Aus Vereinen und Versammlungen [September 1913] 1913-774/1913
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    Aus Vereinen und Versammlungen.

    Vierte Jahresversammlung der American Psychopathological
    Association.

    Diese Versammlung fand in Washington am 9. Mai 1913 unter dem
    Vorsitze des Präsidenten Prof. J. J. Putnam statt. Sie wurde durch eine
    Ansprache des Präsidenten eröffnet, in welcher Putnam in klarer und fesselnder
    Weise seine Ansichten über die Bedeutung der Philosophie für die Psycho-
    pathologie darlegte.

    Stanley Hall hielt dann einen Vortrag unter dem Titel , Die Sexual-
    Symbolik in der Psychologie Freuds“. Der größte Teil war einer Darlegung
    der großen Wichtigkeit dieses Gegenstandes gewidmet, die von dem Vortragenden
    in weitgehendem Maße gewürdigt wurde. Er nannte Freuds Werke den be-
    deutsamsten Beitrag der, soweit seine Erfahrung reiche, jemals zur Psychologie
    geliefert worden sei und betonte seinen großen Wert für alle künftigen
    Untersuchungen auf dem Gebiete der Normal-Psychologie. Aber gerade der
    Erfolg und Wert des Werkes trage gewisse Gefahren in sich, auf welche er
    die Aufmerksamkeit lenken wolle, Man sollte die Exzesse älterer frucht-
    bringender Ideen z. B. jene der Astralmythentheorie zur Warnung nehmen,
    Als Beispiel führte er ein Zitat aus dem Buche von Perés an, in welchem
    das Leben Napoleons als Sonnen-Mythos gedeutet wird. Auch möge man die
    Gefahr einer subjektiven Deutung nicht unterschiitzen, da jeder Psychoana-
    lytiker auf seine Patienten ,Suggestion ausstrahlen“ müsse, Der Erfahrung
    des Vortragenden nach, ist das Schema des Traumaufbaues, wie es Freud
    geschildert hat, sicherlich fir viele Triumer richtig, aber nur bei einem be-
    stimmten Typus, nicht bei allen. Die Bedeutung des Sexualtriebes soll
    nicht überschätzt werden, denn dieser stand jederzeit gegen den Nahrungstrieb
    zurück: Alpdriicken 2. В. kann durch Störungen des letzteren hervorgerufen
    werden, Er kritisierte im ungünstigen Sinne einige psychoanalytische Beiträge,
    darunter Robitseks Artikel über den Benzolring, Abrahams Arbeit über
    Segantini, Jones’ Untersuchung über das Salz nnd die Studien von Rank und
    Pfister; Silberers Deutung der Spermatozoentriiume bezeichnete er als
    „Zeichen einer abergliubischen Leichtglåubigkeit hinsichtlich des Unbewußten, *
    Schließlich bestritt er die Genauigkeit des Ausdruckes „Ödipus-Motiv“, da
    kein Nachweis eines inzestaösen Wunsches in dieser Sage zu finden sei.
    Ödipus hat seine Mutter nie gekannt und seine spätere Reue entsprang nicht
    einem persönlichen Grunde, sondern der Anerkennung der sozialen Verurteilung
    seines Verbrechens. In der darauf folgenden Diskussion wies Jones bei Beant-
    wortung der vorgebrachten Kritik darauf hin, daß die Odipus-Sage eine
    Mythe, aber nicht ein Zeitungsbericht über ein tatsüchliches Vorkommnis sei
    und daß die Unwissenheit des Odipus hinsichtlich seiner Mutter darin ein-

    Zeitschr, f. ürztl. Psychoanalyse, 38

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    geführt worden sei, um die Abscheu vor der Grundidee abzuschwächen. Hall
    gab daraufhin die mangelnde Beweiskraft seiner Kritik zu und zog dieselben
    unumwunden zurück. Eine solche Haltung eines Redners bei einer wissen-
    schaftlichen Versammlung und ein Zugeständnis, daß ihn die Diskussion von
    seinem Irrtum überzeugt habe, ist ein Vorkommnis, welches in des Referenten
    Erfahrung einzig dasteht, obwohl dieselbe in Bezug auf Versammlungen und
    Kongresse recht ausgedehnt ist. Die Seltenheit solcher Vorkommnisse regt
    zu Betrachtungen über die intellektuelle Unehrlichkeit der Menschen an und
    die Aufrichtigkeit, die ein Mann von Stanley Halls überragender Bedeutung
    gezeigt hat, ist umsomehr einer besonderen Hervorhebung wert.

    Symann Wells hielt einen Vortrag über „Formulierung in der
    Psychoanalyse,“ der, zusammen mit jenem Stanley Halls die Basis für ein
    Symposium über „einzelne Punkte der Psychologie Sigmund Freuds“ bildete.
    Wells kritisierte und verwarf die psychoanalytische Formulierung der drei
    olgenden Auffassungen; 1, Wunsch, So sollte eigentlich nur ein überlegtes
    und bewußtes Begehren genannt werden, und der Ausdruck wäre daher durch
    einen mehr allgemein gehaltenen zu ersetzen, wie etwa „innerer Antrieb“
    „Strebung“ u. dgl. 2. Symbolik, Er erklärte, eine assoziative Verbindung
    erbringe noch nicht den Beweis eines genetischen Zusammenhanges zwischen
    zwei Vorstellungen und nur auf diesen Fall dürfe die Bezeichnung „Symbolik“
    angewendet werden. 3. Sexualität. Freud fasse sie in zu weitem Sinne.
    Ein Streben sei nur dann sexuell, wenn es sich gegen lebende Objekte mit
    der Endabsicht, den Koitus auszuführen, richte; Masturbation sei oft nicht
    ein sexueller Akt, sondern ein hedonistischer.

    Die Diskussion des Symposiums bewegte sich aut leicht erratbaren Bahnen.
    Da die Mehrheit der Anwesenden sich mit dem Studium und der Ausübung
    der Psychoanalyse aktiv betätigte, war es unnötig, die Oberflächligkeit des
    größten Teiles der vorgebrachten kritischen Einwände, insbesondere jener von
    Wells, ausführlich nachzuweisen.

    Morton Prince brachte „eine klinische Studie eines Falles von
    Phobie.“ Die Patientin, eine Dame mittleren Alters, litt viele Jahre hindurch
    an einer Phobie vor Kirchtürmen, die sich jedoch bei eingehender Beobach-
    tung als Phobie vor den Glocken in den Kirchtürmen erwies, Die Krankheit
    begann mit dem Tod ihrer Mutter und dem Klang der Begräbnisglocken. Die
    Patientin war damals ein Kind und hatte von da an immer die Vorstellung,
    daß sie für den Tod ihrer Mutter verantwortlich sei, da dieser infolge einer
    Lungenentzündung eingetreten war, an der die Mutter, nachdem sie das Kind
    aus dem Regen geholt hatte, erkrankte. Sie war niemals imstande, sich die
    Ungehorsamkeit zu verzeihen, durch welche sie indirekt den Tod ihrer Mutter
    verschuldet hatte, In der Diskussion knüpfte Jeliffe an die ungenügende
    Erklärung der übermäßigen Reue an und Jones bemerkte, daß bei Frauen
    die Vorstellung der Kirchenglocken unauflöslich mit jener von Heirat ver-
    bunden seien und folgerte darauf auf verdrängte Wunschphantasien, welche
    durch die Symptome zweifellos symbolisch dargestellt wurden,

    Prince erwiderte, daß er außer stande gewesen sei, irgend eine Spur
    von Inzestphantasien bei der Patientin zu entdecken, obgleich er sie ein-
    dringlich über den Gegenstand befragt habe.

    Ernst Jones hielt einen Vortrag unter dem Titel „Der Fall Louis
    Bonaparte, König von Holland“ in welchem ein Versuch gemacht wurde, sein
    Benehmen und seine Einstellung gegen seinen Bruder Napoleon durch eine
    psychopathologische Untersuchung seiner Persönlichkeit zu beleuchten,

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    S. E. Jeliffe erčrterte das Problem der Ubertragung bei der Psycho-
    analyse und gab eine Anzahl interessanter persönlicher Erfahrungen, Er legte
    besonderen Ton auf die Erwägung, da, während die Übertragung bei allen
    Methoden der Psychotherapie vorkommt, die Psychoanalyse die einzige ist,
    die einen klinischen Thermometer (Traumdeutung u. s, w.) besitzt, mit welchem
    die Identität der Übertragung genau gemessen und ihren täglichen Fluktuationen
    angomessen begegnet werden kann.

    A. A. Brill hielt einen Vortrag iiber ,psychoanalytische Fragmente einer
    Tagesarbeit“, in welchem er die wichtigsten Gegenstände, die in jeder Stunde
    besprochen worden waren, beschrieb und eine kurze Schilderung der einzelnen
    Fille gab. Dies war ein außerordentlich glücklicher Gedanke Brills und
    er erzielte dadurch eine graphische Darstellung der Bestandteile, aus denen
    sich die tägliche Arbeit in der Psychoanalyse zusammensetzt, und der typischen
    Probleme, denen der Arzt gegeniibertritt,

    E. E. Southard brachte „Bemerkungen über die statistische Seite der
    Sinnestäuschungen“ und Tom, Williams , Ein Kontrast in der Psychoanalyse
    — drei Fille“. Keiner der beiden Vortrige braucht hier besprochen zu
    werden, denn obwohl das Wort Psychoanalyse darin häufig benützt wurde,
    hatten ihre Prinzipien nur wenig Beriicksichtigung gefunden.

    Trigant Burrow sprach über „Die Bedeutung des psychischen
    Faktors“, wobei er vom philosophischen Standpunkt das Verhältnis des
    Körpers zur Seele erürterte.

    J. T. Me. Curdy hielt einen sehr wertvollen Vortrag über „Die Phan-
    tasien eines manischen Patienten“, Der Patient, ein Paraphreniker, ließ ganz
    offen und unverhüllt allen möglichen Phantasien, die sonst nur durch müh-
    selige Analyse aufgedeckt werden können, freien Lauf, In der Diskussion
    erklärten sowohl Hall wie Jones, daß der Bericht, der ohne jede Deutung
    abgefaBt worden war, das normale UnbewuBte ziemlich genau wiedergebe.

    Es ist nicht möglich hier eine Darstellung der langen Diskussionen zu
    geben, welche durch jeden dieser Vorträge hervorgerufen wurden; ein Bericht
    darüber wird im „Journal of Abnormal Psychology“ erscheinen, Das einzige
    Thema, das während des ganzen Kongresses besprochen wurde, war aus-
    schließlich die Psychoanalyse, was allein das Interesse beweist, das man ihr
    in Amerika entgegenbringt. Wenn die Vorträge im Druck erschienen sind,
    wird eine ausführlichere Würdigung derselben ‘in der Zeitschrift erfolgen.

    Ein Komitee, bestehend aus den Doktoren Hall, Hoch, Jones und
    Prince wurde eingesetzt, um die Frage der Einführung der klinischen Psy-
    choanalyse an das medizinische Universitätsstudium zu untersuchen.

    Ernest Jones,

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