Das Motiv der Kästchenwahl 1913-007/1924.2
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    DAS MOTIV DER KASTCHENWAHL

    Zuerst erschienen in Imago, Bd. II (1913),
    dann in der Vierten Folge der „Sammlung kleiner
    Schriften zur Neurosenlehre“.

    I

    Zwei Szenen aus Shakespeare, eine heitere und tragische, haben
    mir kiirzlich den AnlaB zu einer kleinen Problemstellung und
    Lösung gegeben.

    Die heitere ist die Wahl der Freier zwischen drei Kästchen
    im „Kaufmann von Venedig". Die schöne und kluge Porzia ist
    durch den Willen ihres Vaters gebunden, nur den von ihren
    Bewerbern zum Manne zu nehmen, der von drei ihm vorgelegten
    Kästchen das richtige wählt. Die drei Kästchen sind von Gold,
    von Silber und von Blei; das richtige ist jenes, welches ihr Bildnis
    einschließt. Zwei Bewerber sind bereits erfolglos abgezogen, sie
    hatten Gold und Silber gewählt. Bassanio, der dritte, entscheidet
    sich für das Blei; er gewinnt damit die Braut, deren Neigung
    ihm bereits vor der Schicksalsprobe gehört hat. Jeder der Freier
    hatte seine Entscheidung durch eine Rede motiviert, in welcher
    er das von ihm bevorzugte Metall anpries, während er die beiden
    anderen herabsetzte. Die schwerste Aufgabe war dabei dem glück-
    lichen dritten Freier zugefallen; was er zur Verherrlichung des
    Bleis gegen Gold und Silber sagen kann, ist wenig und klingt
    gezwungen. Stünden wir in der psychoanalytischen Praxis vor

    16%

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    244 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    solcher Rede, so würden wir hinter der unbefriedigenden Begrün-
    dung geheimgehaltene Motive wittern.

    Shakespeare hat das Orakel der Kästchenwahl nicht selbst
    erfunden, er nahm es aus einer Erzählung der „Gesta Roma-
    norum“, in welcher ein Mädchen dieselbe Wahl vornimmt, um
    den Sohn des Kaisers zu gewinnen.‘ Auch hier ist das dritte
    Metall, das Blei, das Glückbringende. Es ist nicht schwer zu er-
    raten, daß hier ein altes Motiv vorliegt, welches nach Deutung,
    Ableitung und Zurückführung verlangt. Eine erste Vermutung, was
    wohl die Wahl zwischen Gold, Silber und Blei bedeuten möge,
    findet bald Bestätigung durch eine Äußerung von Ed. Stucken,
    der sich in weitausgreifendem Zusammenhang mit dem nämlichen
    Stoffe beschäftigt. Er sagt: „Wer die drei Freier Porzias sind, er-
    hellt aus dem, was sie wählen: Der Prinz von Marokko wählt
    den goldenen Kasten: er ist die Sonne; der Prinz von Arragon
    wählt den silbernen Kasten: er ist der Mond; Bassanio wählt den
    bleiernen Kasten: er ist der Sternenknabe.“ Zur Unterstützung
    dieser Deutung zitiert er eine Episode aus dem estnischen Volks-
    epos Kalewipoeg, in welcher die drei Freier unverkleidet als
    Sonnen-, Mond- und Sternenjüngling („des Polarsterns ältestes
    Söhnchen“) auftreten und die Braut wiederum dem Dritten zu-
    fällt.

    So führte also unser kleines Problem auf einen Astralmythus!
    Nur schade, daß wir mit dieser Aufklärung nicht zu Ende ge-
    kommen sind. Das Fragen setzt sich weiter fort, denn wir glauben
    nicht mit manchen Mythenforschern, daß die Mythen vom Himmel
    herabgelesen worden sind, vielmehr urteilen wir mit O. Rank
    daß sie auf den Himmel projiziert wurden, nachdem sie anderswo
    unter rein menschlichen Bedingungen entstanden waren. Diesem
    menschlichen Inhalte gilt aber unser Interesse,

    1) G. Brandes, William Shakespeare, 1896.
    2) Ed. Stucken, Astralmythen, p. 655, Leipzig 1907.
    3) O. Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden, 1909, р. 8 ff.

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    Das Motiv der Kastchenwahi 245

    Fassen wir unseren Stoff nochmals ins Auge. Im estnischen
    Epos wie in der Erzählung der Gesta Romanorum handelt es sich
    um die Wahl eines Mädchens zwischen drei Freiern, in der Szene
    des „Kaufmann von Venedig” anscheinend um das nåmliche, aber
    gleichzeitig tritt an dieser letzten Stelle etwas wie eine Umkeh-
    rung des Motivs auf: Ein Mann wählt zwischen drei — Kästchen.
    Wenn wir es mit einem Traum zu tun hätten, würden wir so-
    fort daran denken, daß die Kästchen auch Frauen sind, Symbole
    des Wesentlichen an der Frau und darum der Frau selbst, wie
    Biichsen, Dosen, Schachteln, Körbe usw. Gestatten wir uns eine solche
    symbolische Ersetzung auch beim Mythus anzunehmen, so wird
    ie Kästchenszene im „Kaufmann von Venedig“ wirklich zur
    Umkehrung, die wir vermutet haben. Mit einem Rucke, wie er
    sonst nur im Märchen beschrieben wird, haben wir unserem
    Thema das astrale Gewand abgestreift und sehen nun, es behan-
    elt ein menschliches Motiv, die Wahl eines Mannes zwischen
    drei Frauen.

    Dasselbe ist aber der Inhalt einer anderen Szene Shakespeares
    in einem der erschiitterndsten seiner Dramen, keine Brautwahl

    iesmal, aber doch durch so viel geheime Ähnlichkeiten mit der
    Kåstchenwahl im „Kaufmann“ verknüpft. Der alte Konig Lear
    beschließt, noch bei Lebzeiten sein Reich unter seine drei Töchter
    zu verteilen, je nach Maßgabe der Liebe, die sie fiir ihn äußern.
    Die beiden älteren, Goneril und Regan, erschäpfen sich in Be-
    teuerungen und Anpreisungen ihrer Liebe, die dritte, Cordelia,
    weigert sich dessen. Er hitte diese unscheinbare, wortlose Liebe
    der Dritten erkennen und belohnen sollen, aber er verkennt sie,
    verstößt Cordelia und teilt das Reich unter die beiden anderen,
    zu seinem und aller Unheil. Ist das nicht wieder eine Szene der
    Wahl zwischen drei Frauen, von denen die jüngste die beste, die
    vorziiglichste ist?

    Sofort fallen uns nun aus Mythus, Märchen und Dichtung
    andere Szenen ein, welche die nåmliche Situation zum Inhalte

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    246 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    haben: Der Hirte Paris hat die Wahl zwischen drei Góttinnen,
    von denen er die dritte zur Schönsten erklärt. Aschenputtel ist
    eine ebensolche Jüngste, die der Kónigssohn den beiden Älteren
    vorzieht, Psyche im Märchen des Apulejus ist die jüngste und
    schönste von drei Schwestern, Psyche, die einerseits als menschlich
    gewordene Aphrodite verehrt wird, anderseits von dieser Göttin
    behandelt wird wie Aschenputtel von ihrer Stiefmutter, einen
    vermischten Haufen von Samenkórnern schlichten soll und es
    mit Hilfe von kleinen Tieren (Tauben bei Aschenputtel, Ameisen
    bei Psyche) zustandebringt. Wer sich weiter im Materiale umsehen
    wollte, wiirde gewiB noch andere Gestaltungen desselben Motivs
    mit Erhaltung derselben wesentlichen Züge auffinden können.

    Begnügen wir uns mit Cordelia, Aphrodite, Aschenputtel und
    Psyche! Die drei Frauen, von denen die dritte die vorzüglichste
    ist, sind wohl als irgendwie gleichartig aufzufassen, wenn sie als
    Schwestern vorgeführt werden. Es soll uns nicht irre machen,
    wenn es bei Lear die drei Töchter des Wählenden sind, das be-
    deutet vielleicht nichts anderes, als daß Lear als alter Mann dar-
    gestellt werden soll. Den alten Mann kann man nicht leicht
    anders zwischen drei Frauen wählen lassen; darum werden diese
    zu seinen Töchtern.

    Wer sind aber diese drei Schwestern und warum muß die
    Wahl auf die dritte fallen? Wenn wir diese Frage beantworten
    könnten, wären wir im Besitze der gesuchten Deutung. Nun
    haben wir uns bereits einmal der Anwendung psychoanalytischer
    Techniken bedient, als wir uns die drei Kästchen symbolisch als
    drei Frauen aufklärten. Haben wir den Mut, ein solches Ver-
    fahren fortzusetzen, so betreten wir einen Weg, der zunächst ins
    Unvorhergesehene, Unbegreifliche, auf Umwegen vielleicht zu
    einem Ziele führt.

    Es darf uns auffallen, daß jene vorzügliche Dritte in mehreren
    Fällen außer ihrer Schönheit noch gewisse Besonderheiten hat.

    1) Den Hinweis auf diese Ubereinstimmungen verdanke ich Dr. O. Rank.

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    Das Motiv der Kästchenwahl 247

    Es sind Eigenschaften, die nach irgend einer Einheit zu streben
    scheinen; wir dürfen gewiß nicht erwarten, sie in allen Beispielen
    gleich gut ausgeprägt zu finden. Cordelia macht sich unkenntlich,
    unscheinbar wie das Blei, sie bleibt stumm, sie „liebt und schweigt“.
    Aschenputtel verbirgt sich, so daß sie nicht aufzufinden ist. Wir
    dürfen vielleicht das Sichverbergen dem Verstummen gleichsetzen.
    Dies wären allerdings nur zwei Fälle von den fünf, die wir her-
    ausgesucht haben. Aber eine Andeutung davon findet sich merk-
    würdigerweise auch noch bei zwei anderen. Wir haben uns ja
    entschlossen, die widerspenstig ablehnende Cordelia dem Blei zu
    vergleichen. Von diesem heißt es in der kurzen Rede des Bassanio
    während der Kästchenwahl, eigentlich so ganz unvermittelt:

    Thy paleness moves me more than eloquence
    (plainness nach anderer Leseart).

    Also: Deine Schlichtheit geht mir näher als der beiden anderen
    schreiendes Wesen. Gold und Silber sind „laut“, das Blei ist
    stumm, wirklich wie Cordelia, die „liebt und schweigt“.*

    In den altgriechischen Erzühlungen des Parisurteils ist von einer
    solchen Zurückhaltung der Aphrodite nichts enthalten. Jede der
    drei Géttinnen spricht zu dem Jüngling und sucht ihn durch
    VerheiBungen zu gewinnen. Aber in einer ganz modernen Be-
    arbeitung derselben Szene kommt der uns auffällig gewordene
    Zug der Dritten sonderbarerweise wieder zum Vorscheine. Im
    Libretto der „Schönen Helena“ erzählt Paris, nachdem er von
    den Werbungen der beiden anderen Góttinnen berichtet, wie sich
    Aphrodite in diesem Wettkampfe um den Schónheitspreis be-

    nommen: . y .. i
    Und die Dritte — ja die Dritte —

    Stand daneben und blieb stumm.

    Ihr mußt’ ich den Apfel geben usw.

    1) In der Schlegelschen Übersetzung geht diese Anspielung ganz verloren, ja
    sie wird zur Gegenseite gewendet:

    Dein schlichtes Wesen spricht beredt mich an.

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    248 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    EntschlieBen wir uns, die Figentiimlichkeiten unserer Dritten
    in der „Stummheit“ konzentriert zu sehen, so sagt uns die Psycho-
    analyse: Stummheit ist im Traume eine gebräuchliche Darstellung
    des Todes.

    Vor mehr als zehn Jahren teilte mir ein hochintelligenter Mann
    einen Traum mit, den er als Beweis fiir die telepathische Natur
    der Träume verwerten wollte. Er sah einen abwesenden Freund,
    von dem er iiberlange keine Nachricht erhalten hatte, und machte ihm
    eindringliche Vorwürfe über sein Stillschweigen. Der Freund gab
    keine Antwort, Es stellte sich dann heraus, daB er ungefåhr um
    die Zeit dieses Traumes durch Selbstmord geendet hatte. Lassen
    wir das Problem der Telepathie beiseite; daB die Stummheit im
    Traume zur Darstellung des Todes wird, scheint hier nicht zweifel-
    haft. Auch das Sichverbergen, Unauffindbarsein, wie es der Mårchen-
    prinz dreimal beim Aschenputtel erlebt, ist im Traume ein un-
    verkennbares Todessymbol; nicht minder die auffällige Blässe, an
    welche die paleness des Bleis in der einen Leseart des Shake-
    speareschen Textes erinnert.” Die Übertragung dieser Deutungen
    aus der Sprache des Traumes auf die Ausdrucksweise des uns
    beschäftigenden Mythus wird uns aber wesentlich erleichtert, wenn
    wir wahrscheinlich machen können, daß die Stummheit auch in
    anderen Produktionen, die nicht Träume sind, als Zeichen des
    Totseins gedeutet werden muß.

    Ich greife hier das neunte der Grimmschen Volksmärchen
    heraus, welches die Überschrift hat: „Die zwölf Brüder.“5 Ein
    König und eine Königin hatten zwölf Kinder, lauter Buben. Da
    sagte der König, wenn das dreizehnte Kind ein Mädchen ist,
    müssen die Buben sterben. In Erwartung dieser Geburt läßt er
    zwölf Särge machen. Die zwölf Söhne flüchten sich mit Hilfe der

    1) Auch in Stekels „Sprache des Traumes“, 1911, unter den Todessymbolen
    angeführt (S. 351).

    2) Stekel, 1. c.

    3) S. 50 der Reklamausgabe, I. Bd,

  • S.

    Das Motiv der Kästchenwahl 249

    Mutter in einen versteckten Wald und schwören jedem Mädchen
    den Tod, das sie begegnen sollten. ||

    Ein Mädchen wird geboren, wächst heran und erfährt einmal
    von der Mutter, daß es zwölf Brüder gehabt hat. Es beschließt
    sie aufzusuchen, und findet im Walde den Jüngsten, der sie er-
    kennt, aber verbergen möchte wegen des Eides der Brüder. Die
    Schwester sagt: Ich will gerne sterben, wenn ich damit meine
    zwölf Brüder erlösen kann. Die Brüder nehmen sie aber herzlich
    auf, sie bleibt bei ihnen und besorgt ihnen das Haus,

    In einem kleinen Garten bei dem Hause wachsen zwölf Lilien-
    blumen; die bricht das Mädchen ab, um jedem Bruder eine zu
    schenken. In diesem Augenblicke werden die Brüder in Raben
    verwandelt und verschwinden mit Haus und Garten. — Die
    Raben sind Seelenvögel, die Tötung der zwölf Brüder durch ihre
    Schwester wird durch das Abpflücken der Blumen von neuem
    dargestellt wie zu Eingang durch die Särge und das Verschwinden
    der Brüder. Das Mädchen, das wiederum bereit ist, seine Brüder
    vom Tode zu erlösen, erfährt nun als Bedingung, daß sie sieben
    Jahre stumm sein, kein einziges Wort sprechen darf. Sie unter-
    zieht sich dieser Probe, durch die sie selbst in Lebensgefahr gerät,
    d. h. sie stirbt selbst für die Brüder, wie sie es vor dem Zusam-
    mentreffen mit den Brüdern gelobt hat. Durch die Einhaltung
    der Stummheit gelingt ihr endlich die Erlösung der Raben.

    Ganz ähnlich werden im Märchen von den „sechs Schwänen“
    die in Vögel verwandelten Brüder durch die Stummheit der
    Schwester erlöst, d. h. wiederbelebt. Das Mädchen hat den festen
    EntschluB gefaßt, seine Brüder zu erlösen, und „wenn es auch
    sein Leben kostete“ und bringt als Gemahlin des Königs wiederum
    ihr eigenes Leben in Gefahr, weil sie gegen böse Anklagen ihre
    Stummheit nicht aufgeben will.

    Wir würden sicherlich aus den Märchen noch andere Beweise
    erbringen können, daß die Stummheit als Darstellung des Todes
    verstanden werden muß. Wenn wir diesen Anzeichen folgen

  • S.

    250 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    dürfen, so wire die dritte unserer Schwestern, zwischen denen
    die Wahl stattfindet, eine Tote. Sie kann aber auch etwas anderes
    sein, nämlich der Tod selbst, die Todesgättin. Vermöge einer gar
    nicht seltenen Verschiebung werden die Eigenschaften, die eine
    Gottheit den Menschen zuteilt, ihr selbst zugeschrieben. Am we-
    nigsten wird uns solche Verschiebung bei der Todesgóttin befremden,
    denn in der modernen Auffassung und Darstellung, die hier vor-
    weggenommen würde, ist der Tod selbst nur ein Toter. :

    Wenn aber die dritte der Schwestern die Todesgöttin ist, so
    kennen wir die Schwestern. Es sind die Schicksalsschwestern, die
    Moiren oder Parzen oder Nornen, deren dritte Atropos heißt:
    die Unerbittliche.

    II

    Stellen wir die Sorge, wie die gefundene Deutung in unseren
    Mythus einzufügen ist, einstweilen beiseite, und holen wir uns bei
    den Mythologen Belehrung über Rolle und Herkunft der Schick-
    salsgóttinnen.”

    Die álteste griechische Mythologie kennt nur eine Moiga als
    Personifikation des unentrinnbaren Schicksals (bei Homer). Die
    Fortentwicklung dieser einen Moira zu einem Schwesterverein von
    drei (seltener zwei) Gottheiten erfolgte wahrscheinlich in Anleh-
    nung an andere Gottergestalten, denen die Moiren nahestehen,
    die Chariten und die Horen.

    Die Horen sind urspriinglich Gottheiten der himmlischen Ge-
    wässer, die Regen und Tau spenden, der Wolken, aus denen der
    Regen niederfillt, und da diese Wolken als Gespinst erfaBt werden,
    ergibt sich fiir diese Gøttinnen der Charakter der Spinnerinnen,
    der dann an den Moiren fixiert wird. In den von der Sonne
    verwóhnten Mittelmeerlindern ist es der Regen, von dem die
    Fruchtbarkeit des Bodens abhångig wird, und darum wandeln
    sich die Horen zu Vegetationsgottheiten. Man dankt ihnen die

    1) Das folgende nach Roschers Lexikon der griechischen und römischen Mytho-
    logie unter den entsprechenden Titeln.

  • S.

    Das Motiv der Kästchenwahl 251

    Schönheit der Blumen und den Reichtum der Früchte, stattet sie
    mit einer Fülle von liebenswürdigen und anmutigen Zügen aus.
    Sie werden zu den göttlichen Vertreterinnen der Jahreszeiten und
    erwerben vielleicht durch diese Beziehung ihre Dreizahl, wenn
    die heilige Natur der Drei zu deren Aufklärung nicht genügen
    sollte. Denn diese alten Völker unterschieden zuerst nur drei
    Jahreszeiten: Winter, Frühling und Sommer. Der Herbst kam
    erst in späten griechisch-römischen Zeiten hinzu; dann bildete die
    Kunst häufig vier Horen ab.

    Die Beziehung zur Zeit blieb den Horen erhalten; sie wachten
    später über die Tageszeiten wie zuerst über die Zeiten des Jahres;
    endlich sank ihr Name zur Bezeichnung der Stunde (heure, ora)
    herab. Die den Horen und Moiren wesensverwandten Nornen der
    deutschen Mythologie tragen diese Zeitbedeutung in ihren Namen
    zur Schau. Es konnte aber nicht ausbleiben, daß das Wesen dieser
    Gottheiten tiefer erfaßt und in das Gesetzmäßige im Wandel der
    Zeiten verlegt wurde; die Horen wurden so zu Hüterinnen des
    Naturgesetzes und der heiligen Ordnung, welche mit unabänder-
    licher Reihenfolge in der Natur das gleiche wiederkehren läßt.

    Diese Erkenntnis der Natur wirkte zurück auf die Auffassung
    des menschlichen Lebens. Der Naturmythus wandelte sich zum
    Menschenmythus; aus den Wettergöttinnen wurden Schicksals-
    gottheiten. Aber diese Seite der Horen kam erst in den Moiren
    zum Ausdrucke, die über die notwendige Ordnung im Menschen-
    leben so unerbittlich wachen wie die Horen über die Gesetz-
    mäßigkeit der Natur. Das unabwendbar Strenge des Gesetzes, die
    Beziehung zu Tod und Untergang, die an den lieblichen Gestalten
    der Horen vermieden worden waren, sie prägten sich nun an
    den Moiren aus, als ob der Mensch den ganzen Ernst des Natur-
    gesetzes erst dann empfände, wenn er ihm die eigene Person
    unterordnen soll.

    Die Namen der drei Spinnerinnen haben auch bei den Mytho-
    logen bedeutsames Verständnis gefunden, Die zweite Lachesis

  • S.

    252 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    scheint das „innerhalb der Gesetzmäßigkeit des Schicksals Zufällige“
    zu bezeichnen‘ — wir würden sagen: das Erleben — wie Atro-
    pos das Unabwendbare, den Tod, und dann bliebe fiir Klotho
    die Bedeutung der verhingnisvollen, mitgebrachten Anlage.

    Und nun ist es Zeit, zu dem der Deutung unterliegenden
    Motive der Wahl zwischen drei Schwestern zurückzukehren, Mit
    tiefem MiBvergniigen werden wir bemerken, wie unverständlich
    die betrachteten Situationen werden, wenn wir in sie die gefun-
    dene Deutung einsetzen, und welche Widersprüche zum schein-
    baren Inhalte derselben sich dann ergeben. Die dritte der Schwe-
    stern soll die Todesgöttin sein, der Tod selbst, und im Parisurteile
    ist es die Liebesgøttin, im Märchen des Apulejus eine dieser
    letzteren vergleichbare Schönheit, im „Kaufmann“ die schönste
    und klügste Frau, im Lear die einzige treue Tochter. Kann ein
    Widerspruch vollkommener gedacht werden? Doch vielleicht ist
    diese unwahrscheinliche Steigerung ganz in der Nähe. Sie liegt
    wirklich vor, wenn in unserem Motive jedesmal zwischen den
    Frauen frei gewählt wird, und wenn die Wahl dabei auf den
    Tod fallen soll, den doch niemand wählt, dem man durch ein
    Verhängnis zum Opfer füllt.

    Indes Widersprüche von einer gewissen Art, Ersetzungen durch
    das volle kontradiktorische Gegenteil bereiten der analytischen
    Deutungsarbeit keine ernste Schwierigkeit. Wir werden uns hier
    nicht darauf berufen, daß Gegensätze in den Ausdrucksweisen des
    Unbewußten wie im Traume so häufig durch eines und das näm-
    liche Element dargestellt werden. Aber wir werden daran
    denken, daß es Motive im Seelenleben gibt, welche die Ersetzung
    durch das Gegenteil als sogenannte Reaktionsbildung herbeiführen,
    und können den Gewinn unserer Arbeit gerade in der Aufdeckung
    solcher verborgener Motive suchen, Die Schöpfung der Moiren
    ist der Erfolg einer Einsicht, welche den Menschen mahnt, auch
    er sei ein Stück der Natur und darum dem unabänderlichen

    1) J. Roscher nach Preller-Robert, Griechische Mythologie,

  • S.

    Das Motiv der Kästchenwahl 253

    Gesetze des Todes unterworfen. Gegen diese Unterwerfung mußte
    sich etwas im Menschen sträuben, der nur höchst ungern auf
    seine Ausnahmsstellung verzichtet. Wir wissen, daß der Mensch
    seine Phantasietätigkeit zur Befriedigung seiner von der Realität
    unbefriedigten Wünsche verwendet. So lehnte sich denn seine
    Phantasie gegen die im Moirenmythus verkörperte Einsicht auf
    und schuf den davon abgeleiteten Mythus, in dem die Todes-
    göttin durch die Liebesgöttin, und was ihr an menschlichen Ge-
    staltungen gleichkommt, ersetzt ist. Die dritte der Schwestern ist
    nicht mehr der Tod, sie ist die schönste, beste, begehrenswerteste,
    liebenswerteste der Frauen. Und diese Ersetzung war technisch
    keineswegs schwer; sie war durch eine alte Ambivalenz vorbe-
    reitet, sie vollzog sich längs eines uralten Zusammenhanges, der
    noch nicht lange vergessen sein konnte. Die Liebesgöttin selbst,
    die jetzt an die Stelle der Todesgöttin trat, war einst mit ihr
    identisch gewesen. Noch die griechische Aphrodite entbehrte nicht
    völlig der Beziehungen zur Unterwelt, obwohl sie ihre chthonische
    Rolle längst an andere Göttergestalten, an die Persephone, die
    dreigestaltige Artemis-Hekate, abgegeben hatte. Die großen Mutter-
    gottheiten der orientalischen Völker scheinen aber alle ebenso-
    wohl Zeugerinnen wie Vernichterinnen, Göttinnen des Lebens
    und der Befruchtung wie Todesgöttinnen gewesen zu sein. So
    greift die Ersetzung durch ein Wunschgegenteil bei unserem
    Motive auf eine uralte Identität zurück.

    Dieselbe Erwägung beantwortet uns die Frage, woher der Zug
    der Wahl in den Mythus von den drei Schwestern geraten ist.
    Es hat hier wiederum eine Wunschverkehrung stattgefunden.
    Wahl steht an der Stelle von Notwendigkeit, von Verhängnis, So
    überwindet der Mensch den Tod, den er in seinem Denken an-
    erkannt hat. Es ist kein stärkerer Triumph der Wunscherfüllung
    denkbar. Man wählt dort, wo man in Wirklichkeit dem Zwange
    gehorcht, und die man wählt, ist nicht die Schreckliche, sondern
    die Schönste und Begehrenswerteste.

  • S.

    254 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    Bei nåherem Zusehen merken wir freilich, daß die Entstellungen
    des ursprünglichen Mythus nicht gründlich genug sind, um sich
    nicht durch Resterscheinungen zu verraten. Die freie Wahl zwi-
    schen den drei Schwestern ist eigentlich keine freie Wahl, denn
    sie muB notwendigerweise die dritte treffen, wenn nicht, wie im
    Lear, alles Unheil aus ihr entstehen soll. Die Schönste und Beste,
    welche an Stelle der Todesgottin getreten ist, hat Züge behalten,
    die an das Unheimliche streifen, so daB wir aus ihnen das Ver-
    borgene erraten konnten."

    Wir haben bisher den Mythus und seine Wandlung verfolgt
    und hoffen die geheimen Gründe dieser Wandlung aufgezeigt zu
    haben. Nun darf uns wohl die Verwendung des Motivs beim
    Dichter interessieren. Wir bekommen den Eindruck, als ginge
    beim Dichter eine Reduktion des Motivs auf den ursprünglichen
    Mythus vor sich, so daß der ergreifende, durch die Entstellung
    abgeschwächte Sinn des letzteren von uns wieder verspürt wird,
    Durch diese Reduktion der Entstellung, die teilweise Rückkehr
    zum Ursprünglichen, erziele der Dichter die tiefere Wirkung, die
    er bei uns erzeugt.

    Um Mißverständnissen vorzubeugen, will ich sagen, ich habe
    nicht die Absicht zu widersprechen, daß das Drama vom König
    Lear die beiden weisen Lehren einschärfen wolle, man solle auf
    sein Gut und seine Rechte nicht zu Lebzeiten verzichten, und

    1) Auch die Psyche des Apulejus hat reichlich Züge bewahrt, welche an ihre
    Beziehung zum Tode mahnen. Ihre Hochzeit wird gerüstet wie eine Leichenfeier,
    sie muß in die Unterwelt hinabsteigen und versinkt nachher in einen totenähnlichen
    Schlaf (0. Rank).

    Über die Bedeutung der Psyche als Frühlingsgottheit und als „Braut des Todes“
    siehe A. Zinzow: „Psyche und Eros“ (Halle 1881).

    In einem anderen Grimmschen Märchen (Nr. 179, Die Gänsehirtin am Brunnen)
    findet sich wie beim Aschenputtel die Abwechslung von schöner und häßlicher Ge-
    stalt der dritten Tochter, in der man wohl eine Andeutung von deren Doppelnatur
    — vor und nach der Ersetzung — erblicken darf. Diese dritte wird von ihrem Vater
    nach einer Probe verstoßen, welche mit der im König Lear fast zusammenfällt. Sie
    soll wie die anderen Schwestern angeben, wie lieb sie den Vater hat, findet aber
    keinen anderen Ausdruck ihrer Liebe als den Vergleich mit dem Salze. (Freundliche
    Mitteilung von Dr. Hanns Sachs.)

  • S.

    Das Motiv der Kästchenwahl 255

    man müsse sich hüten, Schmeichelei für bare Münze zu nehmen.
    Diese und ähnliche Mahnungen ergeben sich wirklich aus dem
    Stücke, aber es erscheint mir ganz unmöglich, die ungeheure
    Wirkung des Lear aus dem Eindrucke dieses Gedankeninhaltes
    zu erklären oder anzunehmen, daß die persönlichen Motive des
    Dichters mit der Absicht, diese Lehren vorzutragen, erschöpft seien.
    Auch die Auskunft, der Dichter habe uns die Tragödie der Un-
    dankbarkeit vorspielen wollen, deren Bisse er wohl am eigenen
    Leibe verspürt, und die Wirkung des Spieles beruhe auf dem
    rein formalen Momente der künstlerischen Einkleidung, scheint
    mir das Verständnis nicht zu ersetzen, welches uns durch die
    Würdigung des Motivs der Wahl zwischen den drei Schwestern
    eröffnet wird.

    Lear ist ein alter Mann. Wir sagten schon, darum erscheinen
    die drei Schwestern als seine Töchter. Das Vaterverhältnis, aus
    dem so viel fruchtbare dramatische Antriebe erfließen könnten,
    wird im Drama weiter nicht verwertet. Lear ist aber nicht nur
    ein Alter, sondern auch ein Sterbender. Die so absonderliche Vor-
    aussetzung der Erbteilung verliert dann alles Befremdende. Dieser
    dem Tode Verfallene will aber auf die Liebe des Weibes nicht
    verzichten, er will hören, wie sehr er geliebt wird. Nun denke
    man an die erschütternde letzte Szene, einen der Höhepunkte der
    Tragik im modernen Drama: Lear trägt den Leichnam der Cor-
    delia auf die Bühne. Cordelia ist der Tod. Wenn man die Situa-
    tion umkehrt, wird sie uns verständlich und vertraut. Es ist die
    Todesgöttin, die den gestorbenen Helden. vom Kampfplatze weg-
    trägt, wie die Walküre in der deutschen Mythologie. Ewige
    Weisheit im Gewande des uralten Mythus rät dem alten Manne,
    der Liebe zu entsagen, den Tod zu wählen, sich mit der Not-
    wendigkeit des Sterbens zu befreunden.

    Der Dichter bringt uns das alte Motiv niher, indem er die
    Wahl zwischen den drei Schwestern von einem Gealterten und
    Sterbenden vollziehen låBt. Die regressive Bearbeitung, die er so

  • S.

    256 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    mit dem durch Wunschverwandlung entstellten Mythus vorge-
    nommen, läßt dessen alten Sinn so weit durchschimmern, daß
    uns vielleicht auch eine flächenhafte, allegorische Deutung der
    drei Frauengestalten des Motivs ermöglicht wird. Man könnte
    sagen, es seien die drei für den Mann unvermeidlichen Bezie-
    hungen zum Weibe, die hier dargestellt sind: Die Gebårerin, die
    Genossin und die Verderberin. Oder die drei Formen, zu denen
    sich ihm das Bild der Mutter im Laufe des Lebens wandelt: Die
    Mutter selbst, die Geliebte, die er nach deren Ebenbild gewählt,
    und zuletzt die Mutter Erde, die ihn wieder aufnimmt. Der alte
    Mann aber hascht vergebens nach der Liebe des Weibes, wie er
    sie zuerst von der Mutter empfangen; nur die dritte der Schick-
    salsfrauen, die schweigsame Todesgättin, wird ihn in ihre Arme
    nehmen.