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Aus Vereinen und Versammlungen.
Der Niederländische Verein für Neurologie und Psychia-
trie widmete seine Jahresversammlung 1912 dem Thema der Psycho-
analyse, Die auf Seite 182 angezeigten Arbeiten von A. Stärke und L. Bo u-
man sollten zur Orientierung in der Diskussion dienen. Der erste Referent hatte
sich bemüht, die psychoanalytischen Lehren als ein geschlossenes Ganzes dar-
zustellen, sich auf die Semonsche Theorie stützend. Der kritische Teil war
größtenteils der Widerlegung von Kronfelds Arbeit gewidmet, zum Teil auch
mit den von Rosenstein vorgebrachten Gründen, zum Teil mit anderen;
auch der Freud sche Begriff vom Wahrnehmungscharakter des „Bew“ wird
gegen K. festgehalten. K. s Abweisung dieses Begriffes entstammt einer Ver-
wechslung von „Bew“ und ,BewuBtein®,Der zweite Referent, Professor Bouman von der freien (reformierten)
Universitit zu Amsterdam, sprach sich ebenfalls in giinstigem Sinne aus, so
daß hier das seltene Schauspiel genossen werden konnte, daß die beiden
Referate pro konkludierten. Auf der Versammlung selbst war es freilich
anders. Professor Bouman besprach dort hauptsächlich seine Einwände, in
denen er Isserlins und Kronfelds Kritik wiederholt, ohne auf die
Entgegnung des ersten Referenten einzugehen. Zum Schluß nimmt er einen
vermittelnden Standpunkt ein. Als dauernden Besitz der Wissenschaft erkennt
er die Nachwirkung von psychischen Traumen und den Verdrängungsbegriff
an, warnt aber vor den Übertreibungen der Schüler. Seine Erfahrung hat
schon einen Teil seiner anfänglichen Skepsis behoben und so dünkt ihm
ein abwartender Standpunkt besser als der absolut verneinende, So bestätigt
er aus eigener Erfahrung die symbolische Bedeutung von rechts und links.
In der mit Takt geleiteten Psychoanalyse sieht er keine Gefahr für die
Kranken, ungeachtet seiner Überzeugung, daß mit der Methode Übel ange-
stiftet werden kann.Der andere Referent hielt einen mit Bildprojektionen illustrierten Vor-
trag zur Erliuterung der Freudschen Lehre an Beispielen der Bild-
kunst. Die Verdichtung von Tod und Sexualität, die phallische und ktenische
Symbolik, die Verschiebung, wurden an künstlerischen Produktionen von
Dürrer, Melchior von Hugo, Rops u. a. gezeigt. Nach dem erweckten Wider-
stand zu urteilen, glaube ich diese plastische Einleitung einer Massenanalyse
wohl empfehlen zu können, doch wird sie nicht überall geeignet sein. Der
günstige Erfolg tritt erst nach einiger Zeit ein, eine Steigerung der Wider-
stände geht ihm voraus. In der Diskussion sprachen van Emden (pro),
Keuchenius (kontra, Moral und Ethik werden zu wenig berücksichtigt; es
werden mehr Homosexuelle, Diebe und Mörder statt Neurotiker entstehen),
Heilbronner (kontra, lange Diskussion zwecklos; auch früher ward analysiert,
aber nur auf beschränktem Gebiet, jetzt begibt man sich bei Preferenz auf
das Gebiet der Schweinerei etc.), Breukink (kontra: eine „aufs Gerate-S.
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wohlmethode“ ; die Resultate suggestiv beeinflußt, die Anhänger hypersugge-
stibel, die Sexuallehre nicht ohne Gefahr). Van Erp Taalman Kip (kontra,
aber ein Verdienst Freuds, die Bedeutung des Sexuallebens bei den Neu-
rotikern gezeigt zu haben; Freuds Methode aber nicht notwendig, die Be-
schwerden sind bewußt, und mit Geduld bloBzulegen). Van Valkenburg
(vermittelnd, die Theorie oft absurd, die therapeutische Methode oft besser
als andere). Professor Wertheim Salomonson (das sexuelle Moment
eher ein Symptom als ein åtiologischer Faktor; es ist aber sehr wichtig).
Schnitzler (contra, die Interpretation nur möglich durch besondere Ein-
stellung des Versuchsleiters; rühmt Isserlin). Van Deventer (Mangel an
Individualisierung bei den Anhängern eine Hauptursache des Widerstandes :
in der Sprechstunde kann die Methode nicht angewandt werden).Die Anwesenden waren meistens ziemlich unbekannt mit den psycho-
analytischen Lehren in ihrer gegenwärtigen Gestalt, und mit einzelnen Aus-
nahmen zur Verurteilung derselben geneigt. Eine so låcherliche Diskussion
wie auf dem Kongreß von 1907 ist aber schon unmöglich geworden und
jetzt, ein weiteres Jahr später, ist der Anfang einer gewissen Wendung
unverkennbar.J. Stårcke hielt, im November und Dezember, dazu eingeladen, fiir die
Studenten der technischen Hochschule zu Delft zwei Vorlesungen über die
Freudsche Lehre (Traum, Witz, Mythus, Alltagsleben) und fand ein teil-
nehmendes Publikum, daB durch viele Fragen sein Interesse kund gab.Die Verhältnisse sind in Holland wesentlich anders als in Deutschland.
Bei uns, wie dort, starker Widerstand bei einem großen Teil der Universitåts-
medizin. Der Einfluß dieser Kreise ist aber hier kein so großer, das Laien-
publikum war auch durch die großen revolutionären literarischen Arbeiten
der „Achtziger“ (im Auslande mit einzelnen Ausnahmen gar nicht beachtet, doch
sicherlich zu den bedeutendsten europäischen Produktionen gehôrend) ciniger-
maßen vorbereitet, und in sexuellen Sachen etwas weniger priide, in den
Hauptstådten wenigstens. Beim großen Publikum ist Freud noch so wenig
bekannt, daß, als in diesem Sommer mehrere Aufführungen von Sophokles
Odipus-Tragüdie in einem eigens dafür errichteten antiken Theater stattfanden,
und im Anschluß daran viele Zeitungen und Zeitschriften den Gegen-
stand dieser Tragödie besprachen, überall nur Befremdung, nirgends Ver-
ständnis geäußert wurde und von der Freudschen Auffassung keine Spur
sich fand.Der große Widerstand steht also noch bevor. Die psychoanalytische
Bewegung hat trotzdem gute Aussichten, wenn sie zwei Gefahren entrinnen
kann:Die erste Gefahr liegt im Verhalten mehrer Fachgenossen. Diese, ob-
gleich öffentlich als Gegner auftretend, wollen doch diese Methode, von der
soviel Gutes gesagt wird, wohl probieren, und analysieren fleißig darauf los.
Es ist klar, daß ihnen das so gut gelingen muß wie Herrn Beckmesser das
Preislied. Dem Publikum und den Kollegen wird damit aber das . . . .
Singen überhaupt verleidet.Die zweite Gefahr liegt in der Tatsache, daß die Mehrzahl der hollän-
dischen Interessenten sich die psychoanalytischen Kenntnisse in allerjüngster
Zeit in Zürich geholt und auch den Hochfluß der Funktionalsymbolik am
dortigen Jungbrunnen eingesogen haben. Ich erkenne den Wert derselben
für die Wissenschaft an, auch sehe ich ein, daß sie, am Ende der Kur demS.
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Kranken vorgelegt, von Nutzen sein kann, um die Ubertragung zu beherrschen
und das Wiederunbewußtmachen des Materials zu erleichtern, Sie hat dann
für die Kur die Bedeutung, die das Vernähen der Wunde für die Laparatomie
hat.) Ich habe keine Erfahrung darüber, ob beim Kranken auch Nachteile
demgegenüber stehen, wohl aber darüber, daß beim Arzte, der, mit oder
ohne Neurose, nicht glücklich genug ist, sich eine tiefere Selbstanalyse dauernd
zu erzwingen, die Funktionalsymbolik, ebenso wie die Symbolik der rezenten
Reize, als Widerstände ersten Ranges funktionieren und die Erschließung des
Unbewußten für lange Zeit hemmen können. ASォ ※
*Leeds and West Riding Medico-Chirurgical Society. At
a meeting of this Society on Nov. 29% 1912, Dr. Bedford Pierce read
a paper on Psycho-analysis outlining its principels and criticising it as a method
of treatment. He expressed the opinion that Ps.-A. was suitable in a limited
number of cases, but that caution should he observed in the employment. In
the discussion which followed Dr. Devine urged its vadue, both as a
method of treatment and a means of psychological investigation. He considered,
that Ps.-A. had shad more light on the mechanism of such disorders as de-
mentia precox than any other method of investigation.H. Devine (Wakefield).
Auf dem III. deutschen KongreB fiir Jugendbildung und Jugendkunde in
Breslau, 4. bis 6. Oktober 1913, sprach unter anderem Frau Hoesch-
Ernst (Godesberg) über „Eigene Untersuchungen in den Volksschulen der
Vereinigten Staaten". Es handelte sich dabei um die Feststellung der Ideale
der Kinder, d. h. der von ihnen am meisten bewunderten und verehrten
Personen, Als das Hervortretendste an ihren Untersuchungen bezeichnete
die Vortragende die außerordentlich starke Betonung des , Mutterideals“. Bei der
Deutung ihrer Ergebnisse stellte sie sich auf den Boden der Psychoanalyse
Freuds (Sex.-Probl. Nov. 1913, S. 803).Im November vorigen Jahres hat sich in Berlin eine ,Internationale
Gesellschaft für Sexualforschung“ konstituiert, deren Präsident
der Professor der Nationalökonomie an der Berliner technischen Hochschule
Dr. Julius Wolf ist. Näheres über den Zweck der Gesellschaft und über
die I. konstituierende Versammlung in ,Sexual-Probleme“, Dez. 1913.Uber die Verhandlungen der ,Arztlichen Gesellschaft fir
Sexualwissenschaft und Eugenik“ in Berlin (Vors, A, Eulenburg),
deren Sitzungsberichte in der „Medizinischen Klinik“ erscheinen, berichten
wir im Referatenteil der nächsten Nummer.Die ,Psiche“ Rivista di studi psicologici bringt in der 1. Nummer
(Januar-März 1914) ihres III. Jahrgangs u. a. den „Bericht“ der im Fe-5) Ein » Wiederunbewuftmachen des Materials“ kann unmöglich Endzweck einer
psychoanalytischen Behandlung sein. Im Gegenteil: die tiefen Schichten der Seele
Sollen für den geheilten Patienten stets und mit Leichtigkeit gangbar bleiben. Erst
das sehr häufig wiederholte BewnBtwerden wird dann das affektive Abblassen des
regressiven Materials zu stande bringen. Wann das eintritt, hängt von psychodynamischen
Verhältnissen ab; weder ,fanktionale Deutungen“, noch sonstige suggestive, morali-
sierende oder dialektische Beeinflussung soll oder kann diesen Prozeß beschleunigen.
Einen großen Teil ihres Affektwertes büßen die früher unbewuBten Komplexe. aller-
dings schon während der Analyse ein. (Anmkg. d. Red.)S.
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bruar 4. J. neugegründeten ,Associazione di studi psicologici,“ dessen Haupt-
inhalt nebst einem Zirkular und Statuten ein Programm von Prof. De Sarlo
„La Crisi della Psicologia“ bildet. Die Berichte der Gesellschaft sollen regel-
mäßig veröffentlicht werden.Faculté Internationale de Pédologie de Bruxelles. Die internationale
pädologische Fakultät zu Brüssel eröffnet am 1. März 1914 ihr Sommer-
semester. Nebst Spezialkollegien über die Psychologie und Pathologie abnormer
Kinder werden hier Kurse über Psychiatrie, allgemeine Biologie, Erziehungs-
lehre, Experimentalpsychologie usw. gehalten. Die Institution steht unter der
Leitung von Mlle, la Dr. Joteyko, Redaktrice der „Revue Psychologique“.
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