Das Medusenhaupt 1922-101/1922.01
  • S.

    Das Medusenhaupt.

    Die Deutung einzelner mythologischer Gebilde ist von
    uns nicht oft versucht worden. Sie liegt für
    das abgeschnittene, Grauen erweckende Haupt
    der Meduse nahe.

    Kopfabschneiden = Kastriren. Der Schreck der
    Meduse ist also Kastrationsschreck, der an
    einen Anblick geknüpft ist. Aus zahlreichen
    Analysen kennen wir diesen Anlaß, er
    ergiebt sich, wenn der Knabe, der bisher
    nicht an die Drohung glauben wollte, ein
    weibliches Genitale erblickt. Wahrschein-
    lich ein erwachsenes, von Haaren umsäumtes,
    im Grunde das der Mutter.

    Wenn die Haare des Medusenhauptes von
    der Kunst so oft als Schlangen gebildet
    werden, so stam̄en diese wieder aus dem
    Kastrationskomplex und merkwürdig, so
    schrecklich sie an sich wirken, dienen sie
    doch eigentlich der Milderung des Grauen 
    denn sie ersetzen den Penis, dessen Fehlen
    die Ursache des Grauens ist. – Eine technische
    Regel: Vervielfältigung der Penissym-
    bole bedeutet Kastration, ist hier
    bestätigt.

    Der Anblick des Medusenhaupts macht starr
    vor Schreck, verwandelt den Beschauer
    in [xxx] Stein. Dieselbe Abkunft aus dem
    Kastrationskomplex und derselbe Affekt-
    wandel! Denn das Starrwerden bedeutet
    die Erektion, also in der ursprünglichen
    Situation den Trost des Beschauers. Er
    hat noch einen Penis, versichert sich desselben
    durch sein Starrwerden.

    Dies Symbol des Grauens trägt die jungfräu-
    liche Göttin Athene an ihrem Gewand.
    Mit Recht, sie wird dadurch zum un-
    nahbaren, jedes sexuelle Gelüste abwehrenden
    Weib. Sie trägt doch das erschreckende
    Genitale der Mutter zur Schau. Den
    durchgängig stark homosexuellen Griechen
    konnte die Darstellung des durch seine
    Kastration abschreckenden Weibes
    nicht fehlen.

     

  • S.

    Wenn das Medusenhaupt die Darstellung des
    weiblichen Genitales ersetzt, vielmehr dessen
    grauenerregende Wirkung von seiner 
    lusterregenden isolirt, so kann man sich
    erinnern, dass das Zeigen der Genitalien
    auch sonst als apotropaeische Handlung be-
    kannt ist. Was einem selbst Grauen erregt
    wird auch auf den abzuwehrenden Feind
    dieselbe Wirkung äußern. Noch bei Rabelais
    ergreift der Teufel die Flucht, nachdem
    ihm das Weib ihre Vulva gezeigt hat.

    Auch das erigirte männliche Glied
    dient als Apotropaeon, aber in kraft
    eines anderen Mechanismus. Das Zeigen
    des Penis  – und all seine Surrogate – 
    will sagen „Ich fürchte mich nicht vor dir,
    ich trotze dir, ich habe einen Penis." Das ist
    also ein anderer Weg zur Einschüchterung
    des bösen Geistes.

    Um nun diese Deutung ernstlich zu ver-
    treten, müßte man der Genese dieses
    isolirten Symbols des Grauens in der Mythologie
    der Griechen und seinen Parallelen in
    anderen Mythologien nachgehen.

    Freud

    14.5.22.