Das Motiv der Kästchenwahl 1913-007/1922
  • S.

    XXVII.
    DAS MOTIV DER KASTCHENWAHL.”

    +

    Zwei Szenen aus Shakespeare, eine heitere und eine
    tragische, haben mir kürzlich den Anlaß zu einer kleinen
    Problemstellung und Lósung gegeben.

    Die heitere ist die Wahl des Freiers zwischen drei Kåst-
    chen im „Kaufmann von Venedig“. Die schöne und kluge
    Porzia is& durch den Willen ihres Vaters gebunden, nur den
    von ihren Bewerbern zum Manne zu nehmen, der von drei
    ihm vorgelegten Kästchen das richtige wählt. Die drei Käst-
    chen sind von Gold, von Silber und von Blei; das richtige
    ist jenes, welches ihr Bildnis einschließt. Zwei Bewerber sind
    bereits erfolglos abgezogen, sie hatten Gold und Silber ge-
    wählt. Bassanio, der dritte, entscheidet sich für das Blei;
    er gewinnt damit die Braut, deren Neigung ihm bereits vor
    der Schicksalsprobe gehört hat. Jeder der Freier hatte seine
    Entscheidung durch eine Rede motiviert, in welcher er das
    von ihm bevorzugte Metall anpries, während er die beiden
    anderen herabsetzte. Die schwerste Aufgabe war dabei dem
    glücklichen dritten Freier zugefallen; was er zur Verherr-
    lichung des Bleis gegen Gold und Silber sagen kann, ist

    wenig und klingt gezwungen, Stünden wir in der psycho-

    *) Imago, II, 1913.

  • S.

    XXVIL DAS MOTIV DER KASTCHENWAHL. 471

    analytischen Praxis vor solcher Rede, so wiirden wir hinter
    der unbefriedigenden Begründung geheimgehaltene Motive
    wittern

    Shakespeare hat das Orakel der Kästchenwahl nicht
    selbst erfunden, er nahm es aus einer Erzählung der „Gesta
    Romanorum", in welcher ein Mädchen dieselbe Wahl vor-
    nimmt, um den Sohn des Kaisers zu gewinnen.*) Auch hier
    ist das dritte Metall, das Blei das Glückbringende. Es ist
    nicht schwer zu erraten, daB hier ein altes Motiv vorliegt,
    welches nach Deutung, Ableitung und Zurückführung ver-
    langt. Eine erste Vermutung, was wohl die Wahl zwischen
    Gold, Silber und Blei bedeuten möge, findet bald Bestätigung
    dureh eine Äußerung von E. Stucken**), der sich in weit-
    ausgreifendem Zusammenhang mit dem nümlichen Stoffe be-
    schåftigt. Er sagt: „Wer die drei Freier Porzias sind, erhellt
    aus dem, was sie wählen: Der Prinz von Marokko wählt den
    goldenen Kasten: er ist die Sonne; der Prinz von Arragon
    wählt den silbernen Kasten: er ist der Mond; Bassanio wählt
    den bleiernen Kasten: er ist der Sternenknabe Zur Unter-
    stützung dieser Deutung zitiert er eine Episode aus dem est-
    nischen Volksepos Kalewipoeg, in welcher die drei Freier
    unverkleidet als Sonnen-, Mond- und Sternenjüngling („des
    Polarsterns altestes Sóhnchen*) auftreten und die Braut wie-
    derum dem Dritten zufállt.

    So führte also unser kleines Problem auf einen Astral-
    mythus! Nur schade, daß wir mit dieser Aufklärung nicht
    zu Ende gekommen sind. Das Fragen setzt sich weiter fort,
    denn wir glauben nicht mit manchen Mythenforschern, daß
    die Mythen vom,Himmel herabgelesen worden sind, vielmehr
    “TG Brandes, Wiliam Shakespeare, 1896.

    **) Ed. Stucken, Astralmythen, p. 655, Leipzig 1907.

  • S.

    SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    urteilen wir mit 0. Rank*), daß sie auf den Himmel pro-
    jiziert wurden, nachdem sie anderswo unter rein mensch-
    lichen Bedingungen entstanden waren. Diesem menschlichen
    Inhalte gilt aber unser Interesse.

    Fassen wir unseren Stoff nochmals ins Auge. Im est-
    nischen Epos wie in der Erzählung der Gesta Romanorum
    handelt es sich um die Wahl eines Mådchens zwischen drei

    Freiern, in der Szene. des „Kaufmann von Venedig" anschei-

    nend um das nåmliche, aber gleichzeitig tritt an dieser letz-
    ten Stelle etwas wie eine Umkehrung des Motivs auf: Ein
    Mann wählt zwischen drei 一 Kästchen. ‘Wenn wir es mit
    einem Traum zu tun håtten, wiirden wir sofort daran den-
    ken, daß die Kästchen auch Frauen sind; Symbole des We-
    sentlichen an der Frau und darum der Frau selbst, wie
    Biichsen, Dosen, Schachteln, Körbe usw. Gestatten wir uns
    eine solche symbolische Ersetzung auch beim Mythus anzu-
    nehmen, so wird die Kästchenszene im „Kaufmann von Ve-
    nedig“ wirklich zur Umkehrung, die wir vermutet haben.
    Mit einem Rucke, wie er sonst nur im Märchen beschrieben
    wird, haben wir unserem Thema das astrale Gewand abge-
    streift und sehen nun, es behandelt ein menschliches Motiv,
    die Wahl eines Mannes zwischen drei Frauen.

    Dasselbe ist aber der Inhalt einer anderen Szene Shake-
    speares in einem der erschiitterndsten seiner Dramen, keine
    Brautwahl diesmal, aber doch durch so viel geheime Ahn-
    lichkeiten mit der Kåstchenwahl im „Kaufmann“ verknüpft.
    Der alte Konig Lear beschließt noch bei Lebzeiten sein Reich
    unter seine drei Töchter zu verteilen, je nach Maßgabe der
    Liebe, dic sie fiir ihn äußern. Die beiden älteren, Goneril

    +) О. Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden, p. ⑧ fg.
    Wien und Leipzig 1909.

  • S.

    XXVI. DAS MOTIV DER KÅSTCHENWAHL. 473

    und Regan, erschôpfen sich in Beteuerungen und Anprei-

    sungen ihrer Liebe, die dritte, Cordelia, weigert sich dessen.
    Er håtte diese unscheinbare, wortlose Liebe der Dritten er-
    kennen und belohnen sollen, aber er verkennt sie, verstößt
    Cordelia und teilt das Reich unter die beiden anderen, zu
    seinem und aller Unhcil. Ist das nicht wieder gine Szenc
    der Wahl zwischen drei Frauen, von denen die jüngste die
    beste, die vorziiglichste ist?

    Sofort fallen uns nun aus Mythus, Mårchen und Dich-
    tung andere Szenen ein, welche die nåmliche Situation zum
    Inhalte haben: Der Hirte Paris hat die Wahl zwischen drei
    Gôttinnen, von denen er die dritte zur Schönsten erklärt.
    Aschenputtel ist eine ebensolche Jüngste, die der Känigs-
    sohn den 'beiden Älteren vorzieht, Psyche im Märchen des
    Apulejus ist die jüngste und schönste von drei Schwestern,
    Psyche, die cinerscits als menschlich gewordene Aphrodite
    verehrt wird, anderscits von dieser Göttin behandelt wird
    wie Aschenputtel von ihrer Sticfmutter, einen vermischten
    Haufen von Samenkdrnern schlichten soll und es mit Hilfe
    von kleinen Tieren (Tauben bei Aschenputtel, Ameisen bei
    Psyche) zustandebringt.*) Wer sich weiter im Materiale um-
    sehen wollte, würde gewiß noch andere Gestaltungen desselben
    Motives mit Erhaltung derselben wesentlichen Ziige auffinden
    können,

    Begnügen wir uns mit Cordelia, Aphrodite, Aschenputtel
    und Psyche! Die drei Frauen, von denen die dritte die -vor-
    züglichste ist, sind wohl als irgendwie gleichartig aufzu-
    fassen, wenn sie als Schwestern vorgeführt werden. Es soll
    uns nicht irre machen, wenn es bei Lear die drei Töchter

    *) Den Hinweis auf ‘diese Ubereinstimmungen verdanke ich Dr.
    0. Rank.

  • S.

    474 ・ SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    des Wahlenden sind, das bedeutet vielleicht nichts ‚anderes,
    als daB Lear als alter Mann dargestellt werden soll. Den
    alten Mann kann man nicht leicht anders zwischen drei
    Frauen wählen lassen; darum werden diese zi seinen Töchtern,

    Wer sind aber diese drei Schwestern und warum muß
    die Wahl auf die Dritte fallen? Wenn wir diese Frage beant-
    worten könnten, wären wir im Besitze der gesuchten Deutung.
    Nun haben wir uns bereits einmal der Anwendung psycho-
    analytischer Techniken bedient, als wir uns die drei Käst-
    chen symbolisch als drei Frauen aufklarten. Haben wir den
    Mut, ein solches Verfahren fortzusetzen, so betreten wir einen
    Weg, der zunächst ins Unvorhergesehene, Unbegreifliche, auf
    Umwegen vielleicht zu cinem Ziele führt.

    Es darf uns auffallen, daß jene vorzügliche Dritte in
    mehreren Fällen außer ihrer Schönheit noch gewisse Beson-
    derheiten hat. Es sind Eigenschaften, die nach irgendeiner
    Einheit zu streben scheinen : wir dürfen gewiß nicht erwarten,
    sie in allen Beispielen gleich gut ausgeprägt zu finden. Cor-
    delia macht sich unkenntlich, unscheinbar wie das Blei, sic
    bleibt stumm, sie „liebt und schweigt“. Aschenputtel ver-
    birgt sich, so daß sie nicht aufzufinden ist. Wir dürfen viel-
    leicht das Sichverbergen dem Verstummen gleichsetzen.. Dies
    wåren allerdings nur zwei Fålle von den fiinf, die wir heraus-
    gesucht haben. Aber eine Andeutung davon findet sich merk-
    wirdigerweise auch noch bei zwei anderen. Wir haben uns
    ja entschlossen, die widerspenstig ablehnende Cordelia dem
    Blei zu vergleichen. Von diesem heift es in der kurzen Rede
    des Bassanio wåhrend der Kåstchenwahl, eigentlich so ganz
    unvermittelt :

    Thy paleness moves me more than eloquence.
    (plainness nach anderer Lesearl)..

  • S.

    XXVII. DAS MOTIV DER KÄSTCHENWAHL, 475

    Also: Deine Schlichtheit geht mir nåher als der beiden
    anderen schreiendes Wesen. Gold und Silber sind „laut“,
    das Blei ist stumm, wirklich wie Cordelia, die „liebt und
    schweigt“.*)

    In den altgriechischen Erzählungen des Parisurteils ist
    von einer solchen "Zurückhaltung der Aphrodite nichts ent-
    halten. Jede der drei Gôttinnen spricht zu dem Jüngling
    und sucht ihn durch VerheiBungen zu gewinnen, Aber in
    einer ganz modernen Bearbeitung derselben Szene kommt der
    uns auffällig gewordene Zug der Dritten sonderbarerweise
    wieder zum Vorscheine. Im Libretto der „Schönen Helena“
    erzählt Paris, nachdem er von den Werbungen der beiden
    anderen Góttinnen berichtet, wie sich Aphrodite in diesem
    Wettkampfe um den Schónheitspreis benommen:

    Und die Dritte — ja die Dritte —
    Stand daneben und blieb stumm.
    Ihr mußt” ich den Apfel geben usw.

    Entschliefen wir uns, die Eigentümlichkeiten unserer
    Dritten in der ,,Stummheit“ konzentriert zu sehen, so sagt
    uns dic Psychoanalyse: Stummheit ist im Traume cine ge-
    brüuchliche Darstellung des Todes.**)

    Vor mehr als zehn Jahren teilte mir ein hochintelligenter

    Mann einen Traum mit, den er als Beweis für die telepa-
    thische Natur der Träume verwerten wollte. Er sah einen
    abwesenden Freund, von dem er überlange keine Nachricht
    erhalten hatte, und machte ihm eindringliche Vorwürfe über

    *) In der Schlegelschen Übersetzung geht diese Anspielung ganz
    verloren, ja sie wird zur Gegenseite gewendet:
    5 Dein schlichtes Wesen spricht beredt mich an.
    **) Auch in Stekels „Sprache des Traumes* 1911 unter den Todes-
    symbolen angeführt (p. 351).

  • S.

    476 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    sein Stillschweigen. Der Freund gab keine Antwort. Es stellte
    sich dann heraus, daß er ungefähr um die Zeit dieses Traumes
    durch Selbstmord geendet hatte. Lassen wir das Problem
    der Telepathie beiseite; daß die Stummheit im Traume zur
    Darstellung des Todes wird, scheint hier nicht zweifelhaft.
    Auch das Sichverbergen, Unauffindbarsein, wie es der Mår-
    chenprinz dreimal beim Aschenputtel erlebt, ist im Traume
    ein unverkennbares Todessymbol; nicht minder die auffällige
    Blässe, an welche die paleness des Bleies in der einen" Lese-
    art des Shakespeareschen Textes erinnert.*) Die Uber-
    tragung dieser Deutungen aus der Sprache des Traumes auf

    die Ausdrucksweise des uns beschåftigenden Mythus wird uns
    aber wesentlich erleichtert, wenn wir wahrscheinlich machen
    können, daß die Stummheit auch in anderen Produktionen,
    die nicht Träume sind, als Zeichen des Totseins gedeutet
    werden muß.

    Ich greife hier das neunte der Grimm schen Volks-
    mårchen heraus, welches ‘die Überschrift hat: „Die zwölf
    Brüder“. **) Ein König und eine Königin hatten zwölf Kin-
    der, lauter Buben. Da sagte der König, wenn das dreizehnte
    Kind ein Mädchen ist, müssen die Buben sterben. In Er-
    wartung dieser Geburt läßt er zwölf Särge machen. Die
    zwölf Söhne flüchten sich mit Hilfe der Mutter in einen
    versteckten Wald und schwören jedem Mädchen den Tod,
    das sie begegnen sollten.

    Ein Mädchen wird geboren, wächst heran und erfährt
    einmal von der Mutter, daß es zwölf Brüder gehabt hat. Es
    beschließt, sie aufzusuchen, und findet im Walde den Jüng-

    sten, der sie erkennt aber verbergen möchte wegen des Eides

    ち Stokel, Le.
    **) S. BO der Reklamausgabe, T. Bd.

  • S.

    XXVII. DAS MOTIV DER KASTCHENWAHL. ATT

    der Brüder, Die Schwester sagt: Ich will gerne sterben, wenn
    ich damit meine zwölf Brüder erlôsen kann. Die Brüder
    nehmen sie aber herzlich auf, sie bleibt bei ihnen und be-
    sorgt ihnen das Haus.

    In einem kleimen Garten bei dem Hause wachsen zwölf
    Lilienblumen; die bricht das Mádchen ab, um jedem Bruder
    eine zu schenken, In diesem Augenblicke werden die Brüder
    in Raben verwandelt und verschwinden mit llaus und Garten.
    — Die Raben sind Seelenvógel, die Tötung der zwölf Brüder
    durch ihre Schwester wird durch das Abpflücken der Blumen
    von neuem dargestellt, wie zu- Eingang durch die Sárge und
    das Verschwinden der Brüder. Das Mädchen, das wiederum
    bereit ist, seine Brüder vom Tode zu erlósen, erfihrt nun als
    Bedingung, daß sie sieben Jahre stumm sein, kein einziges
    Wort sprechen darf. Sie unterzieht sich dieser Probe, durch
    die sie selbst in Lebensgefahr gerät, d.h. sie stirbt selbst
    für die Brüder, wie sie es vor dem Zusammentreffen mit
    den Brüdern gelobt hat. Durch die Einhaltung der Stumm-
    heit gelingt ihr endlich die Erlósung der Raben.

    Ganz ühnlich werden im Márchen von den „sechs Schwä-
    nen* die in Vógel verwandelten Brüder durch die Stummheit _
    der Schwester erlöst, d.h. wiederbelebt. Das Mädchen. hat
    den festen EntschluB gefaßt, seine Brüder zu erlósen, und
    „wenn es auch sein Leben kostete“ und bringt als (Gemahlin
    des Königs wiederum ihr eigenes Leben in Gefahr, weil sie
    gegen bóse Anklagen ihre Stummheit nicht aufgeben will,

    Wir würden sicherlich aus den Márchen noch andere
    Beweise erbringen können, daB die Stummheit als Darstel-

    lung des Todes verstanden werden muf. Wenn wir diesen

    Anzeichen folgen dürfen, so wire die dritte unserer Schwe-
    stern, zwischen denen die Wahl stattfindet, eine Tote. Sie

  • S.

    478 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    kann aber auch etwas anderes sein, nämlich der Tod selbst,
    die Todesgóttin. Vermöge einer gar nicht seltenen Verschie-
    bung werden die Eigenschaften, die eine Gottheit den Men-
    schen zuteilt, ihr selbst zugeschrieben. Am wenigsten wird
    uns solche Verschiebung bei der Todesgóttin befremden, denn
    in der modernen Auffassung und Darstellung, die hier vor-
    weggenommen würde, ist der Tod selbst nur ein Toter,

    Wenn aber die dritte der Schwestern die Todesgóttin
    ist, so kennen wir die Schwestern, Hs sind die Schicksals-
    schwestern, die Moiren oder Parzen oder Nornen, deren
    dritte Atropos heißt: die Unerbittliche.

    Ii

    Stellen wir die Sorge wie die gefundene Deutung in

    unseren Mythus einzufügen ist, einstweilen beiseite, und holen
    wir uns bei den Mythologen Belehrung über Rolle und Her-
    kunft der Schicksalsgóttinnen.*)

    Die álteste griechische Mythologie kennt nur eine Moiga

    als Personifikation des unentrinnbaren Schicksals (bei Homer).
    Die Fortentwicklung dieser einen Moira zu einem Schwester-
    verein von drei (seltener zwei) Gottheiten erfolgte wahr-
    scheinlich in Anlehnung an andere Góttergestalten, denen
    die Moiren nahestehen, die Chariten und die Horen.

    Die Horen sind ursprünglich Gottheiten der himmlischen
    Gewasser, die Regen und Tau spenden, der Wolken, aus
    denen der Regen niederfallt, und da diese Wolken als Ge-
    spinst erfaßt werden, ergibt sich für diese Gôttinnen der
    Charakter der Spinnerinnen, der dann an den Moiren. fixiert
    wird. In den von der Sonne verwóhnten Mittelmeerlåndern

    *) Das folgende nach Roschers Lexikon der griechischen und
    rómischen Mythologie unter den entsprechenden Titeln.

  • S.

    XXVII. DAS MOTIV DER KASTCHENWAHL.

    ist es der Regen. von dem die Fruchtbarkeit des Bodens
    abhängig wird, und darum wandeln sich die Horen zu Vege-
    tationsgottheiten. Man dankt ihnen die Schönheit der Blu-
    men und den Reichtum der Früchte, stattet sic mit einer
    Fille von liebenswiirdigen und anmutigen Zügen aus, Sie

    werden zu den göttlichen Vertreterinnen der Jahreszeiten

    und erwerben vielleicht durch diese Beziehung ihre Dreizahl,
    wenn die heilige Natur der Drei zu deren Aufklärung nicht
    geniigen sollte. Denn diese alten Volker unterschieden zuerst
    nur drei Jahreszeiten: Winter, Frithling und Sommer. Der
    Herbst kam erst in späten griechisch-rómischen Zeiten hinzu;
    dann bildete die Kunst häufig vier Horen ab.

    Die Beziehung zur Zeit blieb den Horen erhalten; sic
    wachten später über die Tageszciten wie zuerst über die
    Zeiten des Jahres; endlich sank ihr Name zur Bezeichnung
    der Stunde (heure, ora) herab. Die den Horen und Moiren
    wesensverwandten Nornen der deutschen Mythologie tragen
    diese Zeitbedeutung in ihren Namen zur Schau. Es konnte
    aber nicht ausbleiben, daß das Wesen dieser Gottheiten
    tiefer erfaßt und in das Gesetzmäßige im Wandel der Zeiten
    verlegt wurde; die Horen wurden so zu Hiiterinnen des Natur-
    gesetzes und .der heiligen Ordnung, welche mit unabänder-
    licher Reihenfolge in der Natur das gleiche wiederkehren läßt.

    Diese Erkenntnis der Natur wirkte zurück auf die Auf-
    fassung des menschlichen Lebens. Der Naturmythus wan-
    delte sich zum Menschenmythus; aus den Wettergóttinnen
    wurden Schicksalsgottheiten. Aber diese. Seite der Horen
    kam erst in den Moiren zum Ausdrucke, die über die not-
    wendige Ordnung im Menschenleben so unerbittlich wachen
    wie die Horen über die Gesetzmafigkeit der Natur. Das.
    unabwendbar Strenge des Gesetzes, die Beziehung zu Tod

  • S.

    480 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE.

    und Untergang, dic an den lieblichen Gestalten der Horen
    vermieden worden waren, sie prägten sich nun an den Moi-
    ren aus, als ob der Mensch den ganzen Ernst des Naturgesetzes
    erst dann empfånde, wenn er die eigene Person ihm unter-

    ordnen soll.

    Die Namen der drei Spinnerinnen haben auch bei den

    Mythologen bedeutsames Verständnis gefunden, Die zweite
    Lachesis scheint das „innerhalb der GesetzmiBigkeit des
    Schicksals Zufällige“ zu bezeichnen +) — wir würden sagen:
    das Erleben — wie Atropos das Unabwendbare, den Tod,
    und dann bliebe får Klotho die Bedeutung der verhångnis-
    vollen, mitgebrachten Anlage.

    Und nun ist es Zeit, zu dem der Deutung unterliegenden
    Motive der Wahl zwischen drei Schwestern zurückzukehren,
    Mit tiefem MiBvergniigen werden wir bemerken, wie unver-
    ståndlich die betrachteten Situationen werden, wenn wir in
    sie die gefundene Deutung einsetzen, und welche Widerspriiche
    zum scheinbaren Inhalte derselben sich dann ergeben. Die
    dritte der Schwestern soll die Todesgôttin sein, der Tod
    selbst, and im Parisurteile ist es die Liebesgóttin, im A
    chen des Apulejus eine dieser letzteren vergleichbare Schón-
    heit, im , Kaufmann“ die schonste und kliigste Frau, im
    Lear ‘die einzige treue Tochter. Kann ein Widerspruch voll-
    kommener gedacht werden? Doch vielleicht ist diese un-
    wahrscheinliche Steigerung ganz in der Nähe, Sie liegt wirk-
    lich vor, wenn in unserem Motive jedesmal zwischen den
    Frauen frei gewåhlt wird, und wenn die Wahl dabei auf den
    Tod fallen soll, den doch niemand wåhlt, dem man durch ein
    Verhängnis zum Opfer fällt.

    *) J. Roscher nach Preller-Robert, Griech, Mythologie.

  • S.

    XXVIL DAS MOTIV DER KASTCHENWAHL. 481

    Indes Widersprüche von einer gewissen Art, Ersetzun-
    gen durch das volle kontradiktorische Gegenteil bereiten der
    analytischen Deutungsarbeit keine ernste Schwierigkeit. Wir
    werden uns hier nicht darauf berufen, daß Gegensätze in
    den Ausdrucksweisen des Unbewuften wie im Traume so
    håufig durch eines und das namliche Element dargestellt
    werden. Aber wir werden daran denken, daß es Motive im
    Seelenleben gibt, welche die Ersetzung durch das Gegenteil
    als sogenannte Reaktionsbildung herbeiführen, und können
    den Gewinn unserer Arbeit gerade in der Aufdeckung solcher
    verborgener Motive suchen. Die Schöpfung der Moiren ist
    der Erfolg einer Einsicht, welche den Menschen mahnt, auch
    er sei ein Stück der Natur und darum dem unabånderlichen
    Gesetze des Todes unterworfen. Gegen diese Unterwerfung
    mußte sich etwas‘ im Menschen stråuben, der nur höchst

    ungern auf seine Ausnahmsstellung verzichtet. Wir wissen,
    daß der Mensch seine Phantasietåtigkeit zur Befriedigung
    seiner von der Realität unbefriedigten Wünsche verwendet.
    So Iehnte sich denn seine Phantasie gegen die im Moiren-
    mythus verkórperte Einsicht auf und schuf den davon ab-
    geleiteten Mythus, in dem die Todesgóttin durch die Liebes-
    gôttin, und was ihr an menschlichen Gestaltungen gleich-
    kommt, ersetzt ist. Die dritte der Schwestern ist nicht mehr
    der Tod, sie ist die schónste, beste, begehrenswerteste, lie-
    benswerteste der Frauen. Und diese Ersetzung «war technisch
    keineswegs schwer; sie war durch eine alte Ambivalenz vor-
    bereitet, sie vollzog sich längs eines uralten Zusammenhanges,
    der noch nicht lange vergessen sein konnte. Die Liebesgót-
    tin selbst, die jetzt an die Stelle der Todesgóttin trat, war
    einst mit ihr identisch gewesen. Noch die griechische Aphro-
    dite entbehrte nicht völlig der Beziehungen zur Unterwelt,

    Freud, Neurosenlehre. IV. 31

  • S.

    482 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    obwohl sic ihre chthonische Rolle längst an andere Götter-
    gestalten, an die Persephone, die dreigestaltige Artemis-He-
    kate, abgegeben hatte, Die großen Muttergottheiten der orien-
    talischen Völker scheinen aber alle ebensowohl Zeugerinnen
    wie Vernichterinnen, Gôttinnen des Lebens und der Befruch-
    tung wie Todesgôttinnen „gewesen zu sein. So greift die Er-
    sefzung durch ein Wunschgegenteil bei unserem Motive auf
    eine uralte Identität zurück,

    Dieselbe Erwägung beantwortet uns die Frage, woher der
    Zug der Wahl in den Mythus von den drei Schwestern ge-
    raten ist. Es hat hier wiederum eine Wunschverkehrung statt-
    gefunden. Wahl steht an der Stelle von Notwendigkeit, von
    Verhängnis, So überwindet, der Mensch den Tod, den er in
    seinem Denken anerkannt hat, Es ist kein stärkerer Triumph
    der Wunscherfüllung denkbar, Man wählt dort, wo man in
    Wirklichkeit dem Zwange gehorcht, und die man wählt, ist
    nicht die Schreckliche, sondern die Schönste und Begehrens-
    werteste, ⑧

    Bei nåherem Zusehen merken wir freilich, daß die Ent-
    stellungen des ursprünglichen Mythus nicht gründlich genug
    sind, um sich nicht durch Resterscheinungen zu verraten.
    Die freie Wahl zwischen den drei Schwestern ist eigentlich
    keine freie Wahl, denn sie muß notwendigerweise die dritte
    treffen, wenn nicht, wie im Lear, alles Unheil aus ihr ent-
    stehen soll. Nie Schönste und Beste, welche an Stelle der
    Todesgóttin getreten ist, hat Züge behalten, die an das Un-
    heimliche ‚streifen, so. daß wir aus ihnen das Verborgene er-
    raten konnten.*)

    *) Auch die Psyche des Apulejus hat reichlich Züge bewahrt,
    welche an ihre Beziehung zum Tode mahnen, Ihre Hochzeit wird gerüstet,
    wie eine Leichenfeier, sie muß in die Unterwelt‘ hinabsteigen und ver-
    sinkt nachher in einen totenähnlichen Schlaf (0. Rank).

  • S.

    XXVII. DAS MOTIV DER KASTCHENWAHL. 483

    Wir haber bisher den Mythus und seine Wandlung ver-
    folgt und hoffen die geheimen Griinde dieser Wandlung auf-
    gezeigt zu haben, Nun darf uns wohl die Verwendung des
    Motivs beim Dichter interessieren, Wir bekommen den Ein-
    druck, als ginge beim Dichter eine Reduktion des Motivs
    auf den urspriinglichen Mythus vor sich, so daB der ergrei-
    fende, durch die Entstellung abgeschwåchte Sinn des letz
    teren von uns wieder verspiirt wird. Durch diese Reduktion
    der Enistellung, die teilweise Rückkehr zum Urspriinglichen,
    erziele der Dichter die tiefere Wirkung, die er bei uns erzeugt.

    Um Mibverständnissen vorzubeugen, will ich sagen, ich
    habe nicht die Absicht zu widersprechen, daß das Drama
    vom Konig Lear die beiden weisen Lehren einschårfen wolle,
    man solle auf sein Gut und seine Rechte nicht zu Lebzeiten

    verzichten, und man miisse sich hiiten, Schmeichelei fiir bare

    Münze zu nehmen. Diese und ähnliche Mahnungen ergeben
    sich wirklich aus dem Stücke, aber es erscheint mir ganz
    unmöglich, die ungeheure Wirkung des Lear aus dem Ein-
    drucke dieses Gedankeninhaltes zu erklären oder anzunehmen,
    daß die persönlichen Motive des Dichters mit der Absicht
    diese Lehren vorzutragen, erschöpft seien. Auch die Auskunft,
    der Dichter habe uns die Tragödie der Undankbarkeit' vor-
    spielen wollen, deren Bisse er wohl am eigenen Leibe ver-

    Über die Bedeutung der Psyche als Frühlingsgottheit und als „Braut
    des Todes“ в. A. Zinzow: „Psyche und, Eros“ (Halle 1881).

    In einem anderen Grimm schen Märchen (Nr. 179, Die Gänsehirtin
    am Brunnen) findet sich wie beim Aschenputtel die Abwechslung von
    schöner und häßlicher Gestalt der dritten Tochter, in der man wohl eine
    Andeutung von deren Doppelnatur — vor und nach der Ersetzung —
    erblicken darf. Diese dritte wird von ihrem Vater nach‘ einer Probe
    verstoßen, welche mit der im König Lear fast zusammenfällt. Sie soll
    wie die anderen Schwestern angeben, wie lieb sie den Vater hat, findet
    aber keinen anderen Ausdruck ihrer Liebe als den Vergleich mit dem
    Salze. (Freundliche Mitteilung von Dr. Hanns Sachs.)

    51%

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    484 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV,

    spiirt, und dic Wirkung des Spieles beruhe auf dem rein
    formalen Momente der künstlerischen Einkleidung, scheint
    mir das Verständnis nicht zu ersetzen, welches uns durch
    die Würdigung des Motivs der Wahl zwischen den drei
    Schwestern eröffnet wird.

    Lear ist ein alter Mann. Wir sagten schon, darum er-
    scheinen die drei Schwestern als seine Töchter. Das Vater-
    verhältnis, aus dem so viel fruchtbare dramatische Antriebe
    erfließen könnten, wird im Drama weiter nicht verwertet.
    Lear ist aber nicht nur ein Alter, sondern auch ein Ster-
    bender. Die so absonderliche Voraussetzung der Erbteilung
    verliert dann alles Befremdende. -Dieser dem Tode Verfal-
    lene will aber auf die Liebe des Weibes nicht verzichten,
    er will horen, wie sehr er geliebt wird. Nun denke man an
    die erschiitternde letzte Szene, einen der Höhepunkte der
    Tragik im modernen Drama: Lear trägt den Leichnam der
    Cordelia. auf die Bühne. Cordelia ist der Tod. Wenn man
    die Situation umkehrt, wird sie uns verständlich und ver-
    traut. Es ist die Todesgôttin, die den verstorbenen Helden
    vom Kampfplatze wegtrågt, wie die Walkiire in der deut-
    schen Mythologie. Ewige Weisheit im Gewande des uralten
    Mytlius råt dem alten Manne, der Liebe zu entsagen, den
    Tod zu wählen, sich mit der Notwendigkeit des Sterbens zu
    befreunden. ⑤

    Der Dichter bringt uns das alte Motiv näher, indem er
    die Wahl zwischen den drei Schwestern von einem Gealterten
    und Sterbenden vollziehen 1äßt.. Die regressive Bearbeitung,
    die er so mit dem durch Wunschverwandlung entstellten
    Mythus vorgenommen, läßt dessen alten Sinn so weit durch-
    schimmern, daß uns vielleicht auch eine flåchenhafte, alle-

    gorische Deutung der drei Frauengestalten des Motivs er-

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    XXVII. DAS MOTIV DER KASTCHENWAHL. 485

    môglicht wird. Man könnte sagen, es seien die drei für den
    Mann unvermeidlichen Beziehungen zum Weibe, die hier dar-

    gestellt sind: Die Gebårerin, die Genossin und die Verder-

    berin, Oder die drei Formen, zu denen sich ihm das Bild
    der Mutter im Laufe des Lebens wandelt: Die Mutter selbst,
    die Geliebte, die er nach deren Ebenbild gewåhlt, und zuletzt
    die Mutter Erde, die ihn wieder aufnimmt, Der alte Mann
    aber hascht vergebens nach der Liebe des Weibes, wie er
    sie zuerst von der Mutter empfangen; nur die dritte der
    Schicksalsfrauen, die schweigsame Todesgåttin, wird ihn in

    ihre Arme nehmen,