt, so gibt letzterer meinem Gedanken sehr entstcllten
    Ausdruck. Ich mache darauf aufmerksam, dass ich vorhin
    in der Werthschi'itzung der Gelngrnheitsursaehen mich weit
    strenger als Löwenfeld erwiesen habe. Sollte ich die
    Meinung meiner Sätze selbst erläutern, so wiirde ich es thun,
    indem ich nach der Bedingung: W u m an aber Grund hat,
    die Neurone fiir eine erworbene zu halten . . .,
    einschalte: weil der (im vorigen Satz erwähnte)
    Nachweis hereditl'trcr Belastung nicht gelingt,
    Der Sinn ist: ich halte ll en Fall für einen erworbenen, in dem
    sich Hereditiit nicht nachweisen lässt. Ich benehme mich
    dabei wie alle Welt, vielleicht mit. dem kleinen Unterschied
    dass Andere den Fall auch dann fiir hereditär bedingt e
    klären, wo Heredität nicht besteht, so dass sit: die ganze
    Kategorie erworbener Neurusen übersehen. Dieser Unterschied
    aber läuft zu meinen Gunsten, Ich gestehe jedoch zu, dass ich
    solches Missverständnis durch die liedewenduug im ersten
    Satze: «es lässt sich eine Aetlolngie iiberhaupt nicht erkennen—
    selbst verschuldet habe. Ich werde sicherlich auch von an»

    ..) uol_dyrrw. Beiträge zur Kennlliiss der Nerven, Blut- und
    Lymphgeiiisse der K2hlknpfsclileimhaut, Arch. [ mikrosk, Anatomie
    1871, Bel. 7, p. 173.

    ») Siehe Wiener klinische Rundschnu tesa, Nr. 27 und, in.

    Wiener klinische Rundschau 1895

    derer Seite zu hören bekommen, ich schade mir mit der
    Suche nach den specifischen Ursachen der Neurosen tib6r-
    flüssige Mühe. Die wirkliche Aetiolngie der Angstncurosen
    wie der Neurnsen überhaupt sei ja bekannt, es sei die Here
    dität, und zwei wirkliche Ursachen könnten neben einander
    nicht bestehen. Die ätiologische Rolle der Heredität leuguete
    ich wohl nicht? Dann aber seien alle anderen Aetiologien —
    Gelegenheitsursachcn und einander gleichwerthig oder gleich
    nlinderwerthig.

    Ich theile diese Anschauung über die Rolle der Here—
    dititt nicht, und da ich gerade dieses Thema in meiner kurzen
    Mittheilung über die Angstneurose am wenigsten gewürdigt
    habe, Will ich versuchen, hier etwas vom tlnterlasscncn nach-
    zuholen und den Eindruck zu verwischen, als hätte ich mich
    bei der Abfassung meiner Arbeit nicht um alle zugehörigen
    Rilthsclfragen gemüht.

    Ich glaube, man ermöglicht sich eine Darstellung der
    wahrscheinlich sehr complicirten ät'lologischen Verhältnisse,
    die in der Pathologie der Neurosen 0bwalten, wenn man sich
    folgende ätiologische Begriffe festlegt:

    a.) Bedingung, b) specifische Ursache, c) con—
    currirende Ursache und als den vorigen nicht gleich
    werthigcn Terminus, d) Veranlassung oder auslöscndc
    U r s a c h 0.

    Um allen Möglichkeiten zu genügen, nehme man an, es
    handle sich um ätiologische Momente, die einer quantitativen
    Veränderung, also der Steigerung oder Verringerung, ruhig sind.

    Lässt man sich die Vorstellung einer mehrgliederigen
    tltiologischen Gleichung gefallen, die erfüllt sein muss, wenn der
    Effect zu Stande kommen soll, so charakterisirt sich als Vera
    « n las s un g oder nuslösendc Ursache diejenige, welche zuletzt
    in die Gleichung eintritt, so dass sie dem Erscheinen des
    Effectes unmittelbar Vorhergeht. Nur dieses zeitliche Moment
    macht das Wesen der Veranlassung aus, jede der anders-
    artigen Ursachen kann im Einzelfalle auch die Rolle der Ver—
    anlassung spielen; in derselben ältiologischen Häufung kann
    diese Rolle wechseln.

    Als B edin gun gen sind solche Momente zu bezeich-
    nen, bei deren Abwesenheit der Effect nie zu Stande käme,
    die aber für sich allein auch unfähig sind, den Etlect zu er»
    zeugen, sie mtlgen in noch so grossem Ausmass vorhanden
    sein. Es fehlt dazu noch die specifische Ursache.

    Als specifische Ursache gilt diejenige, die in
    keinem Falle von Verwirklichung des Effectes vermisst Wird,
    und die in entsprechender Quantität oder Intensität auch hina
    reichß den Effect zu erzielen, wenn nurnoch die Bedingungen
    erfüllt sind.

    Als ccncurrirende Ursachen darf man solche
    Momente autiassen, welche weder jedesmal vorhanden sein
    miissen, noch im Stande sind, in' beliebigem Ausmass ihrer
    Wirkung für sich allein den Effect zu erzeugen, welche aber
    neben den Be 'ngungen und der specifischcn Ursache zur
    Erfüllung der ätiologischen Gleichung mitwirken.

    Die Besonderheit der concurrirendcn oder Hilfsursachen
    scheint klar; wie unterscheidet man aber Bedingungen und
    specifische Ursache, da sie beide unentbehrlich und doch keines
    von ihnen allein zur Verursachung genügend sind?

    Da scheint denn folgendes Verhalten eine Entscheidung
    zu gestatten. Unter den «nothwcndigen l'rsachcm
    findet man mehrere, die auch in den iitiologisclit‘n Gleichungen
    vieler anderer Effecte wiederkehren, daher keine besondere lie-
    xieliung zum einzelnen Effectc verrathen; eine dieser Ursachen
    aber stellt sich den anderen gegeniiber, dadurch, dass sie in
    keiner anderen oder in ‚sehr wenigen ätiologischen Formeln
    uuizufuidcu ist, und diese hat den Anspruch, specifische
    Ursache des betrefl'enden ElTectes zu heissen. Ferner sondern
    sich Bedingungen und specifischc Ursache besonders deutlich
    in solchen Fällen, in denen die Bedingungen den Charakter
    von lange bestehenden und wenig veränderlichen Zuständen
    haben, die specifische Ursache einem recent eillulrkendoii
    Factor entspricht.

     

  • S.

    452

    Ich will ein Beispiel für dieses vollständige ätiologische
    Schema versuchen:

    E [ lest: Phthlsis pulmonum.

    B e din gu n g: Disposition, meist hereditär durch Organ-
    beschnil’enheiten gegeben.

    Speciiische Ursache: Der Bacillus Kochii.

    H i l i” s u r s a c h e n: Alles Depotenzirende: Gemüthsbewe—
    gungen wie Eiterungen oder Erkaltungcn,

    Das Schema für die Aetiologie der Angstneurose scheint
    mir ähnlich zu lauten.

    Bedingung: Heredität.

    Spa ci tisch e Ursache: Ein sexuelles Moment im
    Sinne einer Ablenkung der Sexualspannung vom Psychischen.

    Hi 1 is ursach en: Alle banalen Schädigungen: Gemüths-
    hewegnng, Schreck, wie physische Erschöpfung durch Krank—
    heit oder Ueberleistung‚

    Wenn ich diese ätiologischc Formel für die Angstneurusc im
    Einzelnen discutire, kann in. noch folgende Bemerkungen hinzu-
    fügen. Oli eine besondere persönliche Beschafi‘enheit (die nicht
    hereditär bezeugt sein brauchte) für die Angstneurose un-
    bedingt erfordert wird, oder ob jeder normale Mensch durch
    etwaige quantitative Steigerung des specifischen Momentes zur
    Angstneurose gebracht werden kann, weiss ich nicht sicher
    zu entscheiden, neige aber sehr zur letzteren Meinung.— Die
    hereditäre Disposition ist die wichtigste Bedingung der Angst—
    neurose, aber keine n ne n tb eh r l i c h 9, da sie in einer Reihe
    von Grenzfiillen vermisst wird. — Das spccliische sexuelle Mo-
    ment wird in der übergrossen Zahl der Fälle mit Sicherheit
    nachgewiesen, in einer Reihe von Fällen (congenitalen) senden
    es sich von der Bedingung der Heredit.ät nicht ab, sondern
    ist durch diese miteri'tillt, d. h. die Kranken bringen jene 13c-
    sonderheit der Vita sexualis als Stigma mit (die psychische
    Unzulänglichkeit zur Bewältigung der somatischcn Sexual-
    spsnnung), über welche sonst der Weg zur Erwerbung der
    Neurose führt; in einer anderen Reihe von Grenzfiillen ist die
    speciiische Ursache in einer conourrirenden enthalten, wenn näm—
    lich die besagte psychische Unzulänglichkeit durch Erschöpfung
    u. dgL zu Stande kommt. Alle diese Fälle bilden fliessendc
    Reihen, nicht abgesonderte Kategorien; durch alle zieht sich
    indes! das ähnliche Ver-halten im Schicksal der Sexualspannung,
    und ftir die meisten gilt die Sonderung von Bedingung, spee
    einscher und Hilßurs—nehe, conionn der einen gegebenen Ant-
    lösung der ätiologischen Gleichung,

    Ich kann, wenn ich meine Erfahrungen damach heirage,
    ein gegensätaliches Verhalten von herediiärer Disposition und
    specilischern sexuellern Moment für die Angstneurose nicht.
    auifinden. lm Gegentheile, die beiden ätiologisehen Factcren
    unterstützen und ergänzen einander. Das sexuelle Moment
    wirkt meistens nur bei jenen Personen, die eine hcrcditäre
    Belastung mit dazu bringen; die Hereditäl allein ist meistens
    nicht im Stande, eine Angelncurose zu erzeugen, sondern
    wartet auf das Eintrefl‘en eines genügenden Masses der spe-
    cifischen sexuellen Sehädlichkait. Die Constaürung der Here—
    dilät überbebt darum nicht der Suche nach einem specitischen
    Moment, an dessen Aulfindung sich übrigens auch alles thera»
    peutische Interesse knüpr Denn was will man therapeutisch
    mit der Heredität als Aetiologie anfangen? Sie hat seit jeher
    bei dem Kranken bestanden und wird bis an dessen Ende
    weiter bestehen. Sie ist an und fiir sich weder geeignet, das
    episudische Auftreten einer Neurone, nach deren Authtiren
    durch Behandlung verstehen zu lassen. Sie ist nichts als eine
    8 e din g u n g der Neurose, eine unsäglich wichtige zwar, aber
    doch eine zum Schaden der Therapie und des theoretischen
    Verständnisses überschätzte. Man denke nur, um sich durch
    den Contrast der Thatsachen überzeugen zu lassen, an die
    Fälle von familiären Nerrcnkl'ankheiten [Chorea chronica,
    Thomsen’sche Krankheit u. dgl.), in denen die Herediiät
    alle aLiolugischen Bedingungen in sich vereinigt.

    ich möchte zum Schlusse die wenigen Suize wiederholen,
    durch welche ich in erster Annäherung an die Wirklichkeit

    Wiener klinische Rundschau 1895.

    Nr. 29.

    die gegenseitigen Beziehungen der verschiedenen iltialogischen
    Factoren auszudrucken pflege:

    1. Ob ti b e rh an )) t eine neurotische Erkrankung zu
    Stande kommt, hängt von einem quantitativen Factor ab,
    von der Gesammtbelsstung des Nervensystems im Verhältnis
    zu dessen Resistenzt‘shigkeit. Alles was diesen Factor unter
    einem gewissen Schwellenwerth halten oder zuruekbringen
    kann, hat. therapeutische Wirksamkeit, indem es die Ettin-
    logischc Gleichung um:th lässt,

    Was man unter «Gesammtbelastungr, was man unter
    «Resistenzlähigkeit» des Nervensystems zu verstehen habe,
    das hasse sich mit Zugrundelegung gewisser Hypothesen über
    die Nerveul'unctinn wohl deutlicher ausführen.

    2. Welchen Umfang die Neurose erreicht, das hängt
    in erster Linie von dem Mass hureditiirer Belastung ab, Die
    Heredität wirkt wie ein in den Stromkreis eingeschaltetßr
    Multiplicator, der den Ausschlag der Nadel um das Vielfache
    vergrcssert.

    3. Welche Form aber die Neurose annimmt — den
    Sinn des Ausschlages —-, dies bestimmt allein das aus dem
    Sexuallehen stammende specifische ittiologische Moment.

    Ich halle, dass im Ganzen, obwohl ich mir der vielen
    noch unerledigten Schwierigkeiten des Gegenstandes bewusst
    bin, meine Aufstellung der Angstneurose sich für das Ver-
    ständniss der Neurosen Fruchtbarer erweisen wird, als Löwen—
    leid‘s Versuch, denselben Tlmlsachen Rechnung zu tragen
    durch die Constatirung «einer Verknüpfung neur—
    asthenischer und hysterisnher Symptome in
    Aniallslnrnh.

    Wien, anfangs Mai 1395.

    im flßt’ binnlrclun “(allle das ml. Dr. Wil ln Put,
    Luxatlo billbl.

    Von
    Dr. E. Gha.lupookü‚ klinischem Assistenten,
    (Schluss!)

    Ob die momentane und temporäre Erblindung nach der
    Verletzung ohne objectiven Befund nut eine mechanische
    Dehnung der Nervenl'asern oder durch eine durch die Dehnung
    hervorgerufene Circulatinnsslör'ung in den Nervenfasern zurück-
    getllhrt werden muss, ist bisher nicht entschieden. Die Ein—
    richtung des luxirlen Bulbus geschieht gewöhnlich durch lung-
    sam anwachsenden Dmck auf den Auguptel mit Hilfe der
    Finger, wobei auch das Einschi—‘bcn einer mit Fett bestri-
    chenen Spare! unter das Oberlied ungerathen wird. Das von
    manchen Autoren beschriebene, bei der Rückkehr des Bulbus
    in seine normale Lage horbare scilnalzende Geräusch war in
    unserem Falle n'chl zu conslaliren. lndicirt ist die Reposition
    auch bei thein ser Avulsion «les Auges, wenn nur der Aug-
    apl'cl wenigstens mit einigen Muskeln mit. der Orhila zusammen-
    hängt. Die iibrigen Muskeln sind dann nach Möglichkeit zu
    ver-nahen. Die Sutur des zenissenen Sehnerven ist tur die
    Restitution des Augenlichtes von keinem Heizung, wenngleich
    bei blos cingcrisscnem Nerven das Augenlicht sich später
    bis zu einem gewissen Grade wieder einstellen kann. im Falle
    hochgradiger Avulsion, wo an das Einheilen des rcponir‘ten
    Bulbus nicht zu denken ist, oder wenn die Reposition aus
    irgend welchen Gründen unmöglich ist, ist. die Enneleation
    des luxirten Bulhus gestattet Diesbeztigliche Fälle sind von
    Pagenstecher und Hutchinson mitgetheilt werden
    Der erste Fall betritt eine durch ein Kullliom verursachte
    llulbllsluxatinn, iin zweiten Falle kam die Luxation durch
    Stoss mit einem Stock gegen dns Auge zu Stunde und es
    wurde in beiden Fluten bei der Enucleation eine Zermissung
    des Sehnerven constatirt.

    Was die Prognose anbelangt, so ist sie bei rechtzeitig
    ausgei'uhrmr llcposilion ziemlich gut. Das Sehvcrmogcn bleibt

    ') Siehe Wiener klinische Rundschau 1895, Nr. 274