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Es wird einen großen therapeutischen Fortschritt bedeuten, wenn
der Spezialarzt den mit einem nervósen Organleiden Behafteten
nicht mehr mit dem Bescheid entlassen wird: „Ihnen fehlt nichts;
es ist bloß nervös.“ Oder mit der nicht viel besseren Fortsetzung:
„Gehen Sie zum Nervenarzt, er wird Ihnen eine leichte Kalt-
wasserkur verordnen.“ Man wird gewiß auch eher vom Organ-
spezialisten verlangen dürfen, daß er die nerväsen Störungen seines
Gebietes verstehe und behandeln könne, als vom Nervenarzt, daß
er sich zum Universalspezialisten für alle Organe ausbilde, an denen
die Neurosen Symptome machen, Demnach ist vorauszusehen, daß
nur die Neurosen mit wesentlich psychischen Symptomen die
Domäne des Nervenarztes bleiben werden.Die Zeit ist dann hoffentlich nicht ferne, in welcher die Einsicht
allgemein wird, daß man keinerlei ncrvSse Störung verstehen und
behandeln kann, wenn man nicht die Gesichtspunkte, oft auch die
Technik der Psychoanalyse zu Hilfe nimmt. Diese Behauptung mag
heute wie eine anmaflende Übertreibung klingen; ich getraue mich
vorherzusagen, daß sie dazu bestimmt ist, ein Gemeinplatz zu
werden. Es wird aber ein bleibendes Verdienst des Autors dieser
Schrift sein, daß er diese Zeit nicht abgewartet hat, um die Psycho-
analyse in die Therapie der пегубзеп Leiden seines Spezialgebietes
einzulassen,BRIEF AN DR. FRIEDRICH S. KRAUSS
UBER DIE ANTHROPOPHYTEIA(1910)
Hochgeehrter Herr Doktor!
Sie haben mir die Frage gestellt, auf welchen wissenschaftlichen
Wert das Sammeln von erotischen Scherzen, Witzen, Schwänken
u. dgl. nach meiner Meinung Anspruch machen könne. Ich weiß,
daß Sie keineswegs daran irre geworden sind, eine solche Sammel-
tätigkeit rechtfertigen zu können; Sie wünschen bloß, daß ich vom
Standpunkte des Psychologen Zeugnis ablege für die Brauchbarkeir,
ja für die Unentbehrlichkeit eines solchen Materials.S.
Geleitworte 241
Ich möchte hier vor allem zwei Gesichtspunkte geltend machen.
Die erotischen Schnurren und Schwänke, die Sie in den Bänden der
Anthropophyteia gesammelt vorlegen, sind ja doch nur produziert
und weitererzåhlt worden, weil sie Erzåhlern wie Hórern Lust
bereitet haben. Es ist nicht schwer zu erraten, welche Komponenten
des so hoch zusammengesetzten Sexualtriebes dabei Befriedigung ge-
funden haben. Diese Geschichtchen geben uns direkte Auskunft
darüber, welche Partialtriebe der Sexualitit bei einer gewissen
Gruppe von Menschen als besonders tauglich zur Lustgewinnung
erhalten sind, und bestätigen so aufs schönste die Folgerungen, zu
denen die psychoanalytische Untersuchung neurotischer Personen
geführt hat. Gestatten Sie mir, auf das wichtigste Beispiel dieser
Art hinzuweisen. Die Psychoanalyse hat uns zur Behauptung ge-
nótigt, daß die Afterregion — normalerweise und auch bei nicht
perversen Individuen — der Sitz einer erogenen Empfindlichkeit
ist und sich in gewissen Stücken ganz wie ein Genitale benimmt.
Ärzte und Psychologen, denen man von einer Analerotik und dem
daraus entspringenden Analcharakter sprach, sind darüber im hellste
Entrüstung geraten. Die Anthropophyteia kommt hier der Psycho-
analyse zu Hilfe, indem sie zeigt, wie ganz allgemein die Menschen
mit Lustbetonung bei dieser Kórperregion, ihren Verrichtungen, ja
dem Produkt ihrer Funktion verweilen. Wire es anders, so müßten
alle diese Geschichten bei denen, die sie anhóren, Ekel erregen,
oder das Volk müßte in seiner ganzen Masse ,pervers“ sein
im Sinne einer moralisierenden Psychopathia sexualis. Es würde
nicht schwer fallen, auch an anderen Beispielen zu zeigen, wie
wertvoll das von den Autoren der Anthropophyteia gesammelte
Material für die sexualpsychologische Erkenntnis ist. Vielleicht wird
dessen Wert noch durch den Umstand erhöht, — der an und für
sich keinen Vorteil darstellt, — daß die Sammler von den theoreti-
schen Ergebnissen der Psychoanalyse nichts wissen und das Material
ohne leitende Gesichtspunkte zusammentragen.Ein anderer psychologischer Gewinn von mehr allgemeiner Natur
ergibt sich ganz speziell aus den eigentlichen erotischen Witzen,
wie aus den Witzen überhaupt. Ich habe in meiner Studie über den
Witz ausgeführt, daß die Aufdeckung des sonst verdringten Un-Freud, Kleine Schriften zur Sexualtheorie 16
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bewuften in der Menschenseele unter gewissen Veranstaltungen zu
einer Quelle von Lust und somit zu einer Technik der Witz-
bildung werden kann. Wir heißen heute in der Psychoanalyse ein
Gewebe von Vorstellungen mit dem daranhångenden Affekt einen
„Komplex“ und sind bereit zu behaupten, daß viele der ge-
schütztesten Witze ,Komplexwitze" sind, auch ihre be-
freiende und erheiternde Wirkung der geschickten Bloflegung von
sonst verdrängten Komplexen verdanken. Der Erweis dieses Satzes
an Beispielen würde an dieser Stelle zu weit führen, aber als das
Ergebnis einer solchen Untersuchung darf man es aussprechen, daß
die erotischen und anderen Witze, die im Volke umlaufen, vor-
treffliche Hilfsmittel zur Erforschung des unbewufiten Seclenlebens
der Menschen darstellen, ganz ähnlich wie die Träume und die
Mythen und Sagen, mit deren Verwertung sich die Psychoanalyse
schon jetzt beschäftigt.So darf man sich also der Hoffnung hingeben, daß der Wert des
Folklore fiir die Psyche immer deutlicher erkannt und dic Be-
ziehungen zwischen dieser Forschung und der Psychoanalyse sich
bald inniger gestalten werden.Ich bin, gechrter Herr Doktor, Ihr in besonderer Hochachtung
ergebener Freud.GELEITWORT
zu „Der Unrat in Sitte, Brandy, Glauben und Gewohnheitsrecht
der Völker“ von J. G. Bourke, verdeutscht und neubearbeitet von
Friedrich S. Krauß und H. Ihm (Beiwerke zum Studium der
Anthropophyteia, VT. Band), Leipzig 1913Als ich im Jahre 1885 als Schüler Charcots in Paris weilte,
zogen mich neben den Vorlesungen des Meisters die Demonstrationen
und Reden Brouardels am stärksten an, der uns an dem
Leichenmaterial der Morgue zu zeigen pflegte, wieviel es Wissens-
wertes für den Arzt gäbe, wovon doch die Wissenschaft keine Notiz
zu nchmen beliebte. Als er einmal die Kennzeichen erörterte, aus
denen man Stand, Charakter und Herkunft des namenlosen Leich-
nams erraten könne, hörte ich ihn sagen: „Les genous sales sont
freud-1931-sexualtheorie
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