Das ökonomische Problem des Masochismus 1924-002/1931
  • S.

    Die infantile Genitalorganisation 193

    Theorien greifen wir über die Zeitdauer der infantilen Sexual-
    periode hinaus.

    Es ist nicht unwichtig, sich vorzuhalten, welche Wandlungen
    die uns geläufige geschlechtliche Polarität während der kind-
    lichen Sexualentwicklung durchmacht. Ein erster Gegensatz
    wird mit der Objektwahl, die ja Subjekt und Objekt voraus-
    setzt, eingeführt. Auf der Stufe der prägenitalen sadistisch-
    analen Organisation ist von männlich und weiblich noch nicht
    zu reden, der Gegensatz von aktiv und passiv ist der
    herrschende.* Auf der nun folgenden Stufe der infantilen
    Genitalorganisation gibt es zwar ein männlich, aber kein
    weiblich; der Gegensatz lautet hier: männliches Geni-
    tale oder kastriert. Erst mit der Vollendung der Ent-
    wicklung zur Zeit der Pubertät fällt die sexuelle Polarität mit
    männlich und weiblich zusammen. Das Männliche
    faßt das Subjekt, die Aktivität und den Besitz des Penis
    zusammen, das Weibliche setzt das Objekt und die Passivität
    fort. Die Vagina wird nun als Herberge des Penis geschätzt,
    sie tritt das Erbe des Mutterleibes an.

    DAS ÖKONOMISCHE PROBLEM
    DES MASOCHISMUS

    (1924)

    Man hat ein Recht dazu, die Existenz der masochistischen
    Strebung im menschlichen Triebleben als ökonomisch råtsel-
    haft zu bezeichnen. Denn, wenn das Lustprinzip die seelischen
    Vorgänge in solcher Weise beherrscht, daß Vermeidung von
    Unlust und Gewinnung von Lust deren nächstes Ziel wird,
    so ist der Masochismus unverständlich. Wenn Schmerz und

    6) Siehe: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 5. Aufl., S. 62.
    [= Gesamtausgabe, Bd. V, S. 73.]

    Freud, Kleine Schriften zur Sexualtheorie 13

  • S.

    194 Das ökonomische Problem

    Unlust nicht mehr Warnungen, sondern selbst Ziele sein
    können, ist das Lustprinzip lahmgelegt, der Wächter unseres
    Seelenlebens gleichsam narkotisiert.

    Der Masochismus erscheint uns so im Lichte einer großen
    Gefahr, was für seinen Widerpart, den Sadismus, in keiner
    Weise gilt. Wir fühlen uns versucht, das Lustprinzip den
    Wächter unseres Lebens anstatt nur unseres Seelenlebens zu
    heißen. Aber dann stellt sich die Aufgabe her, das Verhältnis
    des Lustprinzips zu den beiden Triebarten, die wir unter-
    schieden haben, den Todestrieben und den erotischen (libidi-
    nåsen) Lebenstrieben zu untersuchen, und wir können in der
    Wiirdigung des masochistischen Problems nicht weitergehen,
    ehe wir nicht diesem Rufe gefolgt sind.

    Wir haben, wie erinnerlich,* das Prinzip, welches alle
    seelischen Vorgänge beherrscht, als Spezialfall der Fechner-
    schen Tendenz zur Stabilität aufgefaft und somit
    dem seelischen Apparat die Absicht zugeschrieben, die ihm zu-
    strömende Erregungssumme zu nichts zu machen oder wenig-
    stens nach Möglichkeit niedrig zu halten. Barbara Low
    hat für dies supponierte Bestreben den Namen Nirwana-
    prinzip vorgeschlagen, den wir akzeptieren. Aber wir
    haben das Lust-Unlustprinzip unbedenklich mit diesem Nir-
    wanaprinzip identifiziert. Jede Unlust müßte also mit einer
    Erhöhung, jede Lust mit einer Erniedrigung der im Seelischen
    vorhandenen Reizspannung zusammenfallen, das Nirwana-
    (und das mit ihm angeblich identische Lust-)prinzip würde
    ganz im Dienst der Todestriebe stehen, deren Ziel die Über-
    führung des unsteten Lebens in die Stabilität des anorganischen
    Zustandes ist, und würde die Funktion haben, vor den An-
    sprüchen der Lebenstriebe, der Libido, zu warnen, welche den
    angestrebten Ablauf des Lebens zu stören versuchen. Allein

    ı) Jenseits des Lustprinzips. I. [Ges. Schriften, Bd. VI.]

  • S.

    des Masochismus 195

    diese Auffassung kann nicht richtig sein. Es scheint, daß wir
    Zunahme und Abnahme der Reizgrößen direkt in der Reihe
    der Spannungsgefiihle empfinden, und es ist nicht zu be-
    zweifeln, daß es lustvolle Spannungen und unlustige Ent-
    spannungen gibt. Der Zustand der Sexualerregung ist das auf-
    dringlichste Beispiel einer solchen lustvollen Reizvergrófierung,
    aber gewiß nicht das einzige. Lust und Unlust können also
    nicht auf Zunahme oder Abnahme einer Quantitåt, die wir
    Reizspannung heiflen, bezogen werden, wenngleich sie offenbar
    mit diesem Moment viel zu tun haben. Es scheint, daf sie
    nicht an diesem quantitativen Faktor hängen, sondern an
    einem Charakter desselben, den wir nur als qualitativ be-
    zeichnen können. Wir wären viel weiter in der Psychologie,
    wenn wir anzugeben wiiften, welches dieser qualitative Cha-
    rakter ist. Vielleicht ist es der Rhythmus, der zeitliche Ablauf
    in den Verånderungen, Steigerungen und Senkungen der Reiz-
    quantitåt; wir wissen es nicht.

    Auf jeden Fall müssen wir inne werden, daß das dem
    Todestricb zugehörige Nirwanaprinzip im Lebewesen eine
    Modifikation erfahren hat, durch die es zum Lustprinzip
    wurde, und werden es von nun an vermeiden, die beiden
    Prinzipien fiir eines zu halten. Von welcher Macht diese Modi-
    fikation ausging, ist, wenn man dieser Uberlegung iiberhaupt
    folgen will, nicht schwer zu erraten. Es kann nur der Lebens-
    trieb, die Libido, sein, der sich in solcher Weise seinen Anteil
    an der Regulierung der Lebensvorgånge neben dem Todestrieb
    erzwungen hat. Wir erhalten so eine kleine, aber interessante
    Bezichungsreihe: das Nir w a n a prinzip drückt die Tendenz
    des Todestriebes aus, das Lustprinzip vertritt den An-
    spruch der Libido und dessen Modifikation, das Realitäts-
    prinzip den Einfluß der Außenwelt.

    Keines ‚dieser drei Prinzipien wird eigentlich vom anderen
    außer Kraft gesetzt. Sie wissen sich in der Regel miteinander

    E

  • S.

    196 Das ökonomische Problem

    zu vertragen, wenngleich es gelegentlich zu Konflikten führen
    muß, daß von einer Seite die quantitative Herabminderung
    der Reizbelastung, von der anderen ein qualitativer Charakter
    derselben, und endlich ein zeitlicher Aufschub der Reizabfuhr
    und ein zeitweiliges Gewährenlassen der Unlustspannung zum
    Ziel gesetzt ist.

    Der Schluß aus diesen Erörterungen ist, daß die Bezeichnung
    des Lustprinzips als Wächter des Lebens nicht abgelehnt
    werden kann.

    Kehren wir zum Masochismus zurück. Er tritt unserer
    Beobachtung in drei Gestalten entgegen, als eine Bedingtheit
    der Sexualerregung, als ein Ausdruck des femininen Wesens
    und als eine Norm des Lebensverhaltens (behaviour). Man
    kann dementsprechend einen erogenen, femininen
    und moralischen Masochismus unterscheiden. Der erstere, .
    der erogene Masochismus, die Schmerzlust, liegt auch den
    beiden anderen Formen zugrunde, er ist biologisch und kon-
    stitutionell zu begründen, bleibt unverständlich, wenn man
    sich nicht zu einigen Annahmen über ganz dunkle Verhältnisse
    entschließt. Die dritte, in gewisser Hinsicht wichtigste Er-
    scheinungsform des Masochismus, ist als meist unbewußtes
    Schuldgefühl erst neuerlich von der Psychoanalyse gewürdigt
    worden, läßt aber bereits eine volle Aufklärung und Einreihung
    in unsere sonstige Erkenntnis zu. Der feminine Masochismus
    dagegen ist unserer Beobachtung am besten zugänglich, am
    wenigsten rätselhaft und in all seinen Beziehungen zu über-
    sehen. Mit ihm mag unsere Darstellung beginnen.

    Wir kennen diese Art des Masochismus beim Manne (auf
    den ich mich aus Gründen des Materials hier beschränke) in
    zureichender Weise aus den Phantasien masochistischer (häufig
    darum impotenter) Personen, die entweder in den onanistischen
    Akt auslaufen oder für sich allein die Sexualbefriedigung
    darstellen. Mit den Phantasien stimmen vollkommen überein

  • S.

    des Masochismus 197

    die realen Veranstaltungen masochistischer Perverser, sei es,
    daß sie als Selbstzweck durchgeführt werden oder zur Her-
    stellung der Potenz und Einleitung des Geschlechtsakts dienen.
    In beiden Fillen — die Veranstaltungen sind ja nur die
    spielerische Ausführung der Phantasien — ist der manifeste
    Inhalt: geknebelt, gebunden, in schmerzhafter Weise ge-
    schlagen, gepeitscht, irgendwie miflhandelt, zum unbedingten
    Gehorsam gezwungen, beschmutzt, erniedrigt zu werden. Weit
    seltener. und nur mit großen Einschränkungen werden auch
    Verstümmelungen in diesen Inhalt aufgenommen. Die nächste,
    bequem zu erreichende Deutung ist, daß der Masochist wie ein
    kleines, hilfloses und abhängiges Kind behandelt werden will,
    besonders aber wie ein schlimmes Kind. Es ist überflüssig,
    Kasuistik anzuführen, das Material ist sehr gleichartig, jedem
    Beobachter, auch dem Nichtanalytiker, zuginglich. Hat man
    aber Gelegenheit, Fille zu studieren, in denen die maso-
    chistischen Phantasien eine besonders reiche Verarbeitung er-
    fahren haben, so macht man leicht die Entdeckung, daf sie
    die Person in eine für die Weiblichkeit charakteristische Situa-
    tion versetzen, also Kastriertwerden, Koitiertwerden oder Ge-
    båren bedeuten. Ich habe darum diese Erscheinungsform des
    Masochismus den femininen, gleichsam a potiori, genannt,
    obwohl so viele seiner Elemente auf das Infantilleben hin-
    weisen. Diese Ubereinanderschichtung des Infantilen und des
    Femininen wird spáter ihre einfache Erklirung finden. Die
    Kastration oder die sie vertretende Blendung hat oft in uen
    Phantasien ihre negative Spur in der Bedingung hinterlassen,
    daß gerade den Genitalien oder den Augen kein Schaden
    geschehen darf. (Die masochistischen Quälereien machen
    übrigens selten einen so ernsthaften Eindruck wie die —
    phantasierten oder inszenierten 一 Grausamkeiten des Sa-
    dismus.) Im manifesten Inhalt der masochistischen Phantasien
    kommt auch ein Schuldgefihl zum Ausdruck, indem an-

  • S.

    198 Das ökonomische Problem

    genommen wird, daf die betreffende Person etwas verbrochen
    habe (was unbestimmt gelassen wird), was durch alle die
    schmerzhaften und quilerischen Prozeduren gesühnt werden
    soll. Das sieht wie eine oberflichliche Rationalisierung der
    masochistischen Inhalte aus, es steckt aber die Beziehung zur
    infantilen Masturbation dahinter. Andrerseits leitet dieses
    Schuldmoment zur dritten, moralischen Form des Masochismus
    über.

    Der beschriebene feminine Masochismus ruht ganz auf dem
    primären, erogenen, der Schmerzlust, deren Erklärung nicht
    ohne weit rückgreifende Erwägungen gelingt.

    Ich habe in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheoric“
    im Abschnitt über die Quellen der infantilen Sexualität die
    Behauptung aufgestellt, daß die Sexualerregung als Neben-
    wirkung bei einer großen Reihe innerer Vorgänge entsteht,
    sobald die Intensität dieser Vorgänge nur gewisse quantitative
    Grenzen überstiegen hat. Ja, daß vielleicht nichts Bedeut-
    sameres im Organismus vorfällt, was nicht seine Komponente
    zur Erregung des Sexualtriebs abzugeben hätte. Demnach
    müßte auch die Schmerz- und Unlusterregung diese Folge
    haben. Diese libidinSse Miterregung bei Schmerz- und Unlust-
    spannung wire ein infantiler physiologischer Mechanismus, der
    spåterhin versiegt. Sie würde in den verschiedenen Sexual-
    konstitutionen eine verschieden große Ausbildung erfahren,
    jedenfalls die physiologische Grundlage abgeben, die dann als
    erogener Masochismus psychisch überbaut wird.

    Die Unzulänglichkeit dieser Erklärung zeigt sich aber darin,
    daß in ihr kein Licht auf die regelmäßigen und intimen Be-
    ziehungen des Masochismus zu seinem Widerpart im Trieb-
    leben, dem Sadismus, geworfen wird. Geht man ein Stück
    weiter zurück bis zur Annahme der zwei Triebarten, die wir
    uns im Lebewesen wirksam denken, so kommt man zu einer
    anderen, aber der obigen nicht widersprechenden Ableitung.

  • S.

    des Masochismus 199

    Die Libido trifft in (vielzelligen) Lebewesen auf den dort
    herrschenden Todes- oder Destruktionstrieb, welcher dies
    Zellenwesen zersetzen und jeden einzelnen Elementarorga-
    nismus in den Zustand der anorganischen Stabilitit (wenn
    diese auch nur relativ sein mag) überführen möchte. Sie hat
    die Aufgabe, diesen destruierenden Trieb unschädlich zu
    machen, und entledigt sich ihrer, indem sie ihn zum großen
    Teil und bald mit Hilfe eines besonderen Organsystems, der
    Muskulatur, nach außen ableitet, gegen die Objekte der
    Außenwelt richtet. Er heiße dann Destruktionstrieb, Be-
    måchtigungstrieb, Wille zur Macht. Ein Anteil dieses Triebes
    wird direkt in den Dienst der Sexualfunktion gestellt, wo er
    Wichtiges zu leisten hat. Dies ist der eigentliche Sadismus.
    Ein anderer Anteil macht diese Verlegung nach außen nicht
    mit, er verbleibt im Organismus und wird dort mit Hilfe der
    erwähnten sexuellen Miterregung libidinôs gebunden; in ihm
    haben wir den ursprünglichen, erogenen Masochismus zu er-
    kennen.

    Es fehlt uns jedes physiologische Verständnis dafür, auf
    welchen Wegen und mit welchen Mitteln sich diese Bändigung
    des Todestriebes durch die Libido vollziehen mag. Im psycho-
    analytischen Gedankenkreis können wir nur annehmen, daß
    eine sehr ausgiebige, in ihren Verhältnissen variable Ver-
    mischung und Verquickung der beiden Triebarten zustande
    kommt, so daß wir überhaupt nicht mit reinen Todes- und
    Lebenstrieben, sondern nur mit verschiedenwertigen Vermen-
    gungen derselben rechnen sollten. Der Triebvermischung mag
    unter gewissen Einwirkungen eine Entmischung derselben ent-
    sprechen. Wie groß die Anteile der Todestriebe sind, welche
    sich solcher Bändigung durch die Bindung an libidinöse Zu-
    sätze entziehen, läßt sich derzeit nicht erraten.

    Wenn man sich über einige Ungenauigkeit hinaussetzen
    will, kann man sagen, der im Organismus wirkende Todes-

  • S.

    200 Das ökonomische Problem

    trieb — der Ursadismus — sei mit dem Masochismus identisch.
    Nachdem sein Hauptanteil nach außen auf die Objekte ver-
    legt worden ist, verbleibt als sein Residuum im Inneren der
    eigentliche erogene Masochismus, der einerseits eine Kom-
    ponente der Libido geworden ist, andrerseits noch immer das
    eigene Wesen zum Objekt hat. So wire dieser Masochismus
    ein Zeuge und Uberrest jener Bildungsphase, in der die fiir
    das Leben so wichtige Legierung von Todestrieb und Eros
    geschah. Wir werden nicht erstaunt sein zu hören, daß unter
    bestimmten Verhältnissen der nach außen gewendete, pro-
    jizierte, Sadismus oder Destruktionstrieb wieder introjiziert,
    nach innen gewendet werden kann, solcherart in seine frithere
    Situation regrediert. Er ergibt dann den sekundåren Maso-
    chismus, der sich zum urspringlichen hinzuaddiert.

    Der erogene Masochismus macht alle Entwicklungsphasen
    der Libido mit und entnimmt ihnen seine wechselnden
    psychischen Umkleidungen. Die Angst, vom Totemtier (Vater)
    gefressen zu werden, stammt aus der primitiven oralen Organi-
    sation, der Wunsch, vom Vater geschlagen zu werden, aus
    der darauffolgenden sadistisch-analen Phase; als Niederschlag
    der phallischen Organisationsstufe? tritt die Kastration, ob-
    wohl später verleugner, in den Inhalt der masochistischen
    Phantasien ein, von der endgültigen Genitalorganisation
    leiten sich natürlich die für die Weiblichkeit charakteristi-
    schen Situationen des Koitiertwerdens und des Gebärens ab.
    Auch die Rolle der Nates im Masochismus ist, abgesehen von
    der offenkundigen Realbegriindung, leicht zu verstehen. Die
    Nates sind die erogen bevorzugte Kórperpartie der sadistisch-
    analen Phase wie die Mamma der oralen, der Penis der
    genitalen.

    Die dritte Form des Masochismus, der moralische Maso-
    chismus ist vor allem dadurch bemerkenswert, daß sie ihre

    2) Siehe: Die infantile Genitalorganisation (S. 188 dieses Bandes.)

  • S.

    des Masochismus 201

    Bezichung zu dem, was wir als Sexualitåt erkennen, ge-
    lockert hat. An allen masochistischen Leiden haftet sonst die
    Bedingung, daß sie von der geliebten Person ausgehen, auf
    ihr Geheiß erduldet werden; diese Einschränkung ist beim
    moralischen Masochismus fallen gelassen. Das Leiden selbst
    ist das, worauf es ankommt; ob es von einer geliebten oder
    gleichgültigen Person verhängt wird, spielt keine Rolle; es
    mag auch von unpersónlichen Mächten oder Verhältnissen
    verursacht sein, der richtige Masochist hält immer seine Wange
    hin, wo er Aussicht hat, einen Schlag zu bekommen. Es liegt
    sehr nahe, in der Erklårung dieses Verhaltens die Libido
    bei Seite zu lassen und sich auf die Annahme zu beschränken,
    daß hier der Destruktionstrieb wieder nach innen gewendet
    wurde und nun gegen das eigene Selbst wiitet, aber es sollte
    doch einen Sinn haben, daf der Sprachgebrauch die Beziehung
    dieser Norm des Lebensverhaltens zur Erotik nicht aufgegeben
    hat und auch solche Selbstbeschädiger Masochisten heißt.
    Einer technischen Gewöhnung getreu wollen wir uns zuerst
    mit der extremen, unzweifelhaft pathologischen Form dieses
    Masochismus beschäftigen. Ich habe an anderer Stelle* aus-
    geführt, daß wir in der analytischen Behandlung auf Patienten
    stoßen, deren Benehmen gegen die Einflüsse der Kur uns
    nötigt, ihnen ein ,unbewufBtes Schuldgefühl zuzuschreiben.
    Ich habe dort angegeben, woran man diese Personen erkennt
    („die negative therapeutische Reaktion"), und auch nicht ver-
    hehlt, daß die Stärke einer solchen Regung einen der schwersten
    Widerstände und die größte Gefahr für den Erfolg unserer
    ärztlichen oder erzieherischen Absichten bedeutet. Die Be-
    friedigung dieses unbewußten Schuldgefühls ist der vielleicht
    mächtigste Posten des in der Regel zusammengesetzten Krank-
    heitsgewinnes, der Kräftesumme, welche sich gegen die Ge-
    nesung sträubt und das Kranksein nicht aufgeben will; das

    3) Das Ich und das Es. [Ges. Schriften, Bd. VI.]

  • S.

    202 Das ökonomische Problem

    Leiden, das die Neurose mit sich bringt, ist gerade das Moment,
    durch das sie der masochistischen Tendenz wertvoll wird. Es
    ist auch lehrreich zu erfahren, daß gegen alle Theorie und
    Erwartung eine Neurose, die allen therapeutischen Bemiihungen
    getrotzt hat, verschwinden kann, wenn die Person in das
    Elend einer unglücklichen Ehe geraten ist, ihr Vermögen ver-
    loren oder eine bedrohliche organische Erkrankung erworben
    hat. Eine Form des Leidens ist dann durch eine andere ab-
    gelöst worden und wir sehen, es kam nur darauf an, ein
    gewisses Maß von Leiden festhalten zu können.

    Das unbewußte Schuldgefühl wird uns von den Patienten
    nicht leicht geglaubt. Sie wissen zu gut, in welchen Qualen
    (Gewissensbissen) sich ein bewußtes Schuldgefühl, Schuld-
    bewußtsein, äußert, und können darum nicht zugeben, daß
    sie ganz analoge Regungen in sich beherbergen sollten, von
    denen sie so gar nichts verspüren. Ich meine, wir tragen ihrem
    Einspruch in gewissem Maße Rechnung, wenn wir auf die
    ohnehin psychologisch inkorrekte Benennung „unbewußtes
    Schuldgefühl“ verzichten und dafür ,Strafbedürfnis" sagen,
    womit wir den beobachteten Sachverhalt ebenso treffend
    decken. Wir können uns aber nicht abhalten lassen, dies un-
    bewufte Schuldgefühl nach dem Muster des bewußten zu
    beurteilen und zu lokalisieren.

    Wir haben dem Uber-Ich die Funktion des Gewissens zu-
    geschrieben und im Schuldbewuftsein den Ausdruck einer
    Spannung zwischen Ich und Uber-Ich erkannt. Das Ich
    reagiert mit Angstgefühlen (Gewissensangst) auf die Wahr-
    nehmung, daf es hinter den von seinem Ideal, dem Über-Ich,
    gestellten Anforderungen zuriickgeblieben ist, Nun verlangen
    wir zu wissen, wie das Uber-Ich zu dieser anspruchsvollen
    Rolle gekommen ist, und warum das Ich im Falle einer
    Differenz mit seinem Ideal sich fürchten muß.

    Wenn wir gesagt haben, das Ich finde seine Funktion darin,

  • S.

    des Masochismus 203

    die Ansprüche der drei Instanzen, denen es dient, miteinander
    zu vereinbaren, sie zu versóhnen, so können wir hinzufügen,
    es hat auch dabei sein Vorbild, dem es nachstreben kann, im
    Uber-Ich. Dies Uber-Ich ist nämlich ebensosehr der Vertreter
    des Es wie der Außenwelt. Es ist dadurch entstanden, daß
    die ersten Objekte der libidinósen Regungen des Es, das
    Elternpaar, ins Ich introjiziert wurden, wobei die Beziehung
    zu ihnen desexualisiert wurde, eine Ablenkung von den
    direkten Sexualzielen erfuhr. Auf diese Art wurde erst die
    Überwindung des Odipuskomplexes ermöglicht. Das Uber-Ich
    behielt nun wesentliche Charaktere der introjizierten Per-
    sonen bei, ihre Macht, Strenge, Neigung zur Beaufsichtigung
    und Bestrafung. Wie an anderer Stelle ausgefiihrt,* ist es leicht
    denkbar, daf durch die Triebentmischung, welche mit einer
    solchen Einfithrung ins Ich einhergeht, die Strenge eine Steige-
    rung erfuhr. Das Uber-Ich, das in ihm wirksame Gewissen,
    kann nun hart, grausam, unerbittlich gegen das von ihm be-
    hütete Ich werden. Der kategorische Imperativ Kants ist
    so der direkte Erbe des Odipuskomplexes.

    Die nimlichen Personen aber, welche im Uber-Ich als
    Gewissensinstanz weiterwirken, nachdem sie aufgehört haben,
    Objekte der libidinósen Regungen des Es zu sein, gehören
    andrerseits auch der realen Außenwelt an. Dieser sind sie ent-
    nommen worden; ihre Macht, hinter der sich alle Einfliisse
    der Vergangenheit und Uberlieferung verbergen, war eine der
    fühlbarsten AuBerungen der Realität. Dank diesem Zusammen-
    fallen wird das Uber-Ich, der Ersatz des Odipuskomplexes,
    auch zum Repräsentanten der realen Außenwelt und so zum
    Vorbild fiir das Streben des Ichs.

    Der Odipuskomplex erweist sich so, wie bereits historisch
    gemutmaft wurde,” als die Quelle unserer individuellen Sitt-

    4) Das Ich und das Es.
    5) Totem und Tabu. Abschnitt IV. [Ges. Schriften, Bd. X.]

  • S.

    204 Das ökonomische Problem

    lichkeit (Moral). Im Laufe der Kindheitsentwicklung, welche
    zur fortschreitenden Loslósung von den Eltern führt, tritt
    deren persönliche Bedeutung fiir das Uber-Ich zurück. An die
    von ihnen eriibrigten Imagines schließen dann die Einflüsse von
    Lehrern, Autoritäten, selbstgewihlten Vorbildern und sozial
    anerkannten Helden an, deren Personen von dem resistenter
    gewordenen Ich nicht mehr introjiziert zu werden brauchen.
    Die letzte Gestalt dieser mit den Eltern beginnenden Reihe
    ist die dunkle Macht des Schicksals, welches erst die wenigsten
    von uns unpersönlich zu erfassen vermögen. Wenn der hol-
    ländische Dichter Multatuli* die Moiga der Griechen durch
    das Götterpaar A⑥yoc rai "Avávxn ersetzt, so ist dagegen
    wenig einzuwenden; aber alle, die die Leitung des Welt-
    geschehens der Vorsehung, Gott oder Gott und der Natur
    übertragen, erwecken den Verdacht, daß sie diese äußersten
    und fernsten Gewalten immer noch wie ein Elternpaar —
    mythologisch — empfinden und sich mit ihnen durch libidinöse
    Bindungen verknüpft glauben. Ich habe im „Ich und Es“ den
    Versuch gemacht, auch die reale Todesangst der Menschen von
    einer solchen elterlichen Auffassung des Schicksals abzuleiten.
    Es scheint sehr schwer, sich von ihr frei zu machen.

    Nach diesen Vorbereitungen können wir zur Würdigung
    des moralischen Masochismus zurückkehren. Wir sagten, die
    betreffenden Personen erwecken durch ihr Benehmen — in der
    Kur und im Leben — den Eindruck, als seien sie übermäßig
    moralisch gehemmt, ständen unter der Herrschaft eines be-
    sonders empfindlichen Gewissens, obwohl ihnen von solcher
    Übermoral nichts bewußt ist. Bei näherem Eingehen bemerken
    wir wohl den Unterschied, der eine solche unbewußte Fort-
    setzung der Moral vom moralischen Masochismus trennt. Bei
    der ersteren fällt der Akzent auf den gesteigerten Sadismus

    6) Ed. Douwes Dekker (1820—1887).

  • S.

    des Masochismus 205

    des Uber-Ichs, dem das Ich sich unterwirft, beim letzteren
    hingegen auf den eigenen Masochismus des Ichs, der nach
    Strafe, sei es vom Uber-Ich, sei es von den Elternmichten
    drauften, verlangt. Unsere anfingliche Verwechslung darf ent-
    schuldigt werden, denn beide Male handelt es sich um eine
    Relation zwischen dem Ich und dem Uber-Ich oder ihm gleich-
    stehenden Måchten; in beiden Fållen kommt es auf ein Be-
    diirfnis hinaus, das durch Strafe und Leiden befriedigt wird.
    Es ist dann ein kaum gleichgültiger Nebenumstand, daß der
    Sadismus des Uber-Ichs meist grell bewufit wird, wåhrend
    das masochistische Streben des Ichs in der Regel der Person
    verborgen bleibt und aus ihrem Verhalten erschlossen
    werden muß.

    Die Unbewußtheit des moralischen Masochismus leitet uns
    auf eine naheliegende Spur. Wir konnten den Ausdruck „un-
    bewußtes Schuldgefühl“ übersetzen als Strafbedürfnis von
    seiten einer elterlichen Macht. Nun wissen wir, daß der in
    Phantasien so häufige Wunsch, vom Vater geschlagen zu
    werden, dem anderen sehr nahe steht, in passive (feminine)
    sexuelle Beziehung zu ihm zu treten, und nur eine regressive
    Entstellung desselben ist, Setzen wir diese Aufklärung in den
    Inhalt des moralischen Masochismus ein, so wird dessen ge-
    heimer Sinn uns offenbar. Gewissen und Moral sind durch
    die Überwindung, Desexualisierung, des Odipuskomplexes ent-
    standen; durch den moralischen Masochismus wird die Moral
    wieder sexualisiert, der Odipuskomplex neu belebt, eine Re-
    gression von der Moral zum Odipuskomplex angebahnt. Dies
    geschieht weder zum Vorteil der Moral noch des Individuums.
    Der einzelne kann zwar neben seinem Masochismus sein volles
    oder ein gewisses Maß von Sittlichkeit bewahrt haben, es
    kann aber auch ein gutes Stück seines Gewissens an den Maso-
    chismus verlorengegangen sein. Andrerseits schafft der Maso-
    chismus die Versuchung zum ,,siindhaften“ Tun, welches dann

  • S.

    206 Das EP inde Problem

    durch die Vorwürfe des sadistischen Gewissens (wie bei so
    vielen russischen Charaktertypen) oder durch die Ziichtigung
    der großen Elternmacht des Schicksals gesühnt werden muß.
    Um die Bestrafung durch diese letzte Elternvertretung zu pro-
    vozieren, muß der Masochist das Unzwedkmiflige tun, gegen
    seinen eigenen Vorteil arbeiten, die Aussichten zerstören, die
    sich ihm in der realen Welt eröffnen, und eventuell seine
    eigene reale Existenz vernichten,

    Die Rückwendung des Sadismus gegen die eigene Person
    ereignet sich regelmäßig bei der kulturellen Trieb-
    unterdrückung, welche einen großen Teil der destruk-
    tiven Triebkomponenten der Person vom der Verwendung im
    Leben abhält. Man kann sich vorstellen, daß dieser zurück-
    getretene Anteil des Destruktionstriebes als eine Steigerung des
    Masochismus im Ich zum Vorschein kommt. Die Phänomene
    des Gewissens lassen aber erraten, daß die von der Außenwelt
    wiederkehrende Destruktion auch ohne solche Verwandlung
    vom Über-Ich aufgenommen wird und dessen Sadismus gegen
    das Ich erhöht. Der Sadismus des Über-Ichs und der Maso-
    chismus des Ichs ergänzen einander und vereinigen sich zur
    Hervorrufung derselben Folgen. Ich meine, nur so kann man
    verstehen, daß aus der Triebunterdrückung — häufig oder ganz
    allgemein — ein Schuldgefühl resultiert, und daß das Gewissen
    um so strenger und empfindlicher wird, je mehr sich die Person
    der Aggression gegen andere enthält. Man könnte erwarten,
    daß ein Individuum, welches von sich weiß, daß es kulturell
    unerwünschte Aggressionen zu vermeiden pflegt, darum ein
    gutes Gewissen hat und sein Ich minder mißtrauisch über-
    wacht. Man stellt es gewöhnlich so dar, als sei die sittliche
    Anforderung das Primäre und der Triebverzicht ihre Folge.
    Dabei bleibt die Herkunft der Sittlichkeit unerklärt. In Wirk-
    lichkeit scheint es umgekehrt zuzugehen; der erste Triebverzicht
    ist ein durch äußere Mächte erzwungener und er schafft erst

  • S.

    des Masochismus 207

    die Sittlichkeit, die sich im Gewissen ausdriickt und weiteren
    Triebverzicht fordert.

    So wird der moralische Masochismus zum klassischen Zeugen
    fiir die Existenz der Triebvermischung. Seine Gefährlichkeit
    rührt daher, daß er vom Todestrieb abstammt, jenem Anteil
    desselben entspricht, welcher der Auswärtswendung als De-
    struktionstrieb entging. Aber da er andrerseits die Bedeutung
    einer erotischen Komponente hat, kann auch die Selbstzer-
    störung der Person nicht ohne libidinöse Befriedigung erfolgen.

    EINIGE PSYCHISCHE FOLGEN
    DES ANATOMISCHEN GESCHLECHTS-
    UNTERSCHIEDS

    (1925)

    Meine und meiner Schüler Arbeiten vertreten mit stetig
    wachsender Entschiedenheit die Forderung, daß die Analyse
    der Neurotiker auch die erste Kindheitsperiode, die Zeit der
    Frühblüte des Sexuallebens, durchdringen müsse. Nur wenn
    man die ersten Äußerungen der mitgebrachten Triebkonsti-
    tution und die Wirkungen der frühesten Lebenseindrücke er-
    forscht, kann man die Triebkräfte der späteren Neurose richtig
    erkennen und ist gesichert gegen die Irrtümer, zu denen man
    durch die Umbildungen und Überlagerungen der Reifezeit ver-
    lockt würde. Diese Forderung ist nicht nur theoretisch be-
    deutsam, sie hat auch praktische Wichtigkeit, denn sie scheidet
    unsere Bemühungen von der Arbeit solcher Ärzte, die, nur
    therapeutisch orientiert, sich eine Strecke weit analytischer
    Methoden bedienen. Solch eine Frühzeitanalyse ist langwierig,
    mühselig und stellt Ansprüche an Arzt und Patient, deren
    Erfüllung die Praxis nicht immer entgegenkommt. Sie führt