Charakter und Analerotik 1908-002/1912
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    IV.
    Charakter und Analerotikä.

    Unter den Personen, denen man durch psychoanalytische
    Bemühung Hilfe zu leisten sucht, begegnet man eigentlich recht
    häufig einem Typus, der durch das Zusammentreffen bestimmter
    Cheraktereigenschaften ausgezeichnet ist, während das Verhalten
    einer gewissen Körperfimktion und der an ihr beteiligten Organe
    in der Kindheit dieser Personen die Aufmerksamkeit auf sich
    zieht. Ich weiß heute nicht mehr anzugeben, aus welchen ein-
    zelnen Verenlassungen mir der Eindruck erwachs, daß zwischen
    jenem Charakter und diesem Organverhelten ein organischer
    Zusammenhang bestehe, aber ich kann versichern, daß theore-
    tische Erwartung keinen Anteil an diesem Eindrucke hatte.

    Infolge gehäufter Erfahrung hat sich der Glaube an solchen
    Zusammenhang bei mir so sehr verstärkt. daß ich von ihm Mit-

    teilung zu machen wege.
    ‘ Die Personen,_ die ich beschreiben will, fallen dadurch
    auf, daß sie in regelmäßiger Vereinigung die nachstehenden drei
    Eigenschaften zeigen: sie sind besonders ordentlich, Spar-
    sam und eigensinnig. Jedes dieser Worte deckt eigentlich
    eine kleine Gruppe oder Reihe von miteinander verwandten
    Charakterzügen. „Ordentlich“ begreift sowohl die körperliche
    Sauberkeit als auch Gewissenhaftigkeit in kleinen Pflichterfül-
    lungen und Verläßlichkeit; das Gegenteil davon wäre: unordent.
    lich, nachlässig. Die Sparsemkeit kann bis zum Geize gesteigert
    erscheinen; der Eigensinn geht in Trotz über, an den sich leicht

    ‘) Psychiatriseh-Neumlogische Wochenschfift, redigiert von Dr. Joh.
    Bresler, Lublinitz (Schlesien), IX. Jahrg., Nr. 52, 1908. ‘

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    Neigung zur Wut und Rachsucht knüpfen. Die beiden letzteren
    Eigenschaften — Sparsamkeit und Eigensinn — hängen fester
    miteinander als mit dem ersten, dem „ordentlich“, zusammen;
    sie sind auch das konstantere Stück des ganzen Komplexes,
    doch erscheint es mir unabweisbar, daß irgendwie alle drei zu-
    sammengehören. ‘

    Aus der Kleinkindergeschichte dieser Personen erfährt man
    leicht, daß sie verhältnismäßig lange dazu gebraucht haben, bis
    sie der infantilen incontinentia alvi Herr geworden sind, und
    daß sie vereinzeltes Mißglücken dieser Funktion noch in späteren
    Kinderjahren zu beklagen hatten. Sie scheinen zu jenen Säug-
    lingen gehört zu haben, die sich weigern, den Darm zu ent-
    leeren, wenn sie auf den Topf gesetzt werden, weil sie aus der
    Defalkation einen Lustnebengewinn beziehenl); denn sie geben
    an, daß es ihnen noch in etwas späteren Jahren Vergnügen be-
    reitet hat, den Stuhl zurückzuhalten, und erinnern, wenngleich
    eher und leichter von ihren Geschwistern als von der eigenen
    Person, allerlei unziemliche Beschäftigungen mit dem zutage
    geförderten Kate. Wir schließen aus diesen Anzeichen auf eine
    überdeutliche erogene Betonung der Afterzone in der von ihnen
    mitgebrachten Sexualkonstitution; da sich aber nach abgelaufener
    Kindheit bei diesen Personen nichts mehr von diesen Schwächen
    und Eigenheiten auffinden läßt, müssen wir annehmen, daß die
    Analzone ihre erogene Bedeutung im Laufe der Entwicklung
    eingebiißt hat, und vermuten dann, daß die Konstanz jener
    Trias von Eigenschaften in ihrem Charakter mit der Aufzehrung
    der Analerotik in Verbindung gebracht werden darf.

    Ich weiß, daß man sich nicht getraut, an einen Sachver-
    halt zu glauben, solange er unbegreiflich 'ersoheint, der Er-
    klärung nicht irgend eine Ankm'ipfung bietet. Wenigstens das
    Grundlegende desselben können wir nun unserem Verständnisse
    mit Hilfe der Voraussetzungen näher bringen, die in den „Drei
    Abhandlungen zur Sexualtheorie“ 1905 dargelegt sind. Ich suche
    dort zu zeigen, daß der Sexualtrieb des Menschen hoch zu—
    sammengesetzt ist, aus Beiträgen zahlreicher Komponenten und
    Partialtriebe entsteht. Wesentliche Beiträge zur „Sexualerregung“

    1) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. II, p. 41. 1905. (p. 46.
    2. Aufl. 1010.)

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    leisten die peripherischen Erregungen gewisser ausgezeichneter
    Körperstellen (Genitalien, Mund, After, Blasenausgang), welche
    den Namen „erogene Zonen“ verdienen. Die von diesen Stellen
    her eintreifenden Erregungsgrößen erfahren aber nicht alle und
    nicht zu jeder Lebenszeit das gleiche Schicksal. Allgemein ge-
    sprochen kommt nur ein Teil von ihnen dem Sexualleben zu-
    gute; ein anderer Teil wird von den sexuellen Zielen abgelenkt
    und auf andere Ziele gewendet, ein Prozeß, der den Namen
    „Sublimierung“verdient Um die Lebenszeit, welche als „sexuelle
    Latenzperiode“ bezeichnet werden darf, vom vollendeten vierten
    Jahre bis zu den ersten Äußerungen der Pubertät (ums elfte
    J ehr) werden sogar auf Kosten dieser von erogenen Zonen ge-
    lieferten Erregungen im Seelenleben Reaktionsbildungen, Gegen.
    mächte, geschaffen wie Scham, Ekel und Moral, die sich gleich-
    wie Dämme der späteren Betätigung der Sexuultriebe entgegen-
    setzen. Da nun die Analerotik zu jenen Komponenten des
    Triebes gehört, die im Laufe der Entwicklung und im Sinne
    unserer heutigen Kulturerziehung für sexuelle Zwecke unver-
    wendbar werden, läge es nahe, in den bei ehemaligen Anal-
    erotikern so häufig hervortretenden Charaktereigenschaften —
    Ordentliehkeit, Sparsamkeit und Eigensinn — die nächsten und
    konstantesten Ergebnisse der Sublimierung der Analerotik zu
    erkennen 1).

    1) Da gerade die Bemerkungen über die Anelerotik des Säuglings
    in den „Drei Abhandlungen zur Sexueltheorie“ bei unverständigen Lesern
    besonderen Anstoß erregt haben, gestatte ich mir an dieser Stelle “die Ein—
    schaltung einer Beobachtung, die ich einem sehr intelligenten Patienten
    verdanke: „Ein Bekannter, der die Abhandlung über „Sexuultheorie“ ge—
    lesen hat, spricht iiber das Buch, erkennt es vollkommen 811, nur eine
    Stelle darin sei ihm. —— obwohl er auch diese inhaltlich natürlich billige
    und begreife — so grobes]; und komisch vorgekommen, daß er Sich hingesetzf,
    und eine Viertelstumde darüber gelacht habe. Diese Stelle lautet: „Es ist
    eines der besten Vorzeichen späterer Absenderlichkeit ouäar Nervosität, wenn?
    . .‚ . . "'we' b,denpgrmzueneeren‚wennere
    321 S’llloläimggesililel'. Immall.s% Wfl.? es dem Pfleger beliebt, sondern diese
    Funktion seinem eigenen Belieben vorbehält. Es kommt ihm natürlich nicht
    darauf an, sein Lager schmutzig zu machen; er sorgt nur, daß ihm der
    Lustnebengewinn bei der Defä.kation nicht entgehe.“ Die Vorstellung dieses
    auf dem Top£e sitzenden Säuglinge, der überlege, ob er sich eine derartige
    Einschränkung seiner persönlichen Willensfreihe1t gefallen lassen solle, und

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    Die innere Notwendigkeit dieses Zusammenhanges ist mir
    natürlich selbst nicht durchsichtig, doch kann ich einiges an-
    führen, was als Hilfe für ein Verständnis desselben verwertet
    werden kann. Die Sauberkeit, Ordentlichkeit, Verläßlichkeit
    macht ganz den Eindruck einer Reaktionsbildung gegen das.
    Interesse am Unseuberen, Störenden, nicht zum Körper ge-
    hörigen („Dirt is matter in the wrong place“). Den Eigen-
    sinn mit dem Defäkationsinteresse in Beziehung zu bringen,
    scheint keine leichte Aufgabe, doch mag man sich daran erin-
    nern, daß schon der Säugling sich beim Absetzen des Stuhles
    eigenwillig benehmen kann (s. o.), und daß schmerzhafte Reize
    auf die mit der erogenen Afterzone verknüpfte Gesäßhaut all-
    gemein der Erziehung dazu dienen, den Eigensinn des Kindes
    zu brechen, es gefügig zu machen. Zum Ausdrucke des Trotzes
    und der trotzenden Verhöhnung wird bei uns immer noch wie
    in alter Zeit eine Aufforderung verwendet, die die Liebkosung
    der Afterzone zum Inhalte hat, also eigentlich eine von der

    der außerdem sorge, daß ihm der Lustgewinn bei der Deiäkation nicht
    entgehe, habe seine ausgiebige Heiterkeit erregt. —— Etwa zwanzig Minuten
    später, bei der Jause, beginnt mein Bekannter plötzlich gänzlich unvermit—
    telt: „Du, mir fällt da gerade, weil ich den Kakao vor mir sehe, eine Idee
    ein, die ich als Kind immer gehabt habe. Da. habe ich mir immer vorge—
    stellt, ich bin der Kakaofabrikant Van Houten (er sprach „Van Hauten"
    aus), und. ich habe ein großartiges Geheimnis zur Bereitnng dieses Kakaoe,
    und nun bemühen sich alle Leute, mir dieses mltbegliiokende Geheimnis
    zu entreißen, das ich sorgsam hüte. Warum ich gerade auf Van Routen
    verfallen bin, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat mir seine Reklame am
    meisten imponiert.“ Lechend, und ohne noch eigentlich so recht eine tiefere
    Absicht damit zu verbinden, meinte ich: „Wenn haut’n die Mutter?!“
    Erst eine Weile später erkannte ich, daß mein Wortwitz tatsächlich den
    ‚ Schlüssel zu dieser ganzen, plötzlich aufgeteuchten Kindheitserinnerung
    enthielt, die ich nun als glänzendes Beispiel einer Deckphantasie begriff.
    welche unter Beibehaltung des eigentlich Tatsächlichen (Nahnmgsprozeß)
    und auf Grund phonetischer Assoziationen („Kakao“, „Wann haut'n —“)
    das Schuldbewußtsein durch eine komplete Umwertung des Er-
    innerungsinhaltes beruhigt. (Verlegung von rückMirts nach vorne, Nahrungs-
    a.bgabe wird zur Nahrungsaufnahme, der beschämende und zu verdeckende
    Inhalt zum weltbeglückenden Geheimnisse.) Interessant war mir, wie hier
    auf eine Abwehr hin, die freilich die mildere Form formaler Beanstandung
    annehm, dem Betreffenden ohne seinen Willen eine Viertelstunde später der
    schlagendste Beweis aus dem eigenen Unbewußten heraufgereicht wurde.“

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    Verdrängung betroffene Zärtlichkeit bezeichnet. Die Entblößung
    des Hintern stellt die Abschwächung dieser Rede zur Geste
    dar; in Goethes Götz von Berlichingen finden sich beide,
    Rede wie Geste, an passendster Stelle als Ausdruck des Trotzes
    angebracht. ‚

    Am ausgiebigsten erscheinen die Beziehungen, welche sich
    zwischen den anscheinend so disparaten Komplexen des Geld-
    interesses und der Detäkation ergeben. Jedem Arzte, der die
    Psychoanalyse geübt hat, ist es wohl bekannt geworden, daß
    sich auf diesem Wege die hartnäckigsten und langdauerndsten
    sogenannten habituellen Stuhlverstopfungen Nervöser beseitigen
    lassen. Das Erstaunen hierüber wird durch die Erinnerung ge-
    mäßigt, daß diese Funktion sich ähnlich gefügig auch gegen
    die hypnotische Suggestion erwiesen hat. In der Psychoanalyse
    erzielt man diese Wirkung aber nur dann, Wenn man den Geld.
    komplex der Betreifenden berührt und sie veranlaßt, denselben .
    mit all seinen Beziehungen zum Bewußtsein zu bringen. Man
    könnte meinen, daß die Neurose hierbei nur einem Winke des
    Sprachgebrauches folgt, der eine Person, die das Geld allzu
    ängetlich zurückhält, „schmutzig“ oder „filzig“ (englisch:
    filthy = schmutzig) nennt. Allein dieses wäre eine allzu ober-
    flächliche Würdigung. In Wahrheit ist überall, wo die archaische
    Denkweise herrschend war oder geblieben ist, in den alten
    Kulturen, im Mythus, Märchen, Aberglauben, im unbewußten
    Denken, im Traume und in der Neurose das Geld in innigste
    Beziehungen zum Drecke gebracht. Es ist bekannt, daß das
    Gold, welches der Teufel seinen Buhlen schenkt, sich nach
    seinem Weggehen in Dreck verwandelt, und der Teufel ist doch
    gewiß nichts anderes als die Personifikation des verdrängten
    unbewußten Trieblebensl). Bekannt ist ferner der Aberglaube,
    der die Auffindung von Schätzen mit der Defäkation zusammen-
    bringt, und jedermann vertraut ist die Figur des „Dukaten-
    scheißers“. Ja, schon in der altbabylonischen Lehre ist Gold
    der Kat der Hölle, Mammon = ilu manman“). Wenn also die

    1) Vgl. die hysterische Beseesenheit und die dämonischen Epidemien.
    “) Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des alten
    Orients, 2. Aufl., 1906, p. 216, und Babylonieches im Neuen Testa-
    ment, 1906, p. 96. „Mamon (Mammon) ist babylonisch man-man. ein Bei-

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    Neurose dem Sprachgebrauche folgt, so nimmt sie hier wie
    anderwä.rts die Worte in ihrem ursprünglichen bedeutungsvollen
    Sinne, und wo sie ein Wort bildlich darzustellen scheint, stellt
    sie in der Regel nur die alte Bedeutung des Wortes wieder her.

    Es ist möglich, daß der Gegensatz zwischen dem Wert-
    vollsten, das der Mensch kennen gelernt hat, und dem Wert-
    losesten, das er als Abfall („refuse“) von sich wirft, zu dieser
    bedingten Identifizierung von Gold und Kot geführt hat.

    Im Denken der N eurose kommt dieser Gleichstellung wohl
    noch ein anderer Umstand zu Hilfe. Das ursprüngliche erotische
    Interesse an der Defäkation ist, wie wir ja. wissen, zum Er-
    löschen in reiferen Jahren bestimmt; in diesen Jahren tritt das
    Interesse am Gelde als ein neues auf, welches der Kindheit
    noch gefehlt hat; dadurch wird es erleichtert, daß die frühere
    Strebung, die ihr Ziel zu verlieren im Begriffe ist, auf das neu
    auftauchende Ziel übergeleitet wird.

    Wenn den hier behaupteten Beziehungen zwischen der
    Analerotik und jener Trias von Cheraktereigenschaften etwas
    Tatsächliohes zugrunde liegt, so wird man keine besondere Aus-
    prägung des „Analcharakters“ bei Personen erwarten dürfen,
    die sich die erogene Eignung der Analzone für das reife Leben
    bewahrt haben, wie z. B. gewisse Homosexuelle. Wenn ich nicht
    sehr irre, befindet sich die Erfahrung zumeist in guter Über-
    einstimmung mit diesem Schlusse.

    Man müßte überhaupt in Erwägung ziehen, ob nicht auch
    andere Charakterkomplexe ihre Zugehörigkeit zu den Erregungen
    von bestimmten erogenen Zonen erkennen lassen. Ich kenne bis
    jetzt nur noch den unmäßigen „brennenden“ Ehrgeiz der ein-
    stigen Enuretiker. Fiir die Bildung des endgültigen Charakters
    aus den konstitutiven Trieben läßt sich allerdings eine Formel
    angeben: Die bleibenden Charakterzüge sind entweder unver-
    änderte Fortsetzunan der ursprünglichen Triebe, Subh'mierungen
    derselben oder Reaktionsbildungen gegen dieselben.

    name Nergels, des Gottes der Unterwelt. Das Gold ist nach orientalischem
    Mythus, der in die Segen und Märchen der Völker übergegangen ist. Dreck
    der Hölle, siehe Monotheistische Strömungen innerhalb der bab.
    Reh, S. 16, Anm. 1.