Brief an Dr. Friedrich S. Krauss 1910-071/1931
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    Es wird einen großen therapeutischen Fortschritt bedeuten, wenn
    der Spezialarzt den mit einem nervósen Organleiden Behafteten
    nicht mehr mit dem Bescheid entlassen wird: „Ihnen fehlt nichts;
    es ist bloß nervös.“ Oder mit der nicht viel besseren Fortsetzung:
    „Gehen Sie zum Nervenarzt, er wird Ihnen eine leichte Kalt-
    wasserkur verordnen.“ Man wird gewiß auch eher vom Organ-
    spezialisten verlangen dürfen, daß er die nerväsen Störungen seines
    Gebietes verstehe und behandeln könne, als vom Nervenarzt, daß
    er sich zum Universalspezialisten für alle Organe ausbilde, an denen
    die Neurosen Symptome machen, Demnach ist vorauszusehen, daß
    nur die Neurosen mit wesentlich psychischen Symptomen die
    Domäne des Nervenarztes bleiben werden.

    Die Zeit ist dann hoffentlich nicht ferne, in welcher die Einsicht
    allgemein wird, daß man keinerlei ncrvSse Störung verstehen und
    behandeln kann, wenn man nicht die Gesichtspunkte, oft auch die
    Technik der Psychoanalyse zu Hilfe nimmt. Diese Behauptung mag
    heute wie eine anmaflende Übertreibung klingen; ich getraue mich
    vorherzusagen, daß sie dazu bestimmt ist, ein Gemeinplatz zu
    werden. Es wird aber ein bleibendes Verdienst des Autors dieser
    Schrift sein, daß er diese Zeit nicht abgewartet hat, um die Psycho-
    analyse in die Therapie der пегубзеп Leiden seines Spezialgebietes
    einzulassen,

    BRIEF AN DR. FRIEDRICH S. KRAUSS
    UBER DIE ANTHROPOPHYTEIA

    (1910)

    Hochgeehrter Herr Doktor!

    Sie haben mir die Frage gestellt, auf welchen wissenschaftlichen
    Wert das Sammeln von erotischen Scherzen, Witzen, Schwänken
    u. dgl. nach meiner Meinung Anspruch machen könne. Ich weiß,
    daß Sie keineswegs daran irre geworden sind, eine solche Sammel-
    tätigkeit rechtfertigen zu können; Sie wünschen bloß, daß ich vom
    Standpunkte des Psychologen Zeugnis ablege für die Brauchbarkeir,
    ja für die Unentbehrlichkeit eines solchen Materials.

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    Ich möchte hier vor allem zwei Gesichtspunkte geltend machen.
    Die erotischen Schnurren und Schwänke, die Sie in den Bänden der
    Anthropophyteia gesammelt vorlegen, sind ja doch nur produziert
    und weitererzåhlt worden, weil sie Erzåhlern wie Hórern Lust
    bereitet haben. Es ist nicht schwer zu erraten, welche Komponenten
    des so hoch zusammengesetzten Sexualtriebes dabei Befriedigung ge-
    funden haben. Diese Geschichtchen geben uns direkte Auskunft
    darüber, welche Partialtriebe der Sexualitit bei einer gewissen
    Gruppe von Menschen als besonders tauglich zur Lustgewinnung
    erhalten sind, und bestätigen so aufs schönste die Folgerungen, zu
    denen die psychoanalytische Untersuchung neurotischer Personen
    geführt hat. Gestatten Sie mir, auf das wichtigste Beispiel dieser
    Art hinzuweisen. Die Psychoanalyse hat uns zur Behauptung ge-
    nótigt, daß die Afterregion — normalerweise und auch bei nicht
    perversen Individuen — der Sitz einer erogenen Empfindlichkeit
    ist und sich in gewissen Stücken ganz wie ein Genitale benimmt.
    Ärzte und Psychologen, denen man von einer Analerotik und dem
    daraus entspringenden Analcharakter sprach, sind darüber im hellste
    Entrüstung geraten. Die Anthropophyteia kommt hier der Psycho-
    analyse zu Hilfe, indem sie zeigt, wie ganz allgemein die Menschen
    mit Lustbetonung bei dieser Kórperregion, ihren Verrichtungen, ja
    dem Produkt ihrer Funktion verweilen. Wire es anders, so müßten
    alle diese Geschichten bei denen, die sie anhóren, Ekel erregen,
    oder das Volk müßte in seiner ganzen Masse ,pervers“ sein
    im Sinne einer moralisierenden Psychopathia sexualis. Es würde
    nicht schwer fallen, auch an anderen Beispielen zu zeigen, wie
    wertvoll das von den Autoren der Anthropophyteia gesammelte
    Material für die sexualpsychologische Erkenntnis ist. Vielleicht wird
    dessen Wert noch durch den Umstand erhöht, — der an und für
    sich keinen Vorteil darstellt, — daß die Sammler von den theoreti-
    schen Ergebnissen der Psychoanalyse nichts wissen und das Material
    ohne leitende Gesichtspunkte zusammentragen.

    Ein anderer psychologischer Gewinn von mehr allgemeiner Natur
    ergibt sich ganz speziell aus den eigentlichen erotischen Witzen,
    wie aus den Witzen überhaupt. Ich habe in meiner Studie über den
    Witz ausgeführt, daß die Aufdeckung des sonst verdringten Un-

    Freud, Kleine Schriften zur Sexualtheorie 16

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    bewuften in der Menschenseele unter gewissen Veranstaltungen zu
    einer Quelle von Lust und somit zu einer Technik der Witz-
    bildung werden kann. Wir heißen heute in der Psychoanalyse ein
    Gewebe von Vorstellungen mit dem daranhångenden Affekt einen
    „Komplex“ und sind bereit zu behaupten, daß viele der ge-
    schütztesten Witze ,Komplexwitze" sind, auch ihre be-
    freiende und erheiternde Wirkung der geschickten Bloflegung von
    sonst verdrängten Komplexen verdanken. Der Erweis dieses Satzes
    an Beispielen würde an dieser Stelle zu weit führen, aber als das
    Ergebnis einer solchen Untersuchung darf man es aussprechen, daß
    die erotischen und anderen Witze, die im Volke umlaufen, vor-
    treffliche Hilfsmittel zur Erforschung des unbewufiten Seclenlebens
    der Menschen darstellen, ganz ähnlich wie die Träume und die
    Mythen und Sagen, mit deren Verwertung sich die Psychoanalyse
    schon jetzt beschäftigt.

    So darf man sich also der Hoffnung hingeben, daß der Wert des
    Folklore fiir die Psyche immer deutlicher erkannt und dic Be-
    ziehungen zwischen dieser Forschung und der Psychoanalyse sich
    bald inniger gestalten werden.

    Ich bin, gechrter Herr Doktor, Ihr in besonderer Hochachtung
    ergebener Freud.

    GELEITWORT

    zu „Der Unrat in Sitte, Brandy, Glauben und Gewohnheitsrecht

    der Völker“ von J. G. Bourke, verdeutscht und neubearbeitet von

    Friedrich S. Krauß und H. Ihm (Beiwerke zum Studium der
    Anthropophyteia, VT. Band), Leipzig 1913

    Als ich im Jahre 1885 als Schüler Charcots in Paris weilte,
    zogen mich neben den Vorlesungen des Meisters die Demonstrationen
    und Reden Brouardels am stärksten an, der uns an dem
    Leichenmaterial der Morgue zu zeigen pflegte, wieviel es Wissens-
    wertes für den Arzt gäbe, wovon doch die Wissenschaft keine Notiz
    zu nchmen beliebte. Als er einmal die Kennzeichen erörterte, aus
    denen man Stand, Charakter und Herkunft des namenlosen Leich-
    nams erraten könne, hörte ich ihn sagen: „Les genous sales sont