S.
229
XV.
BEITRÄGE ZUR PSYCHOLOGIE DES LIEBESLEBENS.*)
III.
DAS TABU DER VIRGINITÄT.
Wenige Einzelheiten des Sexuallebens primitiver Völker
wirken so befremdend auf unser Gefühl wie deren Einschät-
zung der Virginität, der weiblichen Unberührtheit. Uns er-
scheint die Wertschätzung der Virginität von seiten des wer-
benden Mannes so feststehend und selbstverständlich, daß
wir beinahe in Verlegenheit geraten, wenn wir dieses Urteil
begründen sollen. Die Forderung, das Mädchen dürfe in die
Ehe mit dem einen Manne nicht die Erinnerung an Sexual-
verkehr mit einem anderen mitbringen, ist ja nichts anderes,
als die konsequente Fortführung des ausschließlichen Besitz-
rechtes auf ein Weib, welches das Wesen der Monogamie
ausmacht, die Erstreckung dieses Monopols auf die Ver-
gangenheit.Es fällt uns dann nicht schwer, was zuerst ein Vor-
urteil zu sein schien, aus unseren Meinungen über das Liebes-
leben des Weibes zu rechtfertigen. Wer zuerst die durch lange
Zeit mühselig zurückgehaltene Liebessehnsucht der Jungfrau
befriedigt und dabei die Widerstände überwunden hat, die
in ihr durch die Einflüsse von Milieu und Erziehung aufgebaut*)Hier zuerst veröffentlicht.
S.
230
waren, der wird von ihr in ein dauerndes Verhältnis
gezogen, dessen Möglichkeit sich keinem anderen mehr er-
öffnet. Auf Grund dieses Erlebnisses stellt sich bei der Frau
ein Zustand von Hörigkeit her, der die ungestörte Fortdauer
ihres Besitzes verbürgt und sie widerstandsfähig macht gegen
neue Eindrücke und fremde Versuchungen.Den Ausdruck „geschlechtliche Hörigkeit“ hat 1892
v. Krafft‑Ebing*) zur Bezeichnung der Tatsache gewählt,
daß eine Person einen ungewöhnlich hohen Grad von Ab -
hängigkeit und Unselbständigkeit gegen eine andere Person
erwerben kann, mit welcher sie im Sexualverkehr steht. Diese
Hörigkeit kann gelegentlich sehr weit gehen, bis zum Verlust
jedes selbständigen Willens und bis zur Erduldung der schwer-
sten Opfer am eigenen Interesse; der for hat aber nicht
versäumt, zu bemerken, daß ein gewisses Maß solcher Ab-
hängigkeit „durchaus notwendig ist, wenn die Verbindung
einige Dauer haben soll“. Ein solches Maß von sexueller
Hörigkeit ist in der Tat unentbehrlich zur Aufrechterhaltung
der kulturellen Ehe und zur Hintanhaltung der sie bedrohen-
den polygamen Tendenzen, und in unserer sozialen Gemein-
schaft wird dieser Faktor regelmäßig in Anrechnung gebracht.Ein „ungewöhnlicher Grad von Verliebtheit und Charak-
terschwäche“ einerseits, uneingeschränkter Egoismus beim an-
deren Teil, aus diesem Zusammentreffen leitet v. Krafft‑Ebing
die Entstehung der sexuellen Hörigkeit ab. Ana-
lytische Erfahrungen gestatten es aber nicht, sich mit die-
sem einfachen Erklärungsversuch zu begnügen. Man kann
vielmehr erkennen, daß die Größe des überwundenen Sexual-
widerstandes das entscheidende Moment ist, dazu die Konzentration*)v. Krafft‑Ebing, Bemerkungen über „geschlechtliche Hörig-
keit“ und Masochismus. (Jahrbücher für Psychiatrio, X. Bd., 1892.)S.
231
und Einmaligkeit des Vorganges der Überwindung.
Die Hörigkeit ist demgemäß ungleich häufiger und intensiver
beim Weibe als beim Manne, bei letzterem aber in unseren
Zeiten immerhin häufiger als in der Antike. Wo wir die
sexuelle Hörigkeit bei Männern studieren konnten, erwies sie
sich als Erfolg der Überwindung einer psychischen Impotenz
durch ein bestimmtes Weib, an welches der betreffende Mann
von da an gebunden blieb. Viele auffällige Eheschließungen
und manches tragische Schicksal – selbst von weitreichen -
dem Belange – scheint in diesem Hergange seine Aufklärung
zu finden.Das nun zu erwähnende Verhalten primitiver Völker
beschreibt man nicht richtig, wenn man aussagt, sie legten
keinen Wert auf die Virginität, und zum Beweise dafür vor-
bringt, daß sie die Defloration der Mädchen außerhalb der
Ehe und vor dem ersten ehelichen Verkehre vollziehen lassen.
Es scheint im Gegenteile, daß auch für sie die Defloration
ein bedeutungsvoller Akt ist, aber sie ist Gegenstand eines
Tabu, eines religiös zu nennenden Verbotes, geworden. An-
statt sie dem Bräutigam und späteren Ehegatten des Mäd-
chens vorzubehalten, fordert die Sitte, daß dieser einer
solchen Leistung ausweiche.*)Es liegt nicht in meiner Absicht, die literarischen Zeug-
nisse für den Bestand dieses Sittenverbotes vollständig zu
sammeln, die geographische Verbreitung desselben zu ver-
folgen und alle Formen, in denen es sich äußert, aufzuzählen.
Ich begnüge mich also mit der Feststellung, daß*)Crawley, The mystic rose, a study of primitive marringe,
London 1902; Bartels‑Ploss, Das Weib in der Natur‑ und Völker-
kunde, 1891; verschiedene Stellen in Frazer, Taboo and the perils of
the soul, und Havelock Ellis, Studies in the psychology of sex.S.
232
eine solche, außerhalb der späteren Ehe fallende Beseitigung
des Hymens bei den heute lebenden primitiven Völkern etwas
sehr Verbreitetes ist. So äußert Crawley*): This marriage
ceremony consists in perforation of the hymen by some ap-
pointed person other than the husband; is is most common
in the lowest stages of culture, especially in Australia.Wenn aber die Defloration nicht durch den ersten ehe-
lichen Verkehr erfolgen soll, so muß sie vorher – auf irgend
eine Weise und von irgend welcher Seite – vorgenommen
worden sein. Ich werde einige Stellen aus Crawleys oben
erwähntem Buche anführen, welche über diese Punkte Aus-
kunft geben, die uns aber auch zu einigen kritischen Be-
merkungen berechtigen.S. 191: „Bei den Dieri und einigen Nachbarstämmen (in
Australien) ist es allgemeiner Brauch, das Hymen zu zer-
stören, wenn das Mädchen die Pubertät erreicht hat. Bei
den Portland‑ und Glenelg‑Stämmen fällt es einer alten Frau
zu, dies bei der Braut zu tun, und mitunter werden auch
weiße Männer in solcher Absicht aufgefordert, Mädchen zu
entjungfern.“**)S. 307: „Die absichtliche Zerreißung des Hymens wird
manchmal in der Kindheit, gewöhnlich aber zur Zeit der
Pubertät ausgeführt. … Sie wird oft – wie in Australien
mit einem offiziellen Begattungsakte kombiniert.“***)*)1. c. p. 347.
**)„Thus in the Dieri and neighbouring tribes it is the universal
custom when a girl reaches puberty to rupture the hymen.“ (Journ.
Anthrop. Inst., XXIV, 169.) In the Portland and Glenelg tribes this
is done to the bride by an old woman; and sometimes white men are
asked for this reason to deflower maidens. (Brough Smith, op. cit., II, 319.)***) The artificial rupture of the hymen sometimes takes place in
infancy, but generally at puberty. … It is often combined, as in
Australia, with a ceremonial act of intercourse.S.
233
S. 348: (Von australischen Stämmen, bei denen die be-
kannten exogamischen Heiratsbeschränkungen bestehen, nach
Mitteilung von Spencer und Gillen): „Das Hymen wird
künstlich durchbohrt, und die Männer, die bei dieser Opera-
tion zugegen waren, führen dann in festgesetzter Reihenfolge
einen (wohlgemerkt: zeremoniellen) Coitus mit dem Mädchen
aus. Der ganze Vorgang hat sozusagen zwei Akte: Die
Zerstörung des Hymens und darauf den Geschlechtsverkehr.“*)S. 349: „Bei den Masai (im äquatorialen Afrika) gehört
die Vornahme dieser Operation zu den wichtigsten Vorberei-
tungen für die Ehe. Bei den Sakais (Malaien), den Battas
(Sumatra) und den Alfoers auf Celebes wird die Defloration
vom Vater der Braut ausgeführt. Auf den Philippinen gab
es bestimmte Männer, die den Beruf hatten, Bräute zu de-
florieren, falls das Hymen nicht schon in der Kindheit von
einer dazu beauftragten alten Frau zerstört worden war. Bei
einigen Eskimostämmen wurde die Entjungferung der Braut
dem Angekok oder Priester überlassen.“**)Die Bemerkungen, die ich angekündigt habe, beziehen
sich auf zwei Punkte. Es ist erstens zu bedauern, daß in
diesen Angaben nicht sorgfältiger zwischen der bloßen Zer-
störung des Hymens ohne Koitus und dem Koitus zum Zwecke*)The hymen is arteficially perforated, and then the assisting
men have access (ceremonial, be it observed) to the girl in a stated
order. … The act is in two parts, perforation and intercourse.**)An important preliminary of marriage amongst the Masai is
the performance of this operation on the girl. (J. Thomson, op. cit. 258.)
This defloration is performed by the father of the bride amongst the
Sakais, Battas, and Alfoers of Celebes. (Ploß u. Bartels, op. cit. II, 490.)
In the Philippines there were certain men whose profession it was to
deflower brides, in case the hymen had not been ruptured in childhood
by an old woman who was sometimes employed for this. (Featherman,
op. cit. II, 474.) The defloration of the bride was amongst some Eskimo
tribes entrusted to the angekok, or priest. (id. III, 406.)S.
234
solcher Zerstörung unterschieden wird. Nur an einer Stelle
hörten wir ausdrücklich, daß der Vorgang sich in zwei Akte
zerlegt, in die (manuelle oder instrumentale) Defloration und
den darauf folgenden Geschlechtsakt. Das sonst sehr reich-
liche Material bei Bartels‑Ploß wird für unsere Zwecke
nahezu unbrauchbar, weil in dieser Darstellung die psycho-
logische Bedeutsamkeit des Deflorationsaktes gegen dessen
anatomischen Erfolg völlig verschwindet. Zweitens möchte
man gerne darüber belehrt werden, wodurch sich der ,,zere-
monielle" (rein formale, feierliche, offizielle) Koitus bei die-
sen Gelegenheiten vom regelrechten Geschlechtsverkehr un-
terscheidet. Die Autoren, zu denen ich Zugang hatte, waren
entweder zu schämig, sich darüber äußern, oder haben
wiederum die psychologische Bedeutung solcher sexueller
Details unterschätzt. Wir können hoffen, daß die Original-
berichte der Reisenden und Missionäre ausführlicher und
unzweideutiger sind, aber bei der heutigen Unzulänglichkeit
dieser meist fremdländischen Literatur kann ich nichts
Sicheres darüber sagen. Übrigens darf man sich über die
Zweifel in diesem zweiten Punkte mit der Erwägung hin-
wegsetzen, daß ein zeremonieller Scheinkoitus doch nur den
Ersatz und vielleicht die Ablösung für einen in früherer Zei -
ten voll ausgeführten darstellen wurde.*)Zur Erklärung dieses Tabu der Virginität kann man
verschiedenartige Momente heranziehen, die ich in flüch-
tiger Darstellung würdigen will. Bei der Defloration der
Mädchen wird in der Regel Blut vergossen; der erste*)Für zahlreiche andere Fälle von Hochzeitszeremoniell leidet es
keinen Zweifel, daß anderen Personen als dem Bräutigam, z. B. den Ge-
hilfen und Geführten desselben (den ,,Kranzelherren" unserer Sitte) die
sexuelle Verfügung über die Braut voll eingeräumt wird.S.
235
Erklärungsversuch beruft sich denn auch auf die Blutscheu
der Primitiven, die das Blut für den Sitz des Lebens halten.
Dieses Bluttabu ist durch vielfache Vorschriften, die mit
der Sexualität nichts zu tun haben, erwiesen, es hängt-
offen bar mit dem Verbote, nicht zu morden, zusammen und bildet
eine Schutzwehr gegen den ursprünglichen Blutdurst, die
Mordlust des Urmenschen. Bei dieser Auffassung wird das
Tabu der Virginität mit dem fast ausnahmslos eingehaltenen
Tabu der Menstruation zusammengebracht. Der Primitive
kann das rätselhafte Phänomen des blutigen Monatsflusses
nicht von sadistischen Vorstellungen ferne halten. Die Men-
struation, zumal die erste, dentet er als den Biß eines geister-
haften Tieres, vielleicht als Zeichen des sexuellen Verkehrs
mit diesem Geist. Gelegentlich gestattet ein Bericht, diesen
Geist als den eines Ahnen zu erkennen, und dann verstehen
wir in Anlehnung an andere Einsichten*), daß das menstruie-
rende Mädchen als Eigentum dieses Ahnengeistes tabu ist.Von anderer Seite werden wir aber gewarnt, den Ein-
fluß eines Moments wie die Blutscheu nicht zu überschätzen.
Diese hat es doch nicht vermocht, Gebräuche wie die Be-
schneidung der Knaben und die noch grausamere der Mäd-
chen (Exzision der Klitoris und der kleinen Labien), die
zum Teile bei den nämlichen Völkern geübt werden, zu unter-
drücken oder die Geltung von anderem Zeremoniell, bei dem
Blut vergossen wird, aufzuheben. Es wäre also auch nicht
zu verwundern, wenn sie bei der ersten Kohabitation zu
Gunsten des Ehemannes überwunden würde.Eine zweite Erklärung sieht gleichfalls vom Sexuellen
ab, greift aber viel weiter ins Allgemeine aus. Sie führt an,
daß der Primitive die Beute einer beständig lauernden*)Siehe Totem und Tabu, 1913.
S.
236
Anbereitschaft ist, ganz ähnlich, wie wir es in der psycho-
analytischen Neurosenlehre vom Angstneurotiker behaupten.
Diese Angstbereitschaft wird sich am stärksten bei allen
Gelegenheiten zeigen, die irgendwie vom Gewohnten ab-
weichen, die etwas Neues, Unerwartetes, Unverstandenes,
Unheimliches mit sich bringen. Daher stammt auch
das weit in die späteren Religionen hineinreichende Ze-
remoniell, das mit dem Beginne jeder neuen Verrichtung,
dem Anfange jedes Zeitabschnittes, dem Erstlingsertrag von
Mensch, Tier und Frucht verknüpft ist. Die Gefahren, von
denen sich der Angstliche bedroht glaubt, treten niemals
stärker in seiner Erwartung auf als zu Beginn der gefahr-
vollen Situation, und dann ist es auch allein zweckmäßig,
sich gegen sie zu schützen. Der erste Sexualverkehr in der
Ehe hat nach seiner Bedeutung gewiß einen Anspruch dar-
auf, von diesen Vorsichtsmaßregeln eingeleitet zu werden.
Die beiden Erklärungsversuche, der aus der Blutscheu und
der aus der Erstlingsangst, wiedersprechen einander nicht,
verstärken einander vielmehr. Der erste Sexualverkehr ist
gewiß ein bedenklicher Akt, um so mehr, wenn bei ihm Blut
fließen muß.Eine dritte Erklärung – es ist die von Crawley be-
vorzugte – macht darauf aufmerksam, daß das Tabu der
Virginität in einen großen, das ganze Sexualleben umfassen-
den Zusammenhang gehört. Nicht nur der erste Koitus mit
dem Weibe ist tabu, sondern der Sexualverkehr überhaupt;
beinahe könnte man sagen, das Weib sei im ganzen tabu.
Das Weib ist nicht nur tabu in den besonderen, aus seinem
Geschlechtsleben erfolgenden Situationen der Menstruation,
der Schwangerschaft, der Entbindung und des Kindbetts, auch
außerhalb derselben unterliegt der Verkehr mit dem Weibe soS.
237
ernsthaften und so reichlichen Einschränkungen, daß wir allen
Grund haben, die angebliche Sexualfreiheit der Wilden zu be-
zweifeln. Es ist richtig, daß die Sexualität der Primitiven bei
bestimmten Anlässen sich über alle Hemmungen hinaussetzt;
gewöhnlich aber scheint sie stärker durch Verbote eingeschnürt
als auf höheren Kulturstufen. Sowie der Mann etwas Be-
sonderes unternimmt, eine Expedition, eine Jagd, einen Kriegs-
zug, muß er sich vom Weibe, zumal vom Sexualverkehr mit
dem Weibe fernhalten; es würde sonst seine Kraft lähmen
und ihm Mißerfolg bringen. Auch in den Gebräuchen des
täglichen Lebens ist ein Streben nach dem Auseinanderhalten
der Geschlechter unverkennbar. Weiber leben mit Weibern,
Männer mit Männern zusammen; ein Familienleben in un-
serem Sinne soll es bei vielen primitiven Stämmen kaum
geben. Die Trennung geht mitunter so weit, daß das eine
Geschlecht die persönlichen Namen des anderen Geschlechts
nicht aussprechen darf, daß die Frauen eine Sprache mit
besonderem Wortschatze entwickeln. Das sexuelle Bedürfnis
darf diese Trennungsschranken immer wieder von neuem durch-
brechen, aber bei manchen Stämmen müssen selbst die Zu-
sammenkünfte der Ehegatten außerhalb des Hauses und im
Geheimen stattfinden.Wo der Primitive ein Tabu hingesetzt hat, da fürchtet
er eine Gefahr, und es ist nicht abzuweisen, daß sich in all
diesen Vermeidungsvorschriften eine prinzipielle Scheu vor
dem Weibe äußert. Vielleicht ist diese Scheu darin begründet,
daß das Weib anders ist als der Mann, ewig unverständlich
und geheimnisvoll, fremdartig und darum feindselig erscheint.
Der Mann fürchtet, vom Weibe geschwächt, mit dessen Weib-
lichkeit angesteckt zu werden und sich dann untüchtig zu
zeigen. Die erschlaffende, Spannungen lösende Wirkung desS.
238
Koitus mag für diese Befürchtung vorbildlich sein, und die
Wahrnehmung des Einflusses, den das Weib durch den Ge -
schlechtsverkehr auf den Mann gewinnt, die Rücksicht, die
es sich dadurch erzwingt, die Ausbreitung dieser Angst recht-
fertigen. An all dem ist nichts, was veraltet wäre, was nicht
unter uns weiter lebte.Viele Beobachter der hente lebenden Primitiven haben
das Urteil gefällt, daß deren Liebesstreben verhältnismäßig
schwach sei und niemals die Intensitäten erreiche, die wir
bei der Kulturmenschheit zu finden gewohnt sind. Andere
haben dieser Schätzung widersprochen, aber jedenfalls zeu-
gen die aufgezählten Tabugebräuche von der Existenz einer
Macht, die sich der Liebe widersetzt, indem sie das Weib
als fremd und feindselig ablehnt.In Ausdrücken, welche sich nur wenig von der gebräuch -
lichen Terminologie der Psychoanalyse unterscheiden, legt
Crawley dar, daß jedes Individuum sich durch ein „taboo
of personal isolation“ von den anderen absondert, und daß
gerade die kleinen Unterschiede bei sonstiger Ähnlichkeit die
Gefühle von Fremdheit und Feindseligkeit zwischen ihnen
begründen. Es wäre verlockend, dieser Idee nachzugehen und
aus diesem „Narzißmus der kleinen Unterschiede“ die Feind-
seligkeit abzuleiten, die wir in allen menschlichen Beziehungen
erfolgreich gegen die Gefühle von Zusammengehörigkeit strei-
ten und das Gebot der allgemeinen Menschenliebe überwältigen
sehen. Von der Begründung der narzißtischen, reichlich mit
Geringschätzung versetzten Ablehnung des Weibes durch den
Mann glaubt die Psychoanalyse ein Hauptstück erraten zu
haben, indem sie auf den Kastrationskomplex und dessen Ein-
fluß auf die Beurteilung des Weibes verweist.S.
239
Wir merken indes, daß wir mit diesen letzten Erwägun-
gen weit über unser Thema hinausgegriffen haben. Das all-
gemeine Tabu des Weibes wirft kein Licht auf die besonderen
Vorschriften für den ersten Sexualakt mit dem jungfräulichen
Individuum. Hier bleiben wir auf die beiden ersten Erklärun-
gen der Blutscheu und der Erstlingsscheu angewiesen, und
selbst von diesen müßten wir aussagen, daß sie den Kern
des in Rede stehenden Tabugebotes nicht treffen. Diesem
liegt ganz offenbar die Absicht zu Grunde, gerade dem
späteren Ehemanne etwas zu versagen oder zu
ersparen, was von dem ersten Sexualakt nicht loszulösen
ist, wiewohl sich nach unserer eingangs gemachten Bemer-
kung von dieser selben Beziehung eine besondere Bindung
des Weibes an diesen einen Mann ableiten müßte.Es ist diesmal nicht unsere Aufgabe, die Herkunft und
letzte Bedeutung der Tabuvorschriften zu erörtern. Ich habe
dies in meinem Buche „Totem und Tabu“ getan, dort die
Bedingung einer ursprünglichen Ambivalenz für das Tabu
gewürdigt und die Entstehung desselben aus den vorzeit-
lichen Vorgängen verfochten, welche zur Gründung der
menschlichen Familie geführt haben. Aus den heute beobach-
teten Tabugebräuchen der Primitiven läßt sich eine solche
Vorbedeutung nicht mehr erkennen. Wir vergessen bei sol-
cher Forderung allzu leicht, daß auch die primitivsten Völker
in einer von der urzeitlichen weit entfernten Kultur leben,
die zeitlich ebenso alt ist wie die unsrige, und gleichfalls
einer späteren, wenn auch andersartigen Entwicklungsstufe
entspricht.Wir finden heute das Tabu bei den Primitiven bereits
zu einem kunstvollen System ausgesponnen, ganz wie es un-
sere Neurotiker in ihren Phobien entwickeln, und alte MotiveS.
240
durch neuere, harmonisch zusammenstimmende, ersetzt. Mit
Hinwegsetzung über jene genetischen Probleme wollen wir
darum auf die eine Einsicht zurückgreifen, daß der Primitive
dort ein Tabu anbringt, wo er eine Gefahr befürchtet. Diese
Gefahr ist, allgemein gefaßt, eine psychische, denn der Primi-
tive ist nicht dazu gedrängt, hier zwei Unterscheidungen
vorzunehmen, die uns als unausweichlich erscheinen. Er
sondert die materielle Gefahr nicht von der psychischen und
die reale nicht von der imaginären. In seiner konsequent
durchgeführten animistischen Weltauffassung stammt ja jede
Gefahr aus der feindseligen Absicht eines gleich ihm be-
seelten Wesens, sowohl die Gefahr, die von einer Naturkraft
droht, wie die von anderen Menschen oder Tieren. Anderseits
aber ist er gewohnt, seine eigenen inneren Regungen von
Feindseligkeit in die Außenwelt zu projizieren, sie also den
Objekten, die er als unliebsam oder auch nur als fremd
empfindet, zuzuschieben. Als Quelle solcher Gefahren wird
nun auch das Weib erkannt und der erste Sexualakt mit
dem Weibe als eine besonders intensive Gefahr ausgezeichnet.Ich glaube nun, wir werden einigen Aufschluß darüber
erhalten, welches diese gesteigerte Gefahr ist, und warum
sie gerade den späteren Ehemann bedroht, wenn wir das
Verhalten der heute lebenden Frauen unserer Kulturstufe
unter den gleichen Verhältnissen genauer untersuchen. Ich
stelle als das Ergebnis dieser Untersuchung voran, daß eine
solche Gefahr wirklich besteht, so daß der Primitive sich
mit dem Tabu der Virginität gegen eine richtig geahnte, wenn
auch psychische Gefahr verteidigt.Wir schätzen es als die normale Reaktion ein, daß die
Frau nach dem Koitus auf der Höhe der Befriedigung den
Mann umarmend an sich preßt, sehen darin einen AusdruckS.
241
ihrer Dankbarkeit und eine Zusage dauernder Hörigkeit. Wir
wissen aber, es ist keineswegs die Regel, daß auch der erste
Verkehr dies Benehmen zur Folge hätte; sehr häufig be-
deutet er bloß eine Enttäuschung für das Weib, das kühl
und unbefriedigt bleibt, und es bedarf gewöhnlich längerer
Zeit und häufigerer Wiederholung des Sexualaktes, bis sich
bei diesem die Befriedigung auch für das Weib einstellt.
Von diesen Fällen bloß anfänglicher und bald vorübergehen-
der Frigidität führt eine stetige Reihe bis zu dem unerfreu -
lichen Ergebnis einer stetig anhaltenden Frigidität, die
durch keine zärtliche Bemühung des Mannes überwunden
wird. Ich glaube, diese Frigidität des Weibes ist noch nicht
genügend verstanden und fordert bis auf jene Fälle, die
man der ungenügenden Potenz des Mannes zur Last legen
muß, die Aufklärung, womöglich durch ihr nahe stehende
Erscheinungen, heraus.Die so häufigen Versuche, vor dem ersten Sexualverkehr
die Flucht zu ergreifen, möchte ich hier nicht heranziehen,
weil sie mehrdeutig und in erster Linie, wenn auch nicht
durchaus, als Ausdruck des allgemeinen weiblichen Abwehr-
bestrebens aufzufassen sind. Dagegen glaube ich, daß ge-
wisse pathologische Fälle ein Licht auf das Rätsel der weib-
lichen Frigidität werfen, in denen die Frau nach dem ersten,
ja nach jedem neuerlichen Verkehr ihre Feindseligkeit gegen
den Mann unverhohlen zum Ausdruck bringt, indem sie ihn
beschimpft, die Hand gegen ihn erhebt oder ihn tatsächlich
schlägt. In einem ausgezeichneten Falle dieser Art, den
ich einer eingehenden Analyse unterziehen konnte, geschah
dies, obwohl die Frau den Mann sehr liebte, den Koitus
selbst zu fordern pflegte und in ihm unverkennbar hohe
Befriedigung fand. Ich meine, daß diese sonderbare konträreS.
242
Reaktion der Erfolg der nämlichen Regungen ist, die sich
für gewöhnlich nur als Frigidität äußern können, d. h. im
stande sind, die zärtliche Reaktion aufzuhalten, ohne sich
dabei selbst zur Geltung zu bringen. In dem pathologischen
Falle ist sozusagen in seine beiden Komponenten zerlegt,
was sich bei der weit häufigeren Frigidität zu einer Hem-
mungswirkung vereinigt, ganz ähnlich, wie wir es an den
sogenannten „zweizeitigen“ Symptomen der Zwangsneurose
längst erkannt haben. Die Gefahr, welche so durch die De-
floration des Weibes rege gemacht wird, bestünde darin,
sich die Feindseligkeit desselben zuzuziehen, und gerade der
spätere Mann hätte allen Grund, sich solcher Feindschaft
zu entziehen.Die Analyse läßt nun ohne Schwierigkeit erraten, welche
Regungen des Weibes am Zustandekommen jenes paradoxen
Verhaltens beteiligt sind, in dem ich die Aufklärung der
Frigidität zu finden erwarte. Der erste Koitus macht eine
Reihe solcher Regungen mobil, die für die erwünschte weib-
liche Einstellung unverwendbar sind, von denen einige sich
auch bei späterem Verkehr nicht zu wiederholen brauchen.
In erster Linie wird man hier an den Schmerz denken, wel-
cher der Jungfrau bei der Defloration zugefügt wird, ja viel-
leicht geneigt sein, dies Moment für entscheidend zu halten
und von der Suche nach anderen abzustehen. Man kann aber
eine solche Bedeutung nicht gut dem Schmerze zuschreiben,
muß vielmehr an seine Stelle die narzißtische Kränkung
setzen, die aus der Zerstörung eines Organes erwächst, und
die in dem Wissen um die Herabsetzung des sexuellen Wertes
der Deflorierten selbst eine rationelle Vertretung findet. Die
Hochzeitsgebräuche der Primitiven enthalten aber eine War-
nung vor solcher Überschätzung. Wir haben gehört, daß inS.
243
manchen Fällen das Zeremoniell ein zweizeitiges ist, nach
der (mit Hand oder Instrument) durchgeführten Zerreißung
des Hymens folgt noch ein offizieller Koitus oder Schein-
verkehr mit den Vertretern des Mannes, und dies beweist
uns, daß der Sinn der Tabuvorschrift durch die Vermeidung
der anatomischen Defloration nicht erfüllt ist, daß dem Ehe-
mann noch etwas anderes erspart werden soll als die Re-
aktion der Frau auf die schmerzhafte Verletzung.Wir finden als weiteren Grund für die Enttäuschung
durch den ersten Koitus, daß für ihn, beim Kulturweibe we-
nigstens, Erwartung und Erfüllung nicht zusammenstimmen
können. Der Sexualverkehr war bisher aufs stärkste mit dem
Verbot assoziiert, der legale und erlaubte Verkehr wird darum
nicht als das nämliche empfunden. Wie innig diese Ver-
knüpfung sein kann, erhellt in beinahe komischer Weise aus
dem Bestreben so vieler Bräute, die neuen Liebesbeziehungen
vor allen Fremden, ja selbst vor den Eltern geheim zu halten,
wo eine wirkliche Nötigung dazu nicht besteht und ein Ein-
spruch nicht zu erwarten ist. Die Mädchen sagen es offen,
daß ihre Liebe an Wert für sie verliert, wenn andere davon
wissen. Gelegentlich kann dies Motiv übermächtig werden
und die Entwicklung der Liebesfähigkeit in der Ehe über-
haupt verhindern. Die Frau findet ihre zärtliche Empfind-
lichkeit erst in einem unerlaubten, geheim zu haltenden Ver-
hältnis wieder, wo sie sich allein des eigenen unbeeinflußten
Willens sicher weiß,Indes, auch dieses Motiv führt nicht tief genug; außer-
dem läßt es, an Kulturbedingungen gebunden, eine gute Be-
ziehung zu den Zuständen der Primitiven vermissen. Um so
bedeutungsvoller ist das nächste, auf der Entwicklungs-
geschichte der Libido fußende Moment. Es ist uns durchS.
244
die Bemühungen der Analyse bekannt geworden, wie-
regel mäßig und wie mächtig die frühesten Unterbringungen der
Libido sind. Es handelt sich dabei um festgehaltene Sexual-
wünsche der Kindheit, beim Weibe zumeist um Fixierung
der Libido an den Vater oder an den ihn ersetzenden Bruder,
Wünsche, die häufig genug auf anderes als den Koitus ge-
richtet waren oder ihn nur als unscharf erkanntes Ziel ein-
schlossen. Der Ehemann ist sozusagen immer nur ein Er-
satzmann, niemals der Richtige; den ersten Satz auf die
Liebesfähigkeit der Frau hat ein anderer, in typischen Fällen
der Vater, er höchstens den zweiten. Es kommt nun darauf
an, wie intensiv diese Fixierung ist und wie zähe sie fest-
gehalten wird, damit der Ersatzmann als unbefriedigend ab-
gelehnt werde. Die Frigidität steht somit unter den gene-
tischen Bedingungen der Neurose. Je mächtiger das psy-
chische Element im Sexualleben der Frau ist, desto wider-
standsfähiger wird sich ihre Libidoverteilung gegen die Er-
schütterung des ersten Sexualaktes erweisen, desto weniger
überwältigend wird ihre körperliche Besitznahme wirken
können. Die Frigidität mag sich dann als neurotische Hem-
mung festsetzen oder den Boden für die Entwicklung anderer
Neurosen abgeben, und auch nur mäßige Herabsetzungen der
männlichen Potenz kommen dabei als Helfer sehr in Betracht.Dem Motiv des früheren Sexualwunsches scheint die
Sitte der Primitiven Rechnung zu tragen, welche die Deflo-
ration einem Ältesten, Priester, heiligen Mann, also einem
Vaterersatz (s. o.), überträgt. Von hier aus scheint mir ein
gerader Weg zum vielbestrittenen Ius primae noctis des mit-
telalterlichen Gutsherrn zu führen. A. J. Storfer*) hat dieselbe*)Zur Sonderstellung des Vatermordes, 1911. (Schriften zur ange-
wandten Seelenkunde, XII.)S.
245
Auffassung vertreten, überdies die weitverbreitete In-
stitution der „Tobiasehe“ (der Sitte der Enthaltsamkeit in
den ersten drei Nächten) als eine Anerkennung der Vorrechte
des Patriarchen gedeutet, wie vor ihm bereits C. G. Jung.*)
Es entspricht dann nur unserer Erwartung, wenn wir unter
den mit der Defloration betrauten Vatersurrogaten auch das
Götterbild finden. In manchen Gegenden von Indien mußte
die Neuvermählte das Hymen dem hölzernen Lingam opfern,
und nach dem Berichte des hl. Augustinus bestand im römi-
schen Heiratszeremoniell (seiner Zeit?) dieselbe Sitte mit der
Abschwächung, daß sich die junge Frau auf den riesigen
Steinphallus des Priapus nur zu setzen brauchte.**)In noch tiefere Schichten greift ein anderes Motiv zu-
rück, welches nachweisbar an der paradoxen Reaktion ge-
gen den Mann die Hauptschuld trägt, und dessen Einfluß
sich nach meiner Meinung noch in der Frigidität der Frau
äußert. Durch den ersten Koitus werden beim Weibe noch
andere alte Regungen als die beschriebenen aktiviert, die der
weiblichen Funktion und Rolle überhaupt widerstreben.Wir wissen aus der Analyse vieler neurotischer Frauen,
daß sie ein frühes Stadium durchmachen, in dem sie den
Bruder um das Zeichen der Männlichkeit beneiden und sich
wegen seines Fehlens (eigentlich seiner Verkleinerung) be-
nachteiligt und zurückgesetzt fühlen. Wir ordnen diesen
„Penisneid“ dem „Kastrationskomplex“ ein. Wenn man unter
„männlich“ das Männlichseinwollen mitversteht, so paßt*)Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen. (Jahrbuch für Psychoanalyse, I, 1909.)
**)Ploß und Bartels, Das Weib I, XII, und Dulaure, Des Divinités génératrices. Paris 1885 (réimprimé sur l'édition de (1823),
S.
246
auf dieses Verhalten die Bezeichnung „männlicher Protest“,
die Alf. Adler geprägt hat, um diesen Faktor zum Träger
der Neurose überhaupt zu proklamieren. In dieser Phase
machen die Mädchen aus ihrem Neid und der daraus abge -
leiteten Feindseligkeit gegen den begünstigten Bruder oft
kein Hehl: sie versuchen es auch, aufrecht stehend wie
der Bruder zu urinieren, um ihre angebliche Gleichberech-
tigung zu vertreten. In dem bereits erwähnten Falle von
uneingeschränkter Aggression gegen den sonst geliebten Mann
nach dem Koitus konnte ich feststellen, daß diese Phase
vor der Objektwahl bestanden hatte. Erst später wandte sich
die Libido des kleinen Mädchens dem Vater zu, und dann
wünschte sie sich anstatt des Penis – ein Kind.*)Ich würde nicht überrascht sein, wenn sich in anderen
Fällen die Zeitfolge dieser Regungen umgekehrt fände und
dies Stück des Kastrationskomplexes erst nach erfolgter
Objektwahl zur Wirkung käme. Aber die männliche Phase
des Weibes, in der es den Knaben um den Penis beneidet,
ist jedenfalls die entwicklungsgeschichtlich frühere und steht
dem ursprünglichen Narzißmus näher als der Objektliebe.Vor einiger Zeit gab mir ein Zufall Gelegenheit, den
Traum einer Neuvermählten zu erfassen, der sich als Reaktion
auf ihre Entjungferung erkennen ließ. Er verriet ohne Zwang
den Wunsch des Weibes, den jungen Ehemann zu kastrieren
und seinen Penis bei sich zu behalten. Es war gewiß auch
Raum für die harmlosere Deutung, es sei die Verlängerung
und Wiederholung des Aktes gewünscht worden, allein
manche Einzelheiten des Traumes gingen über diesen Sinn
hinaus, und der Charakter wie das spätere Benehmen der*)Siehe: Über Triebumsetzungen insbesondere der Analerotik. Diese
Zeitschrift IV, 3, 1916/17.S.
247
Träumerin legten Zeugnis für die ernstere Auffassung ab.
Hinter diesem Penisneid kommt nun die feindselige Erbit-
terung des Weibes gegen den Mann zum Vorschein, die in
den Beziehungen der Geschlechter niemals ganz zu ver-
kennen ist, und von der in den Bestrebungen und literari-
schen Produktionen der „Emanzipierten“ die deutlichsten An-
zeichen vorliegen. Diese Feindseligkeit des Weibes führt
Ferenczi* – ich weiß nicht, ob als erster – in einer
paläobiologischen Spekulation bis auf die Epoche der Diffe-
renzierung der Geschlechter zurück. Anfänglich, meint er,
fand die Kopulation zwischen zwei gleichartigen Individuen
statt, von denen sich aber eines zum stärkeren entwickelte
und das schwächere zwang, die geschlechtliche Vereinigung
zu erdulden. Die Erbitterung über dies Unterlegensein setze
sich noch in der heutigen Anlage des Weibes fort. Ich halte
es für vorwurfsfrei, sich solcher Spekulationen zu bedienen,
solange man es vermeidet, sie zu überwerten.Nach dieser Aufzählung der Motive für die in der
Frigidität spurweise fortgesetzte paradoxe Reaktion des
Weibes auf die Defloration, darf man es zusammenfassend
aussprechen, daß sich die unfertige Sexualität des
Weibes an dem Manne entlädt, der sie zuerst den Sexualakt
kennen lehrt. Dann ist aber das Tabu der Virginität sinn reich-
genug, und wir verstehen die Vorschrift, welche ge-
rade den Mann solche Gefahren vermeiden heißt, der in ein
dauerndes Zusammenleben mit dieser Frau eintreten soll.
Auf höheren Kulturstufen ist die Schätzung dieser Gefahr
gegen die Verheißung der Hörigkeit und gewiß auch gegen
andere Motive und Verlockungen zurückgetreten; die Vir-
ginität wird als ein Gut betrachtet, auf welches der Mann
nicht verzichten soll. Aber die Analyse der EhestörungenS.
248
lehrt, daß die Motive, welche das Weib dazu nötigen wollen,
Rache für ihre Defloration zu nehmen, auch im Seelenleben
des Kulturweibes nicht ganz erloschen sind. Ich meine, es
muß dem Beobachter auffallen, in einer wie ungewöhnlich
großen Anzahl von Fällen das Weib in einer ersten Ehe
frigid bleibt und sich unglücklich fühlt, während sie nach
Lösung dieser Ehe ihrem zweiten Manne eine zärtliche und
beglückende Frau wird. Die archaische Reaktion hat sich
sozusagen am ersten Objekt erschöpft.Das Tabu der Virginität ist aber auch sonst in unserem
Kulturleben nicht untergegangen. Die Volksseele weiß von
ihm und Dichter haben sich gelegentlich dieses Stoffes be-
dient. Anzengruber stellt in einer Komödie dar, wie sich
ein einfältiger Bauernbursche abhalten läßt, die ihm zuge-
dachte Braut zu heiraten, weil sie „a Dirn' is, was ihrem
ersten ’s Leben kost“. Er willigt darum ein, daß sie einen
anderen heirate, und will sie dann als Wittfrau nehmen, wo
sie ungefährlich ist. Der Titel des Stückes: „Das Jungfern-
gift„“ erinnert daran, daß Schlangenbändiger die Giftschlange
vorerst in ein Tüchlein beißen lassen, um sie dann unge-
fährdet zu handhaben.*)*)Eine meisterhaft knappe Erzählung von A. Schnitzler („Das
Schicksal des Freiherrn v. Leisenbogh“) verdient trotz der Abweichung
in der Situation hier angereiht zu werden. Der durch einen Unfall ver-
unglückte Liebhaber einer in der Liebe vielerfahrenen Schauspielerin hat
ihr gleichsam eine neue Virginität geschafft, indem er den Todesfluch
über den Mann ausspricht, der sie zuerst nach ihm besitzen wird. Das
mit diesem Tabu belegte Weib getraut sich auch eine Weile des Liebes-
verkehres nicht. Nachdem sie sich aber in einen Sänger verliebt hat,
greift sie zur Auskunft, vorher dem Freiherrn v. Leisenbogh eine Nacht
zu schenken, der sich seit Jahren erfolglos um sie bemüht. An ihm
erfüllt sich auch der Fluch; er wird vom Schlag getroffen, sobald er
das Motiv seines unverhofften Liebesglückes erfährt.S.
249
Das Tabu der Virginität und ein Stück seiner Motivie-
rung hat seine mächtigste Darstellung in einer bekannten
dramatischen Gestalt gefunden, in der Judith in Hebbels
Tragödie „Judith und Holofernes“. Judith ist eine jener
Frauen, deren Virginität durch ein Tabu geschützt ist. Ihr
erster Mann wurde in der Brautnacht durch eine rätselhafte
Angst gelähmt und wagte es nie mehr, sie zu berühren.
„Meine Schönheit ist die der Tollkirsche,“ sagt sie. „Ihr
Genuß bringt Wahnsinn und Tod.“ Als der assyrische Feld-
herr ihre Stadt bedrängt, faßt sie den Plan, ihn durch ihre
Schönheit zu verführen und zu verderben, verwendet so ein
patriotisches Motiv für Verdeckung eines sexuellen. Nach
der Defloration durch den gewaltigen, sich seiner Stärke und
Rücksichtslosigkeit rühmenden Mann findet sie in ihrer Em-
pörung die Kraft, ihm den Kopf abzuschlagen, und wird so
zur Befreierin ihres Volkes. Köpfen ist uns als symbolischer
Ersatz für Kastrieren wohlbekannt; danach ist Judith das
Weib, das den Mann kastriert, von dem sie defloriert wurde,
wie es auch der von mir berichtete Traum einer Neuvermählten
wollte. Hebbel hat die patriotische Erzählung aus den
Apokryphen des Alten Testaments in klarer Absichtlichkeit
sexualisiert, denn dort kann Judith nach ihrer Rückkehr
rühmen, daß sie nicht verunreinigt worden ist, auch fehlt
im Text der Bibel jeder Hinweis auf ihre unheimliche Hoch-
zeitsnacht. Wahrscheinlich hat er aber mit dem Fein-
gefühl des Dichters das uralte Motiv verspürt, das in jene
tendenziöse Erzählung eingegangen war, und dem Stoff nur
seinen früheren Gehalt wiedergegeben.J. Sadger hat in einer trefflichen Analyse ausgeführt,
wie Hebbel durch seinen eigenen Elternkomplex in seiner
Stoffwahl bestimmt wurde, und wie er dazu kam, so regelmäßigS.
250
mäßig im Kampfe der Geschlechter für das Weib Partei zu
nehmen und sich in dessen verborgenste Seelenregungen ein-
zufühlen.*) Er zitiert auch die Motivierung, die der Dichter
selbst für die von ihm eingeführte Abänderung des Stoffes
gegeben hat, und findet sie mit Recht gekünstelt und wie
dazu bestimmt, etwas dem Dichter selbst Unbewußtes nur
äußerlich zu rechtfertigen und im Grunde zu verdecken. Sadgers
Erklärung, warum die nach der biblischen Erzählung
verwitwete Judith zur jungfräulichen Witwe werden mußte,
will ich nicht antasten. Er weist auf die Absicht der kind-
lichen Phantasie hin, den sexuellen Verkehr der Eltern zu
verleugnen und die Mutter zur unberührten Jungfrau zu
machen. Aber ich setze fort: Nachdem der Dichter die
Jungfräulichkeit seiner Heldin festgelegt hatte, verweilte
seine nachfühlende Phantasie bei der feindseligen Reaktion,
die durch die Verletzung der Virginität ausgelöst wird.Wir dürfen also abschließend sagen: Die Defloration
hat nicht nur die eine kulturelle Folge, das Weib dauernd
an den Mann zu fesseln; sie entfesselt auch eine archaische
Reaktion von Feindseligkeit gegen den Mann, welche patholo-
gische Formen annehmen kann, die sich häufig genug durch
Hemmungserscheinungen im Liebesleben der Ehe äußern,
und der man es zuschreiben darf, daß zweite Ehen so oft
besser geraten als die ersten. Das befremdende Tabu der
Virginität, die Scheu, mit welcher bei den Primitiven der
Ehemann der Defloration aus dem Wege geht, finden in
dieser feindseligen Reaktion ihre volle Rechtfertigung.Es ist nun interessant, daß man als Analytiker Frauen
begegnen kann, bei denen die entgegengesetzten Reaktionen
von Hörigkeit und Feindseligkeit beide zum Ausdruck*)Von der Pathographie zur Psychographie. Imago, I. Bd., 1912.
S.
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gekommen und in inniger Verknüpfung miteinander geblieben
sind. Es gibt solche Frauen, die mit ihren Männern völlig
zerfallen scheinen und doch nur vergebliche Bemühungen
machen können, sich von ihnen zu lösen. So oft sie es ver-
suchen, ihre Liebe einem anderen Manne zuzuwenden, tritt
das Bild des ersten, doch nicht mehr geliebten, hemmend
dazwischen. Die Analyse lehrt dann, daß diese Frauen aller-
dings noch in Hörigkeit an ihren ersten Männern hängen,
aber nicht mehr aus Zärtlichkeit. Sie kommen von ihnen
nicht frei, weil sie ihre Rache an ihnen nicht vollendet, in
ausgeprägten Fällen die rachsüchtige Regung sich nicht
einmal zum Bewußtsein gebracht haben.
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