Allgemeines über den hysterischen Anfall 1909-001/1921
  • S.

    147

    stellung bringt, also durch Verdichtungl Die Gemeinsamen
    der beiden (oder mehreren) Phantasien bilden wie im Traume
    den Kern der Darstellung. Die so zur Deckung gebrachten
    Phantasien sind oft Von ganz verschiedener Art, z. B. ein rezenter
    Wunsch und die, Wiederbelebung eines inIa-ntilen Eindruckes;\
    dieselben Innervationen dienen dann beiden‘ Absichten, oft in
    der geschicktesten Weise. Hysteriker, die sich der Verdichtung
    im großen Ausmaße bedienen, finden etwa mit einer einzigen
    ' Anfallsform ihr Auslangen; andere' drücken eine Mehrheit von ‘
    pathogerien Phantasien auch durch Vervielfältigung der Anfalls-
    formen aus.

    2. Der Anfall wird dadurch undurchsichtig, daß die Kranke
    die Tätigkeiten beider in derPhantasie auftretenden Personén
    auszuführen unternimmt, also durch mehrfache Identifi-
    zierung. Vgl. etwa das Beispiel, welches ich in dem. Aufsatze
    „Hysterische Phantasien und“ihre Beziehung zur Bisexualität“ ’
    ‚in I-Iiréchfelds \Zeitscihrift für Sexualwissenschaft, Bd. I, Nr. 1,
    erwähnt habe, in dem die Kranke mit der einen Hand (als
    Mann) das Kleid herunterreiß-t, während sie es mit der anderen
    (als Weib) an den Leib preßt.

    3. Ganz außerordentlich entstellend wirkt die aritago-
    nistische Verkehrung der Innervationen, welche der in
    der Traumarbeit üblichen Verwandlung eines Elementes in sein -
    Gegenteil analog ist, z. B. wenn im Anfall eine Umarmu'ng
    dadurch dargestellt wird, daß die Arme krampfh'aft nach rück-
    * wärts gezogen werden, bis sich die Hände über der Wirbelsäule

    begegnen. ——' Möglicherweise ist der bekannte Arc de cercle der

    großen hysterischén Attacke nichts anderes als eine solche
    energische Verleugnung einer für den sexuellen Verkehr geeig-
    neten Korperstellüng durch antagonistische Innervation. _ "
    , ‚4. Kaum minder verwirrend und irreführend wirkt dann.
    "die Umkehrung in der Z'eitfolgé; innerhalb der darge-
    stellten Phantasie, Was wiederum sein volles Gegenstück in
    ‘- manchen Träumen findet, die mit dem Ende der Handlung
    beginnen, um dann mit deren Anfang zu schließen So z. B
    wenn die Verführungsphantasie einer Hysterika zum Inhalte hat,
    wie‘sie lesend in einem Parke sitzt, das Kleid ein wenig ge-
    hoben, sci daß der Fuß sichtbar Wird, ein Herr sich ihr nähert,
    ' 10*

  • S.

    148

    \

    der sie anspricht, sie dann mit ihm an einen anderen Ort geht
    und dort zärtlich mit ihm Verkehrt, und sie diese Phantasie im ,
    Anfalle derart spielt, daß sie mit dem Kram.pfstadium beginnt,
    welches dem Koitus entspricht, dann aufsteht, in ein anderes
    Zimme1 geht, sich dort hinsetzt, um zu lesen und dann auf
    eine imaginäre Anrede Antwort gibt. ‚

    Die beiden letitangeführten Entstellungen können uns die '
    Intensität der Widerstände ahnen lassen, denen das Verdrängte
    noch bei seinem Durchbruche nn hysterischen Anfalle Rechnung
    tragen muß.

    B Das Auftreten der hysterischen Anfälle folgt leicht- '
    verständlichen Gesetzen. Da der verdrängte Komplex aus Libido-
    besetzung und Vorstellungsinhalt (Phantasie) besteht, kann der
    Anfall waéhgerufen werden: 1. assoziativ, wenn der (genügend
    besetzte) Komplexinhalt durch eine Anknüpfung— des bewußten
    Lebens angespielt wird, 2. organisch, wenn aus inneren so-
    r_natischen Gründen und durch psychische Beeinflussung von
    außen die Libidohesetzung über ein gewisses Maß steigt, 3. im
    Dienste der primären Tendenz, als Ausdruck der „Flucht
    in die Krankheit“, wenn die Wirklichkeit peinlich oder sCht‘eck-
    haft wird, also zur Tröst1'1ng, 4. im Dienste der sekundären
    Tendenzen, mit denen sich das Kranksein verbühdet hat, so-
    bald durch die Produktion.des Anfalles ein dem Kranken nütz- ‘
    licher Zweck erreicht Werden kann. Im letztereri_ Falle ist der
    Anfall für gewisse Personen berechnet, kann für sie zeitlich
    verschoben werden und macht den Eindruck hewußter Simulation.

    C. Die Erforschung der Kindergeschichte Hysterischer
    lehrt, daß der hysterische Anfall zum Ersatze einer ehemals
    geübten und seither aufgegeberien autoerotischen Befriedi-
    gung bestimmt ist. In einer großen Zahl von Fällen kehrt diese
    Befriedigung (die Masturbation durch Berührung oder Schenkel-
    druck, die ZungenbeWegung u. dgl.) auch im Anfalle selbst unter ;-

    Abwendung des Bewußtseins wieder. Das Auftreten des Anfalles ‘ ( ‘

    durch Libidosteigerung und im 'Dié11steder prirhä.ren Tendenz :
    ‘ als Tröstung 'wi-ederholt auch genau die Bedingungen, unter
    denen diese autoerotische Befriedigung seinerzeit vom Kranken
    mit Absicht aufgesuéht wurde Die Anamnese des Kranken er—
    gibt folgende Stadien: a) autoerotische Befriedigung ohne Vor-.

  • S.

    149

    stellungsinhalt‚ b) die nämliche im Ansohlusse an eine Phantasie,
    welche in die Befriedigüngsaktion ausläuft, c) Verzicht auf die
    Aktion mit Beibehaltung der Phantasie, d)_Verdrängung dieser
    Phantasie, die sich dann, entweder unverändert oder modifiziert
    und neuen Lebenseindrücken angepaßt, im hysterisc_hen Anfalle
    durch-setzt und &) eventuell selbst die ihr zugehörige, angeblich
    abgewöhnte Befriedigungsétktion wiederhringt. Ein typischer _
    . Zyklus von infantiler Sexualbetätigung —— Verdrängung — Miß- .
    glücken der Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten.

    'Der unwillkiirliche Harnabgang da.'rf gewiß nicht für un-
    vereinbar mit der Diagnose des hysterischen Anfalles gehalten
    werden, er wiederholt bloß_ die infantile Farm der stürmischen
    Pollution. Übrigens kann man auch den Zungenbiß bei unzweifel-
    . halter Hysterie antreffen; er wiederspricht der Hysterie sowenig
    wie dem Liebesspiele; sein Auftreten' im Anfa.lle wird erleichtert,
    wenn die Kranke durch ärztliche Erkundigung auf die differential—
    diagnostischen Schwierigkeiten aufmerksam gemacht werden ist.
    Selbstbeschä'digung irn hysterisohen Anfalle kann (häufiger bei
    Männern) Vorkommen, wo sie einen Unfall des kindlichen Lebens
    (z. B. den Erfolg einer Rauterei) wiederholt.

    Der Bewüßt-seinsverlust, die Absence des hysterischen An-
    falles geht aus jenem flüchtigen, aber unverkennbaren Bewußt-
    seinsentgange hervor, der auf der Höhe einer jeden intensiven
    Sexualhefriedigung (auch der autoerotischen) zu verspüren ist.
    Bei der Entstehung hysterischer Absencen aus den Pollutiqns—
    anwä.ndlungen junger weiblicher Individuen ist diese Entwick=
    lung_lam sichersten zu verfolgen. Die sogenannten 11anoiden
    Zirstände, die Ahsencen während der Träumerei, die bei Hyste-.
    rischen. so_ häufig sind, lassen die gleiche Herkunft erkennen.
    Der Mechanismus' dieser Ahsehcen ist ein relativ einfacher.
    Zunächst wird alle Aufmerksamkeit auf den Ablauf des Be- „
    ifriedigungs'vorganges eingestellt, und. mit dem Eintritte der ‘
    Befriedigung wird diese ganze Aufrherksamkeitshesetzung' plötz-
    lich aufgehobe'n, so daß einekmornentane Bewußtseinsleere
    entsteht Diese sozusagen physiologische Be1vußtseinslücke "

    .‚ wird dann im Dienste der Verdrängung erweitert, bis sie

    all das aufnehmen kann, was die verdrängende Instanz von

    ‘ . sich Weist.