Bemerkungen über die Übertragungsliebe 1915-001/1931
  • S.

    396 Bemerkungen

    auf den Patienten hat und das dic analytische Behandlung
    von jeder Suggestionsbeeinflussung unterscheidet. Theoretisch
    kann man es dem ,,Abreagieren der durch die Verdrängung
    cingeklemmten Affektbeträge gleichstellen, ohne welches die
    hypnotische Behandlung einflufilos blieb.

    BEMERKUNGEN ÜBER DIE

    UBERTRAGUNGSLIEBE
    (1915)

    Jeder Anfånger in der Psychoanalyse bangt wohl zuerst
    vor den Schwierigkeiten, welche ihm die Deutung der Ein-
    fille des Patienten und die Aufgabe der Reproduktion des
    Verdrångten bereiten werden. Es steht ihm aber bevor, diese
    Schwierigkeiten bald gering einzuschätzen und dafür die
    Überzeugung einzutauschen, daß die einzigen wirklich ernst-
    haften Schwierigkeiten bei der Handhabung der Übertragung
    anzutreffen sind.

    Von den Situationen, die sich hier ergeben, will ich eine
    einzige, scharf umschriebene, herausgreifen, sowohl wegen
    ihrer Häufigkeit und realen Bedeutsamkeit als auch wegen
    ihres theoretischen Interesses. Ich meine den Fall, daß eine
    weibliche Patientin durch unzweideutige Andeutungen erraten
    låft oder es direkt ausspricht, daß sie sich wie ein anderes
    sterbliches Weib in den sie analysierenden Arzt verliebt hat.
    Diese Situation hat ihre peinlichen und komischen Seiten wie
    ihre ernsthaften; sie ist auch so verwickelt und vielseitig be-
    dingt, so unvermeidlich und so schwer lösbar, daß ihre Dis-
    kussion längst ein vitales Bedürfnis der analytischen Technik
    erfüllt hätte. Aber da wir selbst nicht immer frei sind, die
    wir über die Fehler der anderen spotten, haben wir uns zur
    Erfüllung dieser Aufgabe bisher nicht eben gedrängt. Immer-
    wieder stoßen wir hier mit der Pflicht der ärztlichen Dis-

  • S.

    über die Ubertragungsliebe 397

    kretion zusammen, die im Leben nicht zu entbehren, in
    unserer Wissenschaft aber nicht zu brauchen ist. Insoferne
    die Literatur der Psychoanalytik auch dem realen Leben an-
    gehört, ergibt sich hier ein unlósbarer Widerspruch. Ich habe
    mich kürzlich an einer Stelle über die Diskretion hinaus-
    gesetzt und angedeutet, daß die nämliche Ubertragungs-
    situation die Entwicklung der psychoanalytischen Therapie
    um ihr erstes Jahrzehnt verzögert hat.”

    Für den wohlerzogenen Laien — ein solcher ist wohl der
    ideale Kulturmensch der Psychoanalyse gegenüber — sind
    Liebesbegebenheiten mit allem anderen inkommensurabel; sie
    stehen gleichsam auf einem besonderen Blatte, das keine
    andere Beschreibung verträgt. Wenn sich also die Patientin
    in den Arzt verliebt hat, wird er meinen, dann kann es nur
    zwei Ausgänge haben, den selteneren, daß alle Umstände die
    dauernde legitime Vereinigung der Beiden gestatten, und den
    häufigeren, daß Arzt und Patientin auseinandergehen und
    die begonnene Arbeit, welche der Herstellung dienen sollte,
    als durch ein Elementarereignis gestört aufgeben. Gewiß ist
    auch ein dritter Ausgang denkbar, der sich sogar mit der
    Fortsetzung der Kur zu vertragen scheint, die Anknüpfung
    illegitimer und nicht für die Ewigkeit bestimmter Liebes-
    beziehungen; aber dieser ist wohl durch die bürgerliche Moral
    wie durch die ärztliche Würde unmöglich gemacht. Immer-
    hin würde der Laie bitten, durch eine möglichst deutliche
    Versicherung des Analytikers über den Ausschluß dieses
    dritten Falles beruhigt zu werden.

    Es ist evident, daß der Standpunkt des Psychoanalytikers
    ein anderer sein muß.

    Setzen wir den Fall des zweiten Ausganges der Situation,
    die wir besprechen, Arzt und Patientin gehen auseinander,

    20) Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung (1914).
    [S. Gesammelte Schriften, Bd. IV.]

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    398 Bemerkungen

    nachdem sich die Patientin in den Arzt verliebt hat; die Kur
    wird aufgegeben. Aber der Zustand der Patientin macht bald
    einen zweiten analytischen Versuch bei einem anderen Arzte
    notwendig; da stellt es sich denn ein, daß sich die Patientin
    auch in diesen zweiten Arzt verliebt fühlt, und ebenso, wenn
    sie wieder abbricht und von neuem anfängt, in den dritten
    usw. Diese mit Sicherheit eintreffende Tatsache, bekanntlich
    eine der Grundlagen der psychoanalytischen Theorie, gestattet
    zwei Verwertungen, eine fiir den analysierenden Arzt, dic
    andere für die der Analyse bedürftige Patientin.

    Für den Arzt bedeutet sie eine kostbare Aufklärung und
    eine gute Warnung vor einer etwa bei ihm bereitliegenden
    Gegenübertragung. Er muß erkennen, daß das Verlieben der
    Patientin durch die analytische Situation erzwungen wird
    und nicht etwa den Vorzügen seiner Person zugeschrieben
    werden kann, daß er also gar keinen Grund hat, auf eine
    solche „Eroberung“, wie man sie außerhalb der Analyse
    heißen würde, stolz zu sein. Und es ist immer gut, daran
    gemahnt zu werden. Für die Patientin ergibt sich aber eine
    Alternative: entweder sie muß auf eine psychoanalytische
    Behandlung verzichten oder sie muß sich die Verliebtheit in
    den Arzt als unausweichliches Schicksal gefallen lassen.

    Ich zweifle nicht daran, daß sich die Angehörigen der
    Patientin mit ebensolcher Entschiedenheit für die erste der
    beiden Möglichkeiten erklären werden wie der analysierende
    Arzt für die zweite. Aber ich meine, es ist dies ein Fall, in
    welchem der zärtlichen — oder vielmehr egoistisch eifersüch-
    tigen — Sorge der Angehörigen die Entscheidung nicht über-
    lassen werden kann. Nur das Interesse der Kranken sollte
    den Ausschlag geben. Die Liebe der Angehörigen kann aber

    21) Daß die Übertragung sich in anderen und minder zärtlichen
    Gefühlen äußern kann, ist bekannt und soll in diesem Aufsatze
    nicht behandelt werden,

  • S.

    über die Ubertragungsliebe 399

    keine Neurose heilen. Der Psychoanalytiker braucht sich
    nicht aufzudringen, er darf sich aber als unentbehrlich für
    gewisse Leistungen hinstellen. Wer als Angehöriger die Stel-
    lung Tolstois zu diesem Probleme zu der seinigen macht,
    mag im ungestórten Besitze seiner Frau oder Tochter bleiben
    und muß es zu ertragen suchen, daß diese auch ihre Neurose
    und die mit ihr verknüpfte Stórung ihrer Liebesfáhigkeit bei-
    behält. Es ist schließlich ein ähnlicher Fall wie der der
    gynikologischen Behandlung. Der eifersiichtige Vater oder
    Gatte irrt übrigens groß, wenn er meint, die Patientin werde
    der Verliebtheit in den Arzt entgehen, wenn er sie zur Be-
    kümpfung ihrer Neurose eine andere als die analytische
    Behandlung einschlagen läßt. Der Unterschied wird vielmehr
    nur sein, daf eine solche Verliebtheit, die dazu bestimmt ist,
    unausgesprochen und unanalysiert zu bleiben, niemals jenen
    Beitrag zur Herstellung der Kranken leisten wird, den ihr die
    Analyse abzwingen würde.

    Es ist mir bekannt geworden, daß einzelne Arzte, welche
    die Analyse ausüben, die Patienten háufig auf das Erscheinen
    der Liebesübertragung vorbereiten oder sie sogar auffordern,
    sich „nur in den Arzt zu verlieben, damit die Analyse vor-
    würtsgehe". Ich kann mir nicht leicht eine unsinnigere Tech-
    nik vorstellen. Man raubt damit dem Phänomen den über-
    zeugenden Charakter der Spontaneitåt und bereitet sich selbst
    Schwer zu beseitigende Hindernisse.

    Zunächst hat es allerdings nicht den Anschein, als ob aus
    der Verliebtheit in der Übertragung etwas für die Kur Fór-
    derliches entstehen könnte. Die Patientin, auch die bisher
    fügsamste, hat plötzlich Verständnis und Interesse für die
    Behandlung verloren, will von nichts anderem sprechen und
    hören als von ihrer Liebe, für die sie Entgegnung fordert; sie
    hat ihre Symptome aufgegeben oder vernachlissigt sie, ja, sie
    erklärt sich für gesund. Es gibt einen völligen Wechsel der

  • S.

    400 Bemerkungen

    Szene, wie wenn ein Spiel durch eine plåtzlich hereinbrechende
    Wirklichkeit abgelöst würde, etwa wie wenn sich während
    einer Theatervorstellung Feuerlärm erhebt. Wer dies als Arzt
    zum erstenmal erlebt, hat es nicht leicht, die analytische
    Situation festzuhalten und sich der Täuschung zu entziehen,
    daß die Behandlung wirklich zu Ende sei.

    Mit etwas Besinnung findet man sich dann zurecht. Vor
    allem gedenkt man des Verdachtes, daß alles, was die Fort-
    setzung der Kur stört, eine Widerstandsäußerung sein mag.
    An dem Auftreten der stürmischen Liebesforderung hat der
    Widerstand unzweifelhaft einen großen Anteil. Man hatte ja
    die Anzeichen einer zärtlichen Übertragung bei der Patientin
    längst bemerkt und durfte ihre Gefügigkeit, ihr Eingehen auf
    die Erklärungen der Analyse, ihr ausgezeichnetes Verständnis
    und die hohe Intelligenz, die sie dabei erwies, gewiß auf
    Rechnung einer solchen Einstellung gegen den Arzt schreiben.
    Nun ist das alles wie weggefegt, die Kranke ist ganz ein-
    sichtslos geworden, sie scheint in ihrer Verliebtheit aufzu-
    gehen, und diese Wandlung ist ganz regelmäßig in einem
    Zeitpunkte aufgetreten, da man ihr gerade zumuten mußte,
    ein besonders peinliches und schwer verdrångtes Stück ihrer
    Lebensgeschichte zuzugestehen oder zu erinnern. Die Ver-
    liebtheit ist also längst dagewesen, aber jetzt beginnt der
    Widerstand sich ihrer zu bedienen, um die Fortsetzung der
    Kur zu hemmen, um alles Interesse von der Arbeit abzu-
    lenken und um den analysierenden Arzt in cine peinliche
    Verlegenheit zu bringen.

    Sieht man nåher zu, so kann man in der Situation auch
    den Einfluß komplizierender Motive erkennen, zum Teile
    solcher, die sich der Verliebtheit anschließen, zum anderen
    Teile aber besonderer Auferungen des Widerstandes. Von
    der ersteren Art ist das Bestreben der Patientin, sich ihrer
    Unwiderstehlichkeit zu versichern, die Autoritåt des Arztes

  • S.

    über die Ubertragungsliebe 401

    durch seine Herabsetzung zum Geliebten zu brechen und was
    sonst als Nebengewinn bei der Liebesbefriedigung winkt.
    Vom Widerstande darf man vermuten, daß er gelegentlich
    die Liebeserklårung als Mittel bentitzt, um den gestrengen
    Analytiker auf die Probe zu stellen, worauf er im Falle seiner
    Willfährigkeit cine Zurechtweisung zu erwarten hätte. Vor
    allem aber hat man den Eindruck, daf der Widerstand als
    agent provocateur die Verliebtheit steigert und die Bereit-
    willigkeit zur sexuellen Hingabe übertreibt, um dann desto
    nachdrücklicher unter Berufung auf die Gefahren einer sol-
    chen Zuchtlosigkeit das Wirken der Verdringung zu recht-
    fertigen. All dieses Beiwerk, das in reineren Fållen auch weg-
    bleiben kann, ist von Alf. Adler bekanntlich als das
    Wesentliche des ganzen Vorganges angesehen worden.

    Wie muß sich aber der Analytiker benehmen, um nicht an
    dieser Situation zu scheitern, wenn es fiir ihn feststeht, daß
    die Kur trotz dieser Liebesiibertragung und durch dieselbe
    hindurch fortzusetzen ist?

    Ich håtte es nun leicht, unter nachdriicklicher Betonung der
    allgemein gültigen Moral zu postulieren, daß der Analytiker
    nie und nimmer die ihm angebotene Zärtlichkeit annehmen
    oder erwidern diirfe. Er miisse vielmehr den Moment fiir
    gekommen erachten, um die sittliche Forderung und die Not-
    wendigkeit des Verzichtes vor dem verliebten Weibe zu ver-
    treten und es bei ihr zu erreichen, daß sie von ihrem Ver-
    langen ablasse und mit Uberwindung des animalischen An-
    teils an ihrem Ich die analytische Arbeit fortsetze.

    Ich werde aber diese Erwartungen nicht erfüllen, weder den
    ersten noch den zweiten Teil derselben. Den ersten nicht, weil
    ich nicht für die Klientel schreibe, sondern für Ärzte, die mit
    ernsthaften Schwierigkeiten zu ringen haben, und weil ich
    überdies hier die Moralvorschrift auf ihren Ursprung, das
    heißt auf Zweckmäßigkeit zurückführen kann. Ich bin dies-

    26 Freud, Schriften zur Neurosenlehre

  • S.

    402 Bemerkungen

    mal in der gliicklichen Lage, das moralische Oktroi ohne Ver-
    änderung des Ergebnisses durch Riicksichten der analytischen
    Technik zu ersetzen.

    Noch entschiedener werde ich aber dem zweiten Teile der
    angedeuteten Erwartung absagen. Zur Triebunterdriickung,
    zum Verzicht und zur Sublimierung auffordern, sobald die
    Patientin ihre Liebesübertragung eingestanden hat, hieße nicht
    analytisch, sondern sinnlos handeln. Es wire nicht anders,
    als wollte man mit kunstvollen Beschwórungen einen Geist
    aus der Unterwelt zum Aufsteigen zwingen, um ihn dann
    ungefragt wieder hinunter zu schicken. Man hätte ja dann das
    Verdrångte nur zum Bewußtsein gerufen, um es erschreckt
    von neuem zu verdringen. Auch über den Erfolg eines sol-
    chen Vorgehens braucht man sich nicht zu täuschen. Gegen
    Leidenschaften richtet man mit sublimen Redensarten be-
    kanntlich wenig aus. Die Patientin wird nur die Verschmi-
    hung empfinden und nicht versäumen, sich für sie zu rächen.

    Ebensowenig kann ich zu einem Mittelwege raten, der sich
    manchen als besonders klug empfehlen würde, welcher darin
    besteht, daß man die zirtlichen Gefühle der Patientin zu
    erwidern behauptet und dabei allen körperlichen Betåtigun-
    gen dieser Zirtlichkeit ausweicht, bis man das Verhiltnis in
    ruhigere Bahnen lenken und auf eine hóhere Stufe heben
    kann. Ich habe gegen dieses Auskunftsmittel einzuwenden,
    daß die psychoanalytische Behandlung auf Wahrhaftigkeit
    aufgebaut ist. Darin liegt ein gutes Stück ihrer erzicherischen
    Wirkung und ihres ethischen Wertes. Es ist gefährlich, dieses
    Fundament zu verlassen. Wer sich in die analytische Technik
    eingelebt hat, trifft das dem Arzte sonst unentbehrliche
    Lügen und Vorspiegeln überhaupt nicht mehr und pflegt sich
    zu verraten, wenn er es in bester Absicht einmal versucht.
    Da man vom Patienten strengste Wahrhaftigkeit fordert,
    setzt man seine ganze Autorität aufs Spiel, wenn man sich

  • S.

    über die Ubertragungsliebe 493

    selbst von ihm bei einer Abweichung von der Wahrheit er-
    tappen läßt. Außerdem ist der Versuch, sich in zärtliche
    Gefiihle gegen die Patientin gleiten zu lassen, nicht ganz un-
    gefährlich. Man beherrscht sich nicht so gut, daß man nicht
    plötzlich einmal weiter gekommen wire, als man beabsich-
    tigt hatte. Ich meine also, man darf die Indifferenz, die man
    sich durch die Niederhaltung der Gegeniibertragung erwor-
    ben hat, nicht verleugnen.

    Ich habe auch bereits erraten lassen, daß die analytische
    Technik es dem Arzte zum Gebote macht, der liebesbedürfti-
    gen Patientin dic verlangte Befriedigung zu versagen. Die
    Kur muf in der Abstinenz durchgeführt werden; ich meine
    dabei nicht allein die kórperliche Entbehrung, auch nicht die
    Entbehrung von allem, was man begehrt, denn dies würde
    vielleicht kein Kranker vertragen. Sondern ich will den
    Grundsatz aufstellen, daß man Bedürfnis und Sehnsucht als
    zur Arbeit und Veränderung treibende Kräfte bei der Kran-
    ken bestehen lassen und sich hüten muß, dieselben durch
    Surrogate zu beschwichtigen. Anderes als Surrogate könnte
    man ja nicht bieten, da die Kranke infolge ihres Zustandes,
    solange ihre Verdringungen nicht behoben sind, einer wirk-
    lichen Befriedigung nicht fihig ist.

    Gestehen wir zu, daß der Grundsatz, die analytische Kur

    * solle in der Entbehrung durchgeführt werden, weit über den
    hier betrachteten Einzelfall hinausreicht und einer eingehenden
    Diskussion bedarf, durch welche die Grenzen seiner Durch-
    führbarkeit abgesteckt werden sollen. Wir wollen es aber
    vermeiden, dies hier zu tun, und uns möglichst enge an die
    Situation halten, von der wir ausgegangen sind. Was würde
    geschehen, wenn der Arzt anders vorginge und die etwa
    beiderseits gegebene Freiheit ausnützen würde, um die Liebe
    der Patientin zu erwidern und ihr Bedürfnis nach Zürtlich-
    keit zu stillen?

    26%

  • S.

    404 Bemerkungen

    Wenn ihn dabei die Berechnung leiten sollte, durch solches
    Entgegenkommen würde er sich die Herrschaft über die
    Patientin sichern und sie so bewegen, dic Aufgaben der Kur
    zu lösen, also ihre dauernde Befreiung von der Neurose zu
    erwerben, so müßte ihm die Erfahrung zeigen, daß er sich
    verrechnet hat. Die Patientin würde ihr Ziel erreichen, er
    niemals das seinige. Es hitte sich zwischen Arzt und Patientin
    nur wieder abgespielt, was eine lustige Geschichte vom Pastor
    und vom Versicherungsagenten erzählt. Zu dem unglåubigen
    und schwerkranken Versicherungsagenten wird auf Betreiben
    der Angehörigen ein frommer Mann gebracht, der ihn vor
    seinem Tode bekehren soll. Die Unterhaltung dauert so lange,
    daß die Wartenden Hoffnung schöpfen. Endlich öffnet sich
    die Tür des Krankenzimmers. Der Ungläubige ist nicht be-
    kehrt worden, aber der Pastor geht versichert weg.

    Es wire ein großer Triumph fiir die Patientin, wenn ihre
    Liebeswerbung Erwiderung fånde, und eine volle Niederlage
    fiir die Kur. Die Kranke håtte erreicht, wonach alle Kranken
    in der Analyse streben, etwas zu agieren, im Leben zu wieder-
    holen, was sie nur erinnern, als psychisches Material reprodu-
    zieren und auf psychischem Gebiete erhalten soll? Sie wiirde
    im weiteren Verlaufe des Liebesverhåltnisses alle Hemmungen
    und pathologischen Reaktionen ihres Liebeslebens zum Vor-
    scheine bringen, ohne daß eine Korrektur derselben möglich
    wäre, und das peinliche Erlebnis mit Reue und großer Ver-
    stärkung ihrer Verdrängungsneigung abschließen. Das Liebes-
    verhältnis macht eben der Beeinflußbarkeit durch die analy-
    tische Behandlung ein Ende; eine Vereinigung von beiden ist
    ein Unding.

    Die Gewåhrung des Liebesverlangens der Patientin ist also
    ebenso verhängnisvoll für die Analyse wie die Unterdrückung

    22) Siehe die vorhergehende Abhandlung über „Erinnern...“ usw.

  • S.

    über die Ubertragungsliebe 405

    desselben. Der Weg des Analytikers ist ein anderer, ein
    solcher, fiir den das reale Leben kein Vorbild liefert. Man
    hütet sich, von der Liebesübertragung abzulenken, sie zu ver-
    scheuchen oder der Patientin zu verleiden; man enthält sich
    ebenso standhaft jeder Erwiderung derselben. Man hålt die
    Liebesiibertragung fest, behandelt sie aber als etwas Unreales,
    als eine Situation, die in der Kur durchgemacht, auf ihre
    unbewuften Ursprünge zurückgeleitet werden soll und dazu
    verhelfen muß, das Verborgenste des Liebeslebens der Kranken
    dem Bewuftsein und damit der Beherrschung zuzufiihren. Je
    mehr man den Eindruck macht, selbst gegen jede Versuchung
    gefeit zu sein, desto eher wird man der Situation ihren ana-
    lytischen Gehalt entziehen können. Die Patientin, deren
    Sexualverdrängung doch nicht aufgehoben, bloß in den
    Hintergrund geschoben ist, wird sich dann sicher genug fühlen,
    um alle Liebesbedingungen, alle Phantasien ihrer Sexualsehn-
    sucht, alle Einzelcharaktere ihrer Verliebtheit zum Vorscheine
    zu bringen, und von diesen aus dann selbst den Weg zu den
    infantilen Begriindungen ihrer Liebe eröffnen.

    Bei einer Klasse von Frauen wird dieser Versuch, die
    Liebesübertragung für die analytische Arbeit zu erhalten,
    ohne sie zu befriedigen, allerdings nicht gelingen. Es sind
    das Frauen von elementarer Leidenschaftlichkeit, welche keine
    Surrogate verträgt, Naturkinder, die das Psychische nicht für
    das Materielle nehmen wollen, die nach des Dichters Worten
    nur zugänglich sind „für Suppenlogik mit Knödelargumen-
    ten.“ Bei diesen Personen steht man vor der Wahl: entweder
    Gegenliebe zeigen oder die volle Feindschaft des verschmäh-
    ten Weibes auf sich laden. In keinem von beiden Fällen kann
    man die Interessen der Kur wahrnehmen. Man muß sich er-
    folglos zurückziehen und kann sich etwa das Problem vor-
    halten, wie sich die Fähigkeit zur Neurose mit so unbeug-
    samer Liebesbedürftigkeit vereinigt.

  • S.

    496 Bemerkungen

    Die Art, wie man andere, minder gewalttåtige Verliebte
    allmählich zur analytischen Auffassung nötigt, dürfte sich
    vielen Analytikern in gleicher Weise ergeben haben. Man be-
    tont vor allem den unverkennbaren Anteil des Widerstandes
    an dieser „Liebe“. Eine wirkliche Verliebtheit würde die
    Patientin gefügig machen und ihre Bereitwilligkeit steigern,
    die Probleme ihres Falles zu lösen, bloß darum, weil der
    geliebte Mann es fordert. Eine solche würde gern den Weg
    über die Vollendung der Kur wählen, um sich dem Arzte
    wertvoll zu machen und die Realität vorzubereiten, in
    welcher die Liebesneigung ihren Platz finden könnte. Anstatt
    dessen zeige sich die Patientin eigensinnig und ungehorsam,
    habe alles Interesse für die Behandlung von sich geworfen
    und offenbar auch keine Achtung vor den tiefbegründeten
    Überzeugungen des Arztes. Sie produziere also einen Wider-
    stand in der Erscheinungsform der Verliebtheit und trage
    überdies kein Bedenken, ihn in die Situation der sogenannten
    »Zwickmiihle“ zu bringen. Denn wenn er ablehne, wozu
    seine Pflicht und sein Verständnis ihn nötigen, werde sie die
    Verschmähte spielen können und sich dann aus Rachsucht
    und Erbitterung der Heilung durch ihn entziehen, wie jetzt
    infolge der angeblichen Verliebtheit.

    Als zweites Argument gegen die Echtheit dieser Liebe führt
    man die Behauptung ein, daß dieselbe nicht einen einzigen
    neuen, aus der gegenwårtigen Situation entspringenden Zug
    an sich trage, sondern sich durchwegs aus Wiederholungen
    und Abklatschen friiherer, auch infantiler, Reaktionen zu-
    sammensetze. Man macht sich anheischig, dies durch die detail-
    lierte Analyse des Liebesverhaltens der Patientin zu erweisen.

    Wenn man zu diesen Argumenten noch das erforderliche
    Maß von Geduld hinzufiigt, gelingt es zumeist, die schwierige
    Situation zu überwinden und entweder mit einer ermäßigten
    oder mit der ,umgeworfenen” Verliebtheit die Arbeit fort-

  • S.

    über die Ubertragungsliebe 407

    zusetzen, deren Ziel dann die Aufdeckung der infantilen
    Objektwahl und der sie umspinnenden Phantasien ist. Ich
    möchte aber die erwähnten Argumente kritisch beleuchten und
    die Frage aufwerfen, ob wir mit ihnen der Patientin die
    Wahrheit sagen oder in unserer Notlage zu Verhehlungen und
    Entstellungen Zuflucht genommen haben. Mit anderen
    Worten: ist die in der analytischen Kur manifest werdende
    Verliebtheit wirklich keine reale zu nennen?

    Ich meine, wir haben der Patientin die Wahrheit gesagt,
    aber doch nicht die ganze, um das Ergebnis unbekiimmerte.
    Von unseren beiden Argumenten ist das erste das stirkere.
    Der Anteil des Widerstandes an der Ubertragungsliebe ist
    unbestreitbar und sehr beträchtlich. Aber der Widerstand hat
    diese Liebe doch nicht geschaffen, er findet sie vor, bedient
    sich ihrer und übertreibt ihre Auferungen. Die Echtheit des
    Phänomens wird auch durch den Widerstand nicht entkräftet.
    Unser zweites Argument ist weit schwächer; esist wahr, daß
    diese Verliebtheit aus Neuauflagen alter Züge besteht. und
    infantile Reaktionen wiederholt. Aber dies ist der wesent-
    liche Charakter jeder Verliebtheit. Es gibt keine, die nicht
    infantile Vorbilder wiederholt. Gerade das, was ihren zwang-
    haften, ans Pathologische mahnenden Charakter ausmacht,
    rührt von ihrer infantilen Bedingtheit her. Die Ubertragungs-
    liebe hat vielleicht einen Grad von Freiheit weniger als die
    im Leben vorkommende, normal genannte, läßt die Abhän-
    gigkeit von der infantilen Vorlage deutlicher erkennen, zeigt
    sich weniger schmiegsam und modifikationsfåhig, aber das ist
    auch alles und nicht das Wesentliche.

    Woran soll man die Echtheit einer Liebe sonst erkennen?
    An ihrer Leistungsfåhigkeit, ihrer Brauchbarkeit zur Durch-
    setzung des Liebeszieles? In diesem Punkte scheint die Uber-
    tragungsliebe hinter keiner anderen zurückzustehen; man hat
    den Eindruck, daß man alles von ihr erreichen könnte.

  • S.

    408 Bemerkungen

    Resiimieren wir also: Man hat kein Anrecht, der in der
    analytischen Behandlung zutage tretenden Verliebtheit den
    Charakter einer „echten“ Liebe abzustreiten. Wenn sie so
    wenig normal erscheint, so erklärt sich dies hinreichend aus
    dem Umstande, daß auch die sonstige Verliebtheit außerhalb
    der analytischen Kur eher an die abnormen als an die nor-
    malen seelischen Phänomene erinnert. Immerhin ist sie durch
    einige Züge ausgezeichnet, welche ihr eine besondere Stellung
    sichern. Sie ist 1.) durch die analytische Situation provoziert,
    2.) durch den diese Situation beherrschenden Widerstand in
    die Höhe getrieben, und 3.), sie entbehrt in hohem Grade der
    Rücksicht auf die Realität, sie ist unkluger, unbekiimmerrer
    um ihre Konsequenzen, verblendeter in der Schitzung der
    geliebten Person, als wir einer normalen Verliebtheit gerne
    zugestehen wollen. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß
    gerade diese von der Norm abweichenden Ziige das Wesent-
    liche einer Verliebtheit ausmachen.

    Für das Handeln des Arztes ist die erste der drei erwåhn-
    ten Eigenheiten der Ubertragungslicbe das Maßgebende. Er
    hat diese Verliebtheit durch die Einleitung der analytischen
    Behandlung zur Heilung der Neurose hervorgelockt; sie ist
    fiir ihn das unvermeidliche Ergebnis einer årztlichen Situa-
    tion, ähnlich wie die körperliche Entblófiung eines Kranken
    oder wie die Mitteilung eines lebenswichtigen Geheimnisses.
    Damit steht es fiir ihn fest, daß er keinen persönlichen Vor-
    teil aus ihr ziehen darf. Die Bereitwilligkeit der Patientin
    ändert nichts daran, wälzt nur die ganze Verantwortlichkeit
    auf seine eigene Person. Die Kranke war ja, wie er wissen
    muß, auf keinen anderen Mechanismus der Heilung vorbe-
    reitet. Nach glücklicher Überwindung aller Schwierigkeiten
    gesteht sie oft die Erwartungsphantasie ein, mit der sie in die
    Kur eingetreten war: Wenn sie sich brav benehme, werde sie
    am Ende durch die Zärtlichkeit des Arztes belohnt werden.

  • S.

    über die Übertragungsliebe 409

    Für den Arzt vereinigen sich nun ethische Motive mit den
    technischen, um ihn von der Liebesgewährung an die Kranke
    zurückzuhalten. Er muß das Ziel im Auge behalten, daß das
    in seiner Liebesfähigkeit durch infantile Fixierungen behin-
    derte Weib zur freien Verfügung über diese für sie unschätz-
    bar wichtige Funktion gelange, aber sie nicht in der Kur ver-
    ausgabe, sondern sie fiirs reale Leben bereithalte, wenn dessen
    Forderungen nach der Behandlung an sie herantreten. Er
    darf nicht die Szene des Hundewettrennens mit ihr auffiih-
    ren, bei dem ein Kranz von Wiirsten als Preis ausgesetzt ist,
    und das ein Spa&vogel verdirbt, indem er eine einzelne Wurst
    in die Rennbahn wirft. Uber die fallen die Hunde her und
    vergessen ans Wettrennen und an den in der Ferne winken-
    den Kranz für den Sieger. Ich will nicht behaupten, daß es
    dem Arzte immer leicht wird, sich innerhalb der ihm von
    Ethik und Technik vorgeschricbenen Schranken zu halten.
    Besonders der jiingere und noch nicht fest gebundene Mann
    mag die Aufgabe als eine harte empfinden. Unzweifelhaft ist
    die geschlechtliche Liebe einer der Hauptinhalte des Lebens
    und die Vereinigung seelischer und körperlicher Befriedigung
    im Liebesgenusse geradezu einer der Höhepunkte desselben.
    Alle Menschen bis auf wenige verschrobene Fanatiker wissen
    das und richten ihr Leben danach ein; nur in der Wissen-
    schaft ziert man sich, es zuzugestehen. Anderseits ist es eine
    peinliche Rolle für den Mann, den Abweisenden und Ver-
    sagenden zu spielen, wenn das Weib um Liebe wirbt, und
    von einer edlen Frau, die sich zu ihrer Leidenschaft bekennt,
    geht trotz Neurose und Widerstand ein unvergleichbarer
    Zauber aus. Nicht das grobsinnliche Verlangen der Patientin
    stellt die Versuchung her. Dies wirkt ja eher abstoßend
    und ruft alle Toleranz auf, um es als natürliches Phänomen.
    gelten zu lassen. Die feineren und zielgehemmten Wunsch-
    regungen des Weibes sind es vielleicht, die die Gefahr mit sich

  • S.

    410 Bemerkungen

    bringen, Technik und ärztliche Aufgabe über ein schönes
    Erlebnis zu vergessen.

    Und doch bleibt für den Analytiker das Nachgeben aus-
    geschlossen. So hoch er die Liebe schätzen mag, er muß es
    höher stellen, daß er die Gelegenheit hat, seine Patientin
    über eine entscheidende Stufe ihres Lebens zu heben. Sie hat
    von ihm die Überwindung des Lustprinzips zu lernen, den
    Verzicht auf eine naheliegende, aber sozial nicht eingeordnete
    Befriedigung zugunsten einer entfernteren, vielleicht über-
    haupt unsicheren, aber psychologisch wie sozial untadeligen.
    Zum Zwecke dieser Überwindung soll sie durch die Urzeiten
    ihrer seelischen Entwicklung durchgeführt werden und auf
    diesem Wege jenes Mehr von seelischer Freiheit erwerben,
    durch welches sich die bewußte Seelentätigkeit — im syste-
    matischen Sinne — von der unbewußten unterscheidet.

    Der analytische Psychotherapeut hat so einen dreifachen
    Kampf zu führen, in seinem Inneren gegen die Mächte,
    welche ihn von dem analytischen Niveau herabziehen möch-
    ten, außerhalb der Analyse gegen die Gegner, die ihm die
    Bedeutung der sexuellen Triebkräfte bestreiten und es ihm
    verwehren, sich ihrer in seiner wissenschaftlichen Technik
    zu bedienen, und in der Analyse gegen seine Patienten, die
    sich anfangs wie die Gegner gebärden, dann aber die sie be-
    herrschende Überschätzung des Sexuallebens kundgeben und
    den Arzt mit ihrer sozial ungebändigten Leidenschaftlichkeit
    gefangen nehmen wollen.

    Die Laien, von deren Einstellung zur Psychoanalyse ich
    eingangs sprach, werden gewiß auch diese Erörterungen über
    die Übertragungsliebe zum Anlasse nehmen, um die Aufmerk-
    samkeit der Welt auf die Gefährlichkeit dieser therapeuti-
    schen Methode zu lenken. Der Psychoanalytiker weiß, daß
    er mit den explosivsten Kräften arbeitet und derselben Vor-
    sicht und Gewissenhaftigkeit bedarf wie der Chemiker. Aber

  • S.

    über die Ubertragungsliebe 411

    wann ist dem Chemiker je die Beschiftigung mit den ob ihrer
    Wirkung unentbehrlichen Explosivstoffen wegen deren Ge-
    fährlichkeit untersagt worden? Es ist merkwürdig, daß sich
    die Psychoanalyse alle Lizenzen erst neu erobern muß, die
    anderen ärztlichen Tätigkeiten längst zugestanden sind. Ich
    bin gewiß nicht dafür, daß die harmlosen Behandlungsmetho-
    den aufgegeben werden sollen. Sie reichen für manche Fälle
    aus, und schließlich kann die menschliche Gesellschaft den
    furor sanandi ebensowenig brauchen wie irgend einen anderen
    Fanatismus. Aber es heißt die Psychoneurosen nach ihrer
    Herkunft und ihrer praktischen Bedeutung arg unterschätzen,
    wenn man glaubt, diese Affektionen müßten durch Opera-
    tionen mit harmlosen Mittelchen zu besiegen sein. Nein, im
    ärztlichen Handeln wird neben der medicina immer ein
    Raum bleiben für das ferrum und für das ignis, und so wird
    auch die kunstgerechte, unabgeschwächte Psychoanalyse nicht
    zu entbehren sein, die sich nicht scheut, die gefährlichsten
    seelischen Regungen zu handhaben und zum Wohle des
    Kranken zu meistern.

    WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN
    THERAPIE
    Rede auf dem V. Psydioanalytiscien Kongreß in Budapeft, Sept. 8
    Meine Herren Kollegen!

    Sie wissen, wir waren nie stolz auf die Vollständigkeit und
    Abgeschlossenheit unseres Wissens und Könnens; wir sind, wie
    früher so auch jetzt, immer bereit, die Unvollkommenheiten
    unserer. Erkenntnis zuzugeben, Neues dazuzulernen und an
    unserem Vorgehen abzuåndern, was sich durch Besseres er-
    setzen läßt. 5

    Da wir nun nach langen, schwer durchlebten Jahren der