Wir und der Tod.

Vortrag, gehalten in der Sitzung der „Wien“ am 16. Febmar 1915 von Br. Prof. Dr. Sigmund Freud.

Würdige Präsidenten und liebe Brüder! Ich bitte Sie, nicht zu glauben, daß ich meinem Vortrag in einer mutwilligen Anwandlung einen so gruseligen Titel gegeben. Ich weiß, daß es viele Menschen gibt, die vom Tode nichts hören wollen, also vielleicht auch unter Ihnen, und wollte es vermeiden, daß diese Brüder in eine für sie peinliehe Stunde gelockt Würden. Auch hätte ich das andere Stück meines Titels abändern können. Anstatt: „Wir und der Tod“ könnte es heißen: „Wir Juden und der Tod“, denn das Verhältnis zum Tode, das ich vor Ihnen behandeln will, zeigen gerade wir Juden am häufigsten und extremsten.

Sie können sich aber leicht denken, wie ich gerade zur Wahl dieses Themas geleitet worden bin. Es ist eine Folge des schrecklichen Krieges, der in dieser Zeit wütet und uns allen die Orientierung im Leben raubt. Ich glaube gemerkt zu haben, daß obenan unter den hier wirksamen verwirrenden Momenten die Veränderung in unserer Einstellung zum Tode steht.

Welches ist nun unsere Einstellung zum Tode? Ich meine, sie ist sehr merkwürdig. Wir benehmen uns im ganzen so, als wollten wir den Tod aus dem Leben eliminieren; wir wollen ihn sozusagen totschweigen; wir denken an ihn wie – an den Tod! Diese Tendenz kann sich natürlich nicht ungestört durchsetzen. Der Tod macht sich uns doch gelegentlich bemerkbar. Dann sind wir tief erschüttert und wie durch etwas Ungewöhnliches aus unserer Sicherheit gerissen. Wir sagen: „Schrecklich!“, wenn ein verwegener Flieger oder Bergsteiger verunglückt, wenn ein Gerüsteinsturz drei oder vier Arbeiter begräbt, wenn bei einem Fabriksbrand zwanzig Lehrmädchen umkommen oder wenn gar ein Schiff mit einigen Hunderten von Passagieren zugrunde geht. Am meisten ergriffen sind wir, wenn der Tod einen unserer Bekannten betroffen hat; wenn es ein B. B.‑Bruder ist, halten wir dann sogar eine Trauersitzung ab. Aber niemand könnte aus unserem Benehmen schließen, daß wir den Tod als eine Notwendigkeit erkennen, daß wir die sichere Überzeugung haben, ein jeder von uns sei der Natur seinen Tod schuldig. Im Gegenteil, wir wissen jedesmal eine Erklärung, welche diese Notwendigkeit zur Zutälligkeit herabdrückt. Der eine, der da gestorben ist, hatte sich eine infektiöse Lungenentzündung geholt; die war ja doch nicht notwendig; der andere war schon lange sehr krank, er wußte es nur nicht; ein dritter war ja sehr alt und gebrechlich1). Handelt es sich gar um einen von uns, einen Juden, dann müßte man auf die Idee kommen, daß ein Jude überhaupt nie auf natürliche Weise stirbt. Zum mindesten hat ihn ein Doktor verdorben; sonst lebte er wohl heute noch. Es wird zwar zugegeben, daß man endlich sterben muß, aber wir verstehen es, dieses Endlich in unabsehbare Ferne hinauszurücken. Wenn man den Juden fragt, wie alt er ist, so antwortet er gerne: Sechzig (etwa) bis einhundertundzuanzig!

In der psycho‑analytischen Schule, die ich, wie Sie wissen, vertrete, ist die Behauptung gewagt worden, daß wir – ein jeder von uns – an den eigenen Tod im Grunde nicht glauben. Er ist uns ja auch unvorstellbar. Bei allen Versuchen, uns auszumalen, wie es nach unserem Tode zugehen, wer uns betrauern wird u. dgl., können wir merken daß wir eigentlich doch noch als Beobachter dabei sind. Es ist auch wirklich schwierig, dem einzelnen diese Überzeugung beizubringen. Sowie er in die Lage kommt, die entscheidende Erfahrung zu machen, wird er für jeden Beweis unzugänglich.

Mit dem Tode eines andern rechnet, an ihn denkt nur ein harter oder böser Mensch. \Veichere und bessere Menschen, wie wir alle, sträuben sich gegen solche Gedanken, besonders dann, wenn uns aus dem Tode des andern ein Vorteil an Freiheit, Stellung, Vermögen erwachsen könnte. Hat sich der Zufall aber doch ereignet, daß der andere gestorben ist, so bewundern wir ihn fast wie einen Helden, der etwas Außerordentliches zustande gebracht. Ware11 wir ihm feindlich, so versöhnen wir uns mit ihm; wir stellen unsere Kritik gegen ihn ab: De mortuis nil nisi bene, lassen es gerne zu, daß unglaubwiirdige Lobpreisungen auf seinen Grabstein geschrieben werden. Völlig wehrlos sind wir aber, wenn der Tod eine der uns teuren Personen, einen Eltern‑ oder Gattenteil, ein Geschwister, ein Kind oder einen Freund geholt hat. Wir begraben mit ihm unsere Hoffnungen, Ansprüche, Genüsse, lassen uns nicht trösten und weigern uns, den Verlorenen zu ersetzen. Wir benehmen uns dann wie eine Art von Asra, welche mitsterben, wenn die sterben, die sie lieben.

Dies unser Verhältnis zum Tode hat aber eine starke Wirkung auf unser Leben. Das Leben verarmt, es verliert an Interesse. Unsere Gefühlsbindungen, die unerträgliehe Intensität unseres Schmerzes machen uns feige, geneigt, Gefahren zu vermeiden für uns und die unserigen. Wir getrauen uns nicht, eine Anzahl von Unternehmungen in Betracht zu ziehen, die eigentlich unerläßlich sind, wie Flugversuche, Entdeckungsreisen in ferne Länder, Experimente mit explodierbaren Substanzen. Uns lähmt dabei das Bedenken, wer der Mutter den Sohn, der Gattin den Mann, den Kindern den Vater ersetzen soll, wenn ein Unglück geschieht, und doch sind alle diese Unternehmungen notwendig. Sie kennen den Wahlspruch der Hansa: Navigare necesse est, vivere non necesse (Seefahren muß man, leben muß man nicht). Nehmen Sie dagegen, was eine unserer so charakteristischen jüdischen Anekdoten erzählt, wie der Sohn von einer Leiter herabfällt, bewußtlos liegen bleibt, und die Mutter zum Rabbiner läuft um Rat und Hilfe. Sagen Sie mir, fragt der Rabbi, wie kommt ein jüdisch Kind auf eine Leiter?

Ich sage, das Leben verliert an Gehalt und Interesse, wenn der höchste Einsatz, eben das Leben selbst, in seinen Kämpfen ausgeschlossen ist. Es wird so leer und schal wie ein amerikanischer Flirt, bei dem es von vorneherein feststeht, daß nichts verfallen darf, zum Unterschied von einer kontinentalen Liebesbeziehung, bei welcher beide Partner der stets lauernden Gefahr eingedenk bleiben müssen. Wir sind genötigt, uns für diese Verarmung des Lebens zu entschädigen, und wenden uns hiefür an die Welt der Fiktion, die Literatur, das Theater. Auf der Bühne finden wir Menschen, die noch zu sterben verstehen, ja auch noch andere töten können. Hier befriedigen wir unseren Wunsch, daß das Leben selbst als ernsthafter Einsatz dem Leben erhalten bleibe, und außerdem noch einen anderen. Wir hätten nämlich gar nichts gegen den Tod, wenn er nicht dem Leben ein Ende machen würde, das wir nur in der Einzahl besitzen. Es ist doch gar zu arg. daß es im Leben so zugeben kann wie im Schachspiel, wo ein einziger falscher Zug uns nötigen kann, die Partie aufzugeben, mit dem Unterschied aber, daß wir keine zweite, keine Revanchepartie beginnen können. Auf dem Gebiet der Fiktion finden wir jene Mehrzahl von Leben, deren wir bedürfen. Wir sterben mit dem einen Helden, überleben ihn aber doch und sterben eventuell ebenso ungeschädigt mit einem zweiten Helden ein anderes Mal.

Was hat nun der Krieg an diesem unseren Verhältnis zum Tod geändert? Sehr viel. Unsere Todeskonventionen, wie ich sagen möchte, sind nun nicht mehr festzuhalten. Der Tod läßt sich nicht mehr übersehen, man muß an ihn glauben. Man stirbt jetzt wirklich, auch nicht mehr einzelne, sondern viele, oft Zehntausende an einem Tag. Er ist auch kein Zufall mehr. Es scheint freilich noch zufällig, ob diese Kugel den einen trifft oder einen andern, aber die Häufung macht bald dem Eindruck des Zufälligen ein Ende. Das Leben wird so freilich wieder interessant, es hat seinen vollen Inhalt wiederbekommen.

Man müßte hier eine Scheidung in zwei Gruppen vornehmen, diejenigen, die selbst im Kriege stehen und ihr eigenes Leben wagen, von den anderen trennen, die zuhause geblieben sind und nur zu erwarten haben, die ihrigen an den Tod durch Verletzung, Infektion und Krankheit zu verlieren. Es wäre gewiß äußerst interessant, wenn man studieren könnte, welche seelischen Veränderungen das Preisgeben des eigenen Lebens bei den Kämpfenden mit sich bringt. Aber ich weiß nichts darüber; ich gehöre wie Sie alle zur zweiten Gruppe, zu denen, die zuhause geblieben sind und um ihre Teueren zittern dürfen. An mir wie an anderen in der gleichen Lage habe ich den Eindruck gewonnen, daß die Betäubung, die uns befallen hat, die Lähmung unserer Leistungsfähigkeit wesentlich durch einen Umstand bestimmt wird, daß wir unser bisheriges Verhältnis zum Tode nicht mehr aufrechthalten können und eine neue Einstellung zu ihm noch nicht gefunden haben. Vielleicht trägt es nun zu unserer Neuorientierung bei, wenn wir miteinander zwei andere Beziehungen zum Tode untersuchen, jene, die wir dem Urmenschen, dem Menschen der Vorzeit zuschreiben dürfen, und jene andere, die in jedem von uns noch erhalten ist, aber unsichtbar unserem Bewußtsein sich in tieferen Schichten unseres Seelenlebens verbirgt.

Ich habe Ihnen bisher nichts gesagt, liebe Brüder, was Sie nicht ebenso gut wissen und fühlen können wie ich. Ich werde jetzt in die Lage kommen, Ihnen manches zu sagen, was Sie vielleicht nicht wissen, und manches andere, was Sie mir gewiß nicht glauben werden, Ich muß es mir gefallen lassen.

Also wie verhielt sich der Mensch der Urzeit zum Tode? Er hat sich gegen den Tod in sehr merkwürdiger Weise eingestellt; gar nicht einheitlich, vielmehr recht widerspruchsvoll. Aber wir werden den Grund dieses Widerspruches bald verstehen. Er hat einerseits den Tod ernst genommen, ihn als Vernichtung des Lebens gelten lassen und sich seiner in diesem Sinne bedient, anderseits ihn geleugnet, zu nichts herabgesetzt. Wie ist das möglich? Es kommt daher, daß er zum Tod des anderen, des Fremden, des Feindes eine radikal andere Stellung einnahm als zu seinem eigenen. Der Tod des anderen war ihm recht. er erfaßte ihn als Vernichtung und brannte darauf, ihn herbeizuführen. Der Urmenseh war ein leidenschaftliches Wesen, grausamer und bösartiger als die anderen Tiere. Er wurde von keinem Instinkt davor zu1ückgchaltcn, Wesen seiner eigenen Art zu töten und zu verzehren, wie man es von den meisten reißenden Tieren behauptet. Er mordete gerne und wie selbstverständlich.

Die Urgeschichte der Menschheit ist denn auch vom Morde erfüllt. Noch heute ist ja das, was unsere Kinder als Weltgeschichte in der Schule lernen, im wesentlichen eine Reihenfolge von Völkermorden. Das dumpfe Schuldgefühl unter dem die Menschheit seit Anbeginn steht, das sich in manchen Religionen zur Annahme einer Urschuld, einer Erbsünde, verdichtet hat, ist sehr wahrscheinlich der Ausdruck einer Blutschuld, welche die Menschen der Urzeit auf sich geladen haben. Wir können noch aus der christlichen Lehre erraten, worin diese Blutschuld bestand. Wenn Gottes Sohn sein Leben opfern mußte, um die Menschheit von der Erbsünde zu erlösen, so war nach der Regel der Talion, der Vergeltung durch Gleiches, diese Sünde eine Tötung, ein Mord. Nur dies konnte zu seiner Sühne das Opfer eines Lebens erfordern. Und wenn die Erbsünde ein Verschulden gegen Gott‑Vater war, so muß das älteste Verbrechen der Menschheit ein Vatermord gewesen seind die Tötung des Urvaters der primitivcn Menschenhorde, dessen Erinnerungsbild später zur Gottheit verklärt wurde. In meinem Buche „Totem und Tabu“ (1913”) habe ich mich bemüht, die Beweise für diese Auffassung der Urschuld zu sammeln.

Lassen Sie mich übrigens bemerken daß die Lehre von der Erbsünde keine christliche Neuerung, sondern ein Stück des Urzeitglaubens ist, das sich die längste Zeit in unterirdischen religiösen Strömungen fortgesetzt hatte. Das Judentum hat diese dunkeln Erinnerungen der Menschheit sorgfältig zur Seite geschoben und sich vielleicht gerade darum zur Weltreligion disqualifiziert.

Lassen Sie uns zum Urmenschen und zu seinem Verhältnis zum Tode zurückkehren. W haben gehört, wie er sich zum Tode des Fremden stellte. Sein eigener Tod war ihm gewiß ebenso unvorstellbar und unwirklich wie heute noch jedem von uns. Es ergab sich aber für ihn ein Fall, in dem die beiden gegensätzlichen Einstellungen zum Tode zusammenstießen und in Konflikt miteinander gerieten. und dieser Fall wurde sehr bedeutsam und reich an fernwirkenden Folgen. Er ereignete sich, wenn der Urmensch einen seiner Angehörigen sterben sah, sein Weib, sein Kind, seinen Freund, die er gewiß ähnlich liebte wie wir die unseren, denn die Liebe ist sicherlich nicht jünger als die Mordlust. Da machte er an sich die Erfahrung, daß man sterben könne, denn jeder dieser Lieben war doch ein Stück seines eigenen Ichs aber anderseits war in jeder dieser geliebten Personen doch auch ein Stück Fremdheit. Nach psychologischen Gesetzen, die heute noch gelten und in Urzeiten weit uneingeschränkter geherrscht haben, waren diese Geliebten doch auch gleichzeitig Fremde und Feinde, die einen Anteil von feindseligen Gefühlen bei ihm hervorgerufen hatten

Die Philosophen haben behauptet, das intellektuelle Rätsel, welches das Bild des Todes dem Urmensehen aufgab, habe sein Nachdenken erzwungen und sei der Ausgang jeder Spekulation geworden. Ich möchte diesen Satz korrigieren und einschränken. Nicht das intellektuelle Rätsel und nicht jeder Todesfall, sondern der Gefühlskonflikt beim Tode geliebter und dabei doch auch fremder und gehaßter Personen hat die Forschung des Menschen entbunden. Aus diesem Gefühlskonflilct wurde zunächst die Psychologie geboren. Der Urmensch konnte den Tod nicht mehr leugnen, er hatte ihn doch in seinem Schmerz partiell an sich erfahren, aber er mochte ihn doch nicht zugestehen, weil er sich selbst nicht tot denken konnte. So ließ er sich auf Kompromisse ein, er gab den Tod zu, aber bestritt, daß er die Lebensvernichtung sei, die er doch seinen Feinden zugedacht hatte. An der Leiche der geliebten Person erfand er die Geister, ersann er die Zerlegung des Individuums in einen Leib und in eine – ursprünglich in mehrere Seelen. In der Erinnerung an den Verstorbenen schuf er sich die Vorstellung anderer Existenzformen, für die der Tod erst der Anfang ist, die Idee eines Fortlebens nach dem anscheinenden Tode. Diese späteren Existenzen waren anfänglich nur Anhängsel an die durch den Tod abgeschlossene, schattenhaft, inhaltsleer und geringgeschätzt, sie trugen noch den Charakter kümmerlicher Auskünfte an sich. Lassen Sie mich Ihnen die Worte vorsagen, in denen unser großer Dichter Heinrich Heine – übrigens in voller Übereinstimmung mit dem alten Homer – den toten Achilleus seine Geringschätzung der Totenexistenz ausdrücken läßt:

„Der kleinste lebendige Philister Zu Stuckert am Neckar Viel glücklicher ist er Als ich, der Pelide, der tote Held, Der Schattenfürst in der Unterwelt.“

Später erst brachten es die Religionen zustande, diese Nachexistenz zur wertvolleren, vollgültigen zu machen und das durch den Tod abgeschlossene Leben zu einer bloßen Vorbereitung herabzudrücken. Es war dann bloß konsequent, wenn man das Leben auch in die Vergangenheit hinein verlängerte, die früheren Existenzen, die Wiedergeburt und Seelenwanderung ersann, alles in der Absicht, dem Tod seine Bedeutung als Aufhebung des Lebens zu rauben. Es ist sehr merkwürdig, daß unsere heiligen Schriften diesem Bedürfnis des Menschen nach einer Garantie seiner Fortexistenz keine Rechnung getragen haben. Es heißt im Gegenteile einmal: „Nur die Lebenden loben Gott.“ Ich nehme an, und Sie wissen sicherlich mehr darüber, daß die jüdische Volksreligion und die an die heiligen Schriften anschließende Literatur sich anders zur Unsterblichkeitslehre gestellt haben. Aber ich möchte auch diesen Punkt unter die Momente aufnehmen, welche es der jüdischen Religion unmöglich machten, die anderen antiken Religionen nach deren Verfall zu ersetzen.

An der Leiche der geliebten Person entstanden nicht nur die Seelenlehre und der Unsterblichkeitsglaube, sondern auch das Schuldbewußtsein, die Todesfurcht und die ersten ethischen Gebote. Das Schuldbewußtsein ging aus dem zwiespältigen Gefühl gegen den Verstorbenen hervor, die Todesfurcht aus der Identifizierung mit ihm. Diese letztere war, logisch betrachtet, eine Inkonsequenz, da der Unglaube an den eigenen Tod doch nicht beseitigt wurde. In der Auflösung des Widerspruches sind auch wir modernen Menschen nicht weiter gekommen. Das älteste, noch heute bedeutsamste Gebot der Ethik, das sich damals erhob, lautete: „Du sollst nicht töten.“ Es war am geliebten Toten gewonnen worden, wurde allmählich auch auf den Ungeliebten, Fremden und endlich auch auf den Feind ausgedehnt.

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle von einer sonderbaren Tatsache erzählen. Der Urmensch ist ja in gewissem Sinne noch erhalten, er wird uns durch den prilnitiven Wilden repräsentiert, der ihm wenigstens am nächsten steht. Sie werden nun geneigt sein anzunehmen, daß dieser Primitive, der wilde Australier, Feuerländer, Buschmann usw., ein reueloser Mörder ist. Aber Sie irren, der Wilde ist in dieser Hinsicht sensitiver als der Zivilisierte, wenigstens solange er noch nicht dem Einfluß der Zivilisation unterlegen ist. Nach glücklicher Beendigung des jetzt tobenden Weltkrieges werden die siegreichen deutschen Soldaten jeder in sein Heim, zu seinem Weib und seinen Kindern eilen, unverweilt und ungestört durch Gedanken an die Feinde, die sie getötet haben im Nahkampf oder durch fernwirkende Waffen. Aber der wilde Sieger, de1 vom Kriegspfad heimkehrt, darf sein Dorf nicht betreten und sein Weib nicht sehen, ehe er seine kriegerischen Mordtaten durch oft langwierige und mühselige Bußen gesühnt hat. Sie werden sagen: „Ja, der Wilde ist noch abergläubisch. er fürchtet die Geisterrache der Erschlagenen.“ Aber die Geister der erschlagenen Feinde sind nichts anderes als der Ausdruck seines bösen Gewissens ob seiner Blutschuld.

Lassen Sie mich noch einen Moment bei diesem ältesten Gebot der Ethik: „Du sollst nicht töten“ verweilen. Seine Frühzeitigkeit wie seine Eindringlichkeit gestatten uns, einen wichtigen Schluß zu ziehen. Man hat die Behauptung aufgestellt daß ein instinktiver Abscheu vor dem Blutvergießen uns tief eingepflanzt sei. Fromme Seelen glauben es gerne. Nun, wir können leicht die Probe auf diese Behauptung machen. Wir haben ja gute Fälle von solchem instinktiven, vererbten Ahscheu zu unserer Verfügung.

Lassen Sie sich von mir in einen unserer schönen Kurorte im Süden führen. Dort gibt es Weinberge mit herrlichen Trauben. In diesen Weinbergen kommen auch Schlangen vor, dicke schwarze Schlangen, übrigens völlig halmlose Tiere, Äskulapschlangen genannt. Es gibt in diesen Weinbergen auch Verbottafeln. Wir lesen eine solche und finden auf ihr geschrieben: „Es ist den Kurgästen strengstens verboten, Kopf oder Schwanzende einet Äskulapschlange in den Mund zu stecken.“ Nicht wahr, Sie werden sagen: „Ein höchst unsinniges und überflüssiges Verbot. Das fällt ja ohnedies niemandem ein.“ Sie haben Recht. Wir lesen auch andere Verbottafeln, auf denen davor gewarnt wird, Trauben abzupflücken. Dieses Verbot werden wir besser gerechtfertigt finden. – Nein, lassen wir uns nicht irre machen. Es gibt bei uns keinen instinktiven Abscheu vor dem Blutvergießen. Wir sind die Nachkommen einer unendlich langen Generationsreih von Mördern. Die Mordlust steckt uns im Blute und vielleicht werden wir sie bald noch an andern Stell aufgespürt haben.

Wir verlassen nun den Urmenschen und wenden uns dem eigenen Seelenleben zu. Sie wissen vielleicht, wir sind im Besitze eines Untersuchungsverfahrens, mit dem wir eruieren können, was in den tiefen Schichten der Seele, versteckt vor dem Bewußtsein, vor sich geht, also einer Art von Unterseepsychologie. Wir tragen also: Wie verhält sich unser Unbewußtes zum Problem des Todes? Und nun wird das kommen, was Sie mir nicht glauben werden, obwohl es nicht mehr neu für Sie ist, weil ich es Ihnen eben vorhin geschildert habe. Unser Unbewußtes nimmt zum Tode genau die nämliche Stellung ein wie der Mensch der Vorzeit. In dieser wie in vielen anderen Hinsichten lebt der Urmensch ungeändert in uns fort. Also das Unbewußte in uns glaubt nicht an den eigenen Tod. Es ist gezwungen, sich wie unsterblich zu gebärden. Vielleicht ist dies sogar das Geheimnis des Heldentums. Die rationelle Begründung des Heldentums ruht freilich auf dem Urteil, daß das eigene Leben nicht so wertvoll sein kann wie gewisse andere allgemeine und abstrakte Güter. Aber ich meine, häufiger wird das impulsive oder instinktive Heldentum sein, welches sich so benimmt, als läge eine Garantie in dem bekannten Ausruf des Steinklopferhans: „Es kann dir nix g’scheh’n“, welches also darin besteht, sich einfach dem Unsterblichkeitsglauben des Unbewußten zu überlassen. Die Todesangst, an der wir viel häufiger leiden, als wir wissen, ist ein unlogischer Gegensatz zu dieser Sicherheit. Sie ist übrigens lange nicht so ursprünglich und meist aus Schuldbewußtsein hervorgegangen.

Andererseits anerkennen wir den Tod für Fremde und Feinde und verwenden ihn gegen sie wie der Urmensch. Der Unterschied ist nur, wir führen den Tod nicht wirklich herbei, wir denken und wünschen ihn bloß. Aber wenn Sie diese sogenannte psychische Realität gelten lassen, so können Sie sagen: In unserem Unbewußten sind wir alle noch heute eine Rotte von Mördern. Wir beseitigen in unseren stillen Gedanken alle, die uns im Wege stehen, die uns beleidigt oder geschädigt haben, täglich und stündlich. Das: „Hol’ ihn der Teufel“, das sich als schwächliche Interjektion so häufig über unsere Lippen drängt und das ja eigentlich bedeutet „Hol’ ihn der Tod“, ist für unser Unbewußtes kraftvoller Ernst. Ja unser Unbewußtes mordet selbst für Kleinigkeiten; wie die alte athenische Gesetzgebung des Drakon kennt es für Verbrechen keine andere Strafe als den Tod, und dies mit einer gewissen Konsequenz, denn jede Schädigung unseres allmächtigen und selbstherrlichen Ichs ist ja im Grunde ein crimen laesae majestatis. Ein wahres Glück, daß alle diese bösen Wünsche keine Macht besitzen. Das Menschengeschlecht wäre sonst längst ausgestorben, nicht die besten und weisesten unter den Männern, nicht die schönsten und holdesten Frauen würden mehr existieren. Nein, lassen wir uns auch hierin nicht irre machen, wir sind immer noch die Mörder, die unsere Vorfahren in Urzeiten waren.

Ich kann Ihnen das alles ruhig sagen, weil ich weiß, daß Sie es ja doch nicht glauben. Sie glauben mehr Ihrem Bewußtsein, das solche Möglichkeiten als Verleumdungen zurückweist. Aber ich kann nicht darauf verzichten, Ihnen vorzuhalten, daß es Dichter und Denker gegeben hat, die nichts von unserer Psychoanalyse wußten und doch Ähnliches behauptet haben. Nur ein Beispiel! J. J. Rousseau unterbricht sich an einer Stelle seiner Werke – ich konnte nichtmehr ausfindig machen wo – in einer Erörterung, um eine merkwürdige Frage an seine Leser zu richten. „Nehmen Sie an.“ sagt er, „in Peking befinde sich ein Mandarin,“ – Peking war damals noch viel weiter von Paris als heute – „dessen Ableben Ihnen große Vorteile bringen könnte, und Sie könnten ihn töten, ohne Paris zu verlassen, natürlich ohne Möglichkeit eines Nachweises Ihrer Tat, durch einen bloßen Willensakt. Sind Sie sicher, daß Sie es nicht tun würden?“ Nun, ich zweifle nicht, daß unter den lieben Brüdern viele das Recht hätten zu versichern, sie würden es nicht tun. Aber im ganzen möchte ich doch der Mandarin nicht sein, ich glaube, den nimmt keine Lebensversicherungsgesellschaft.

Ich kann Ihnen dieselbe unliebsame Wahrheit auch in einer Form vertragen, in der Sie Ihnen sogar Vergnügen bereiten kann. Ich weiß, Sie hören alle gerne Witze erzählen, und hoffe, Sie haben sich nicht allzuviel mit dem Problem beschäftigt, woher das Wohlgefallen an solchen Witzen rührt. Es gibt eine Gattung von Witzen, die man zynische heißt; sie sind nicht die schlechtesten oder kraftlosesten. Ich kann Ihnen verraten, daß es zum Geheimnis dieser Witze gehört, eine versteckte oder verleugnete Wahrheit, die an und für sich beleidigend wirkte, so einzukleiden, daß man sich an ihr sogar erfreuen kann. Durch gewisse formale Veranstaltungen werden Sie zum Lachen gezwungen, wird Ihr Urteil entwaffnet, und dadurch wird die Wahrheit, die Sie sonst verfolgt hätten, vor llmcn eingeschmuggelt. Sie kennen z. B. die Geschichte von dem Manne, dem in Gesellschaft ein Partezettel überbracht wird, den er ungelesen in die Tasche steckt. Wollen Sie nicht lieber nachschen, wer da gestorben ist? fragt man ihn. Ach was, ist seine Antwort, mir ist ein jeder recht. Oder die von dem Ehemann, der mit Bezug auf seine Frau sagt: Wenn einer von uns stirbt, übersiedle ich nach Paris. Das sind zynische Witze, und sie wären nicht möglich, wenn sie nicht eine verleugnete Wahrheit mitzuteilen hätten. Im Scherz darf man bekanntlich sogar die Wahrheit sagen.

Meine lieben Brüder! Noch eine volle Übereinstimmung zwischen dem Urmenschen und unserem Unbewußten. Gerade wie dort gibt es auch für unser Unbewußtes den Fall, daß die beiden Strömungen, die eine. die den Tod als Vernichtung anerkennt, und die andere, die ihn als unwirklich verleugnet. zusammenstoßen und in Konflikt geraten. Und dieser Fall ist der nämliche wie in der Urzeit, der Tod oder die Todesgefahr eines unserer Lieben, eines Eltern‑ oder Gattenteiles, eines Geschwisters, Kindes oder teuren Freundes. Diese Lieben sind uns einerseits ein innerer Besitz, Bestandstücke unseres eigenen lchs, anderseits aber auch teilweise Fremde, ja Feinde. Den zärtlichsten und innigsten unserer Beziehungen hängt mit Ausnahme ganz weniger Situationen ein Stückchen Feindseligkeit an, welches den unbewußten Todeswunsch anregt. Aus dem Konflikt der beiden Strömungen geht aber nicht mehr die Seelenlehre und die Ethik hervor, sondern die Neurose, die uns tiefe Einblicke auch in das normale Seelenleben gestattet. Die Häufigkeit von überzärtlicher Sorge unter Angehörigen und von völlig grundlosen Selbstvorwürfen nach Todesfällen in der Familie hat uns über die Verbreitung und Bedeutung dieser tief versteckten Todeswünsche die Augen geöffnet.

Ich will Ihnen diese Seite des Bildes nicht weiter ausmalen. Sie würden sich wahrscheinlich grauscn und zwar mit Unrecht. Die Natur hat es hier wieder einmal geschickter gemacht, als wir es zustande brächten. Wir wären gewiß nicht darauf gekommen, daß es einen Vorteil hat, Liebe und Haß in solcher Weise miteinander zu verkoppeln. Aber indem die Natur mit diesem Gegensatzpaar arbeitet, nötigt sie uns, die Liebe immer wach zu erhalten und zu erneuern, um sie so vor dem hinter ihr lauernden Haß zu sichern. Man darf sagen, die schönsten Entfaltungen des Liebeslebens verdanken wir der Reaktion gegen den Stachel der Mordlust‚ den wir in unserer Brust verspüren.

Resümieren wir nun: Unser Unbewußtes ist gegen die Vorstellung des eigenen Todes ebenso unzugänglich, gegen den Fremden ebenso mordlustig, gegen die geliebte Person ebenso zwiespältig (ambivalent) wie der Mensch der Urzeit. Wie weit haben wir uns aber mit unserer kulturellen Einstellung gegen den Tod von diesem Urzustand entfernt!

Und nun lassen Sie uns nochmals zusehen, was der Krieg mit uns macht. Er streift uns die späteren Kulturauflagerungen ab und läßt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen. Er zwingt uns wieder, Helden zu sein, die an den eigenen Tod nicht glauben wollen, er bezeichnet uns die Fremden als Feinde, deren Tod man herbeiführen oder herbeiwünschen soll, er rät uns, uns über den Tod geliebter Personen hinwegzusetzen. So macht er alle unsere kulturellen Todeskonventionen unhaltbar. Der Krieg ist aber nicht wegzuschaffen. So lange die Verschiedenheiten in den Existenzbedingungen der Völker und die Abstoßungen unter ihnen so große sind, so lange wird es Kriege geben müssen. Da erhebt sich dann die Frage: Sollen wir nicht diejenigen sein, die nachgeben und uns ihm anpassen?

Sollen wir nicht zugestehen, daß wir mit unserer kulturellen Einstellung zum Tode psychologisch über unseren Stand gelebt haben, und vielmehr umkehren und die Wahrheit fatieren? Wäre es nicht besser, dem Tod seinen Platz in der Wirklichkeit und in unseren Gedanken einzuräumen, der ihm gebührt, und ein wenig mehr unsere unbewußte Einstellung zum Tode hervorzukehren, die wir bisher so sorgfältig unterdrückt haben? Ich kann Sie dazu nicht auffordern wie zu einer Höherleistung, denn es ist ja eher ein Rückschritt, eine Regression. Aber es wird sicher dazu beitragen, uns das Leben wieder erträglicher zu machen. und das Leben zu ertragen, ist ja die erste Pflicht alles Lebenden. Wir haben in der Schule einen politischen Spruch der alten l.ateiner gehört, der lautete: „Si vis pacem, para bellum.“ Wenn du den Frieden erhalten willst, so rüste zum Krieg. Wir könnten ihn für unsere gegenwärtigen Bedürfnisse abändern:

Si vis vitam, para mortem.“

Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein.


1)Dagegen die Mahnung: „On meurt á tout âge.“