Aus Vereinen und Versammlungen [März 1914] 1914-764/1914
  • S.

    Aus Vereinen und Versammlungen.

    Der Niederländische Verein für Neurologie und Psychia-
    trie widmete seine Jahresversammlung 1912 dem Thema der Psycho-
    analyse, Die auf Seite 182 angezeigten Arbeiten von A. Stärke und L. Bo u-
    man sollten zur Orientierung in der Diskussion dienen. Der erste Referent hatte
    sich bemüht, die psychoanalytischen Lehren als ein geschlossenes Ganzes dar-
    zustellen, sich auf die Semonsche Theorie stützend. Der kritische Teil war
    größtenteils der Widerlegung von Kronfelds Arbeit gewidmet, zum Teil auch
    mit den von Rosenstein vorgebrachten Gründen, zum Teil mit anderen;
    auch der Freud sche Begriff vom Wahrnehmungscharakter des „Bew“ wird
    gegen K. festgehalten. K. s Abweisung dieses Begriffes entstammt einer Ver-
    wechslung von „Bew“ und ,BewuBtein®,

    Der zweite Referent, Professor Bouman von der freien (reformierten)
    Universitit zu Amsterdam, sprach sich ebenfalls in giinstigem Sinne aus, so
    daß hier das seltene Schauspiel genossen werden konnte, daß die beiden
    Referate pro konkludierten. Auf der Versammlung selbst war es freilich
    anders. Professor Bouman besprach dort hauptsächlich seine Einwände, in
    denen er Isserlins und Kronfelds Kritik wiederholt, ohne auf die
    Entgegnung des ersten Referenten einzugehen. Zum Schluß nimmt er einen
    vermittelnden Standpunkt ein. Als dauernden Besitz der Wissenschaft erkennt
    er die Nachwirkung von psychischen Traumen und den Verdrängungsbegriff
    an, warnt aber vor den Übertreibungen der Schüler. Seine Erfahrung hat
    schon einen Teil seiner anfänglichen Skepsis behoben und so dünkt ihm
    ein abwartender Standpunkt besser als der absolut verneinende, So bestätigt
    er aus eigener Erfahrung die symbolische Bedeutung von rechts und links.
    In der mit Takt geleiteten Psychoanalyse sieht er keine Gefahr für die
    Kranken, ungeachtet seiner Überzeugung, daß mit der Methode Übel ange-
    stiftet werden kann.

    Der andere Referent hielt einen mit Bildprojektionen illustrierten Vor-
    trag zur Erliuterung der Freudschen Lehre an Beispielen der Bild-
    kunst. Die Verdichtung von Tod und Sexualität, die phallische und ktenische
    Symbolik, die Verschiebung, wurden an künstlerischen Produktionen von
    Dürrer, Melchior von Hugo, Rops u. a. gezeigt. Nach dem erweckten Wider-
    stand zu urteilen, glaube ich diese plastische Einleitung einer Massenanalyse
    wohl empfehlen zu können, doch wird sie nicht überall geeignet sein. Der
    günstige Erfolg tritt erst nach einiger Zeit ein, eine Steigerung der Wider-
    stände geht ihm voraus. In der Diskussion sprachen van Emden (pro),
    Keuchenius (kontra, Moral und Ethik werden zu wenig berücksichtigt; es
    werden mehr Homosexuelle, Diebe und Mörder statt Neurotiker entstehen),
    Heilbronner (kontra, lange Diskussion zwecklos; auch früher ward analysiert,
    aber nur auf beschränktem Gebiet, jetzt begibt man sich bei Preferenz auf
    das Gebiet der Schweinerei etc.), Breukink (kontra: eine „aufs Gerate-

  • S.

    Aus Vereinen und Versammlungen, 189

    wohlmethode“ ; die Resultate suggestiv beeinflußt, die Anhänger hypersugge-
    stibel, die Sexuallehre nicht ohne Gefahr). Van Erp Taalman Kip (kontra,
    aber ein Verdienst Freuds, die Bedeutung des Sexuallebens bei den Neu-
    rotikern gezeigt zu haben; Freuds Methode aber nicht notwendig, die Be-
    schwerden sind bewußt, und mit Geduld bloBzulegen). Van Valkenburg
    (vermittelnd, die Theorie oft absurd, die therapeutische Methode oft besser
    als andere). Professor Wertheim Salomonson (das sexuelle Moment
    eher ein Symptom als ein åtiologischer Faktor; es ist aber sehr wichtig).
    Schnitzler (contra, die Interpretation nur möglich durch besondere Ein-
    stellung des Versuchsleiters; rühmt Isserlin). Van Deventer (Mangel an
    Individualisierung bei den Anhängern eine Hauptursache des Widerstandes :
    in der Sprechstunde kann die Methode nicht angewandt werden).

    Die Anwesenden waren meistens ziemlich unbekannt mit den psycho-
    analytischen Lehren in ihrer gegenwärtigen Gestalt, und mit einzelnen Aus-
    nahmen zur Verurteilung derselben geneigt. Eine so låcherliche Diskussion
    wie auf dem Kongreß von 1907 ist aber schon unmöglich geworden und
    jetzt, ein weiteres Jahr später, ist der Anfang einer gewissen Wendung
    unverkennbar.

    J. Stårcke hielt, im November und Dezember, dazu eingeladen, fiir die
    Studenten der technischen Hochschule zu Delft zwei Vorlesungen über die
    Freudsche Lehre (Traum, Witz, Mythus, Alltagsleben) und fand ein teil-
    nehmendes Publikum, daB durch viele Fragen sein Interesse kund gab.

    Die Verhältnisse sind in Holland wesentlich anders als in Deutschland.
    Bei uns, wie dort, starker Widerstand bei einem großen Teil der Universitåts-
    medizin. Der Einfluß dieser Kreise ist aber hier kein so großer, das Laien-
    publikum war auch durch die großen revolutionären literarischen Arbeiten
    der „Achtziger“ (im Auslande mit einzelnen Ausnahmen gar nicht beachtet, doch
    sicherlich zu den bedeutendsten europäischen Produktionen gehôrend) ciniger-
    maßen vorbereitet, und in sexuellen Sachen etwas weniger priide, in den
    Hauptstådten wenigstens. Beim großen Publikum ist Freud noch so wenig
    bekannt, daß, als in diesem Sommer mehrere Aufführungen von Sophokles
    Odipus-Tragüdie in einem eigens dafür errichteten antiken Theater stattfanden,
    und im Anschluß daran viele Zeitungen und Zeitschriften den Gegen-
    stand dieser Tragödie besprachen, überall nur Befremdung, nirgends Ver-
    ständnis geäußert wurde und von der Freudschen Auffassung keine Spur
    sich fand.

    Der große Widerstand steht also noch bevor. Die psychoanalytische
    Bewegung hat trotzdem gute Aussichten, wenn sie zwei Gefahren entrinnen
    kann:

    Die erste Gefahr liegt im Verhalten mehrer Fachgenossen. Diese, ob-
    gleich öffentlich als Gegner auftretend, wollen doch diese Methode, von der
    soviel Gutes gesagt wird, wohl probieren, und analysieren fleißig darauf los.
    Es ist klar, daß ihnen das so gut gelingen muß wie Herrn Beckmesser das
    Preislied. Dem Publikum und den Kollegen wird damit aber das . . . .
    Singen überhaupt verleidet.

    Die zweite Gefahr liegt in der Tatsache, daß die Mehrzahl der hollän-
    dischen Interessenten sich die psychoanalytischen Kenntnisse in allerjüngster
    Zeit in Zürich geholt und auch den Hochfluß der Funktionalsymbolik am
    dortigen Jungbrunnen eingesogen haben. Ich erkenne den Wert derselben
    für die Wissenschaft an, auch sehe ich ein, daß sie, am Ende der Kur dem

  • S.

    190 Aus Vereinen und Versammlungen.

    Kranken vorgelegt, von Nutzen sein kann, um die Ubertragung zu beherrschen
    und das Wiederunbewußtmachen des Materials zu erleichtern, Sie hat dann
    für die Kur die Bedeutung, die das Vernähen der Wunde für die Laparatomie
    hat.) Ich habe keine Erfahrung darüber, ob beim Kranken auch Nachteile
    demgegenüber stehen, wohl aber darüber, daß beim Arzte, der, mit oder
    ohne Neurose, nicht glücklich genug ist, sich eine tiefere Selbstanalyse dauernd
    zu erzwingen, die Funktionalsymbolik, ebenso wie die Symbolik der rezenten
    Reize, als Widerstände ersten Ranges funktionieren und die Erschließung des
    Unbewußten für lange Zeit hemmen können. AS

    ォ ※
    *

    Leeds and West Riding Medico-Chirurgical Society. At
    a meeting of this Society on Nov. 29% 1912, Dr. Bedford Pierce read
    a paper on Psycho-analysis outlining its principels and criticising it as a method
    of treatment. He expressed the opinion that Ps.-A. was suitable in a limited
    number of cases, but that caution should he observed in the employment. In
    the discussion which followed Dr. Devine urged its vadue, both as a
    method of treatment and a means of psychological investigation. He considered,
    that Ps.-A. had shad more light on the mechanism of such disorders as de-
    mentia precox than any other method of investigation.

    H. Devine (Wakefield).

    Auf dem III. deutschen KongreB fiir Jugendbildung und Jugendkunde in
    Breslau, 4. bis 6. Oktober 1913, sprach unter anderem Frau Hoesch-
    Ernst (Godesberg) über „Eigene Untersuchungen in den Volksschulen der
    Vereinigten Staaten". Es handelte sich dabei um die Feststellung der Ideale
    der Kinder, d. h. der von ihnen am meisten bewunderten und verehrten
    Personen, Als das Hervortretendste an ihren Untersuchungen bezeichnete
    die Vortragende die außerordentlich starke Betonung des , Mutterideals“. Bei der
    Deutung ihrer Ergebnisse stellte sie sich auf den Boden der Psychoanalyse
    Freuds (Sex.-Probl. Nov. 1913, S. 803).

    Im November vorigen Jahres hat sich in Berlin eine ,Internationale
    Gesellschaft für Sexualforschung“ konstituiert, deren Präsident
    der Professor der Nationalökonomie an der Berliner technischen Hochschule
    Dr. Julius Wolf ist. Näheres über den Zweck der Gesellschaft und über
    die I. konstituierende Versammlung in ,Sexual-Probleme“, Dez. 1913.

    Uber die Verhandlungen der ,Arztlichen Gesellschaft fir
    Sexualwissenschaft und Eugenik“ in Berlin (Vors, A, Eulenburg),
    deren Sitzungsberichte in der „Medizinischen Klinik“ erscheinen, berichten
    wir im Referatenteil der nächsten Nummer.

    Die ,Psiche“ Rivista di studi psicologici bringt in der 1. Nummer
    (Januar-März 1914) ihres III. Jahrgangs u. a. den „Bericht“ der im Fe-

    5) Ein » Wiederunbewuftmachen des Materials“ kann unmöglich Endzweck einer
    psychoanalytischen Behandlung sein. Im Gegenteil: die tiefen Schichten der Seele
    Sollen für den geheilten Patienten stets und mit Leichtigkeit gangbar bleiben. Erst
    das sehr häufig wiederholte BewnBtwerden wird dann das affektive Abblassen des
    regressiven Materials zu stande bringen. Wann das eintritt, hängt von psychodynamischen
    Verhältnissen ab; weder ,fanktionale Deutungen“, noch sonstige suggestive, morali-
    sierende oder dialektische Beeinflussung soll oder kann diesen Prozeß beschleunigen.
    Einen großen Teil ihres Affektwertes büßen die früher unbewuBten Komplexe. aller-
    dings schon während der Analyse ein. (Anmkg. d. Red.)

  • S.

    Aus Vereinen und Versammlungen, 191

    bruar 4. J. neugegründeten ,Associazione di studi psicologici,“ dessen Haupt-
    inhalt nebst einem Zirkular und Statuten ein Programm von Prof. De Sarlo
    „La Crisi della Psicologia“ bildet. Die Berichte der Gesellschaft sollen regel-
    mäßig veröffentlicht werden.

    Faculté Internationale de Pédologie de Bruxelles. Die internationale
    pädologische Fakultät zu Brüssel eröffnet am 1. März 1914 ihr Sommer-
    semester. Nebst Spezialkollegien über die Psychologie und Pathologie abnormer
    Kinder werden hier Kurse über Psychiatrie, allgemeine Biologie, Erziehungs-
    lehre, Experimentalpsychologie usw. gehalten. Die Institution steht unter der
    Leitung von Mlle, la Dr. Joteyko, Redaktrice der „Revue Psychologique“.