Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose 1924-004/1925
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    Der Realitätsverlust bei Neurose
    und Psychose

    Ich habe kürzlich1 einen der unterscheidenden Züge zwischen
    Neurose und Psychose dahin bestimmt, daß bei ersterer das Ich
    in Abhängigkeit von der Realität ein Stück des Es (Trieblebens)
    unterdrückt, während sich dasselbe Ich bei der Psychose im Dienste
    des Es von einem Stück der Realität zurückzieht. Für die Neu-
    rose wäre also die Übermacht des Realeinflusses, für die Psychose
    die des Es maßgebend. Der Realitätsverlust wäre für die Psychose
    von vorneherein gegeben; für die Neurose, sollte man meinen,
    wäre er vermieden.

    Das stimmt nun aber gar nicht zur Erfahrung, die wir alle
    machen können, daß jede Neurose das Verhältnis des Kranken zur
    Realität irgendwie stört, daß sie ihm ein Mittel ist, sich von ihr
    zurückzuziehen und in ihren schweren Ausbildungen direkt eine
    Flucht aus dem realen Leben bedeutet. Dieser Widerspruch erscheint
    bedenklich, allein er ist leicht zu beseitigen und seine Aufklärung
    wird unser Verständnis der Neurose nur gefördert haben.

    Der Widerspruch besteht nämlich nur so lange, als wir die
    Eingangssituation der Neurose ins Auge fassen, in welcher das
    Ich im Dienst der Realität die Verdrängung einer Triebregung
    vornimmt. Das ist aber noch nicht die Neurose selbst. Diese
    besteht vielmehr in den Vorgängen, welche dem geschädigten

    1) Neurose und Psychose. Internat. Zschr. f. PsA. X (1924), Heft 1. [Ges.
    Schriften, Bd. V, S. 418ff].

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    Anteil des Es eine Entschädigung bringen, also in der Reaktion
    gegen die Verdrängung und im Mißglücken derselben. Die
    Lockerung des Verhältnisses zur Realität ist dann die Folge dieses
    zweiten Schrittes in der Neurosenbildung und es sollte uns nicht
    verwundern, wenn die Detailuntersuchung zeigte, daß der Reali-
    tätsverlust gerade jenes Stück der Realität betrifft, über dessen
    Anforderung die Triebverdrängung erfolgte.

    Die Charakteristik der Neurose als Erfolg einer mißglückten
    Verdrängung ist nichts Neues. Wir haben es immer so gesagt
    und nur infolge des neuen Zusammenhanges war es notwendig,
    es zu wiederholen.

    Das nämliche Bedenken wird übrigens in besonders eindrucks-
    voller Weise wiederauftreten, wenn es sich um einen Fall von
    Neurose handelt, dessen Veranlassung („die traumatische Szene“)
    bekannt ist und an dem man sehen kann, wie sich die Person von
    einem solchen Erlebnis abwendet und es der Amnesie überantwortet.
    Ich will zum Beispiel auf einen vor langen Jahren analysierten Fall
    zurückgreifen,1 in dem das in ihren Schwager verliebte Mädchen
    am Totenbett der Schwester durch die Idee erschüttert wird:
    Nun ist er frei und kann dich heiraten. Diese Szene wird sofort
    vergessen und damit der Regressionsvorgang eingeleitet, der zu
    den hysterischen Schmerzen führt. Es ist aber gerade hier lehr-
    reich zu sehen, auf welchem Wege die Neurose den Konflikt zu
    erledigen versucht. Sie entwertet die reale Veränderung, indem
    sie den in Betracht kommenden Triebanspruch, also die Liebe
    zum Schwager, verdrängt. Die psychotische Reaktion wäre gewesen,
    die Tatsache des Todes der Schwester zu verleugnen.

    Man könnte nun erwarten, daß sich bei der Entstehung der
    Psychose etwas dem Vorgang bei der Neurose Analoges ereignet,
    natürlich zwischen anderen Instanzen. Also daß auch bei der
    Psychose zwei Schritte deutlich werden, von denen der erste das
    Ich diesmal von der Realität losreißt, der zweite aber den Schaden

    1) In den „Studien über Hysterie“, 1895. [Ges. Schriften, Bd. I.]

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    wieder gutmachen will und nun die Beziehung zur Realität auf
    Kosten des Es wiederherstellt. Wirklich ist auch etwas Analoges
    an der Psychose zu beobachten; es gibt auch hier zwei Schritte,
    von denen der zweite den Charakter der Reparation an sich trägt,
    aber dann weicht die Analogie einer viel weiter gehenden Gleich-
    sinnigkeit der Vorgänge. Der zweite Schritt der Psychose will
    auch den Realitätsverlust ausgleichen, aber nicht auf Kosten einer
    Einschränkung des Es, wie bei Neurose auf Kosten der Real-
    beziehung, sondern auf einem anderen, mehr selbstherrlichen Weg
    durch Schöpfung einer neuen Realität, welche nicht mehr den
    nämlichen Anstoß bietet wie die verlassene. Der zweite Schritt
    wird also bei der Neurose wie bei der Psychose von denselben
    Tendenzen getragen, er dient in beiden Fällen dem Macht-
    bestreben des Es, das sich von der Realität nicht zwingen läßt.
    Neurose wie Psychose sind also beide Ausdruck der Rebellion des
    Es gegen die Außenwelt, seiner Unlust oder, wenn man will,
    seiner Unfähigkeit, sich der realen Not, der 'Ανάγκη, anzupassen.
    Neurose und Psychose unterscheiden sich weit mehr von einander
    in der ersten einleitenden Reaktion als in dem auf sie folgenden
    Reparationsversuch.

    Der anfängliche Unterschied kommt dann im Endergebnis in
    der Art zum Ausdruck, daß bei der Neurose ein Stück der
    Realität fluchtartig vermieden, bei der Psychose aber umgebaut
    wird. Oder: bei der Psychose folgt auf die anfängliche Flucht eine
    aktive Phase des Umbaus, bei der Neurose auf den anfänglichen
    Gehorsam ein nachträglicher Fluchtversuch. Oder noch anders
    ausgedrückt: Die Neurose verleugnet die Realität nicht, sie will
    nur nichts von ihr wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht
    sie zu ersetzen. Normal oder „gesund“ heißen wir ein Verhalten,
    welches bestimmte Züge beider Reaktionen vereinigt, die Realität
    so wenig verleugnet wie die Neurose, sich aber dann wie die
    Psychose um ihre Abänderung bemüht. Dies zweckmäßige,
    normale Verhalten führt natürlich zu einer äußeren Arbeitsleistung

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    an der Außenwelt und begnügt sich nicht wie bei der Psychose
    mit der Herstellung innerer Veränderungen; es ist nicht mehr
    autoplastisch, sondern alloplastisch.

    Die Umarbeitung der Realität geschieht bei der Psychose an
    den psychischen Niederschlägen der bisherigen Beziehungen zu
    ihr, also an den Erinnerungsspuren, Vorstellungen und Urteilen,
    die man bisher von ihr gewonnen hatte und durch welche sie
    im Seelenleben vertreten war. Aber diese Beziehung war nie
    eine abgeschlossene, sie wurde fortlaufend durch neue Wahr-
    nehmungen bereichert und abgeändert. Somit stellt sich auch
    für die Psychose die Aufgabe her, sich solche Wahrnehmungen
    zu verschaffen, wie sie der neuen Realität entsprechen würden,
    was in gründlichster Weise auf dem Wege der Halluzination
    erreicht wird. Wenn die Erinnerungstäuschungen, Wahnbildungen
    und Halluzinationen bei so vielen Formen und Fällen von Psychose
    den peinlichsten Charakter zeigen und mit Angstentwicklung
    verbunden sind, so ist das wohl ein Anzeichen dafür, daß sich
    der ganze Umbildungsprozeß gegen heftig widerstrebende Kräfte
    vollzieht. Man darf sich den Vorgang nach dem uns besser
    bekannten Vorbild der Neurose konstruieren. Hier sehen wir, daß
    jedesmal mit Angst reagiert wird, so oft der verdrängte Trieb
    einen Vorstoß macht, und daß das Ergebnis des Konflikts doch
    nur ein Kompromiß und als Befriedigung unvollkommen ist.
    Wahrscheinlich drängt sich bei der Psychose das abgewiesene
    Stück der Realität immer wieder dem Seelenleben auf, wie bei
    der Neurose der verdrängte Trieb, und darum sind auch die Folgen
    in beiden Fällen die gleichen. Die Erörterung der verschiedenen
    Mechanismen, welche bei den Psychosen die Abwendung von der
    Realität und den Wiederaufbau einer solchen bewerkstelligen sollen,
    so wie des Ausmaßes von Erfolg, das sie erzielen können, ist eine
    noch nicht in Angriff genommene Aufgabe der speziellen Psychiatrie.

    Es ist also eine weitere Analogie zwischen Neurose und
    Psychose, daß bei beiden die Aufgabe, die im zweiten Schritt in

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    Angriff genommen wird, teilweise mißlingt, indem sich der
    verdrängte Trieb keinen vollen Ersatz schaffen kann (Neurose)
    und die Realitätsvertretung sich nicht in die befriedigenden Formen
    umgießen läßt. (Wenigstens nicht bei allen Formen der psychischen
    Erkrankungen.) Aber die Akzente sind in den zwei Fällen anders
    verteilt. Bei der Psychose ruht der Akzent ganz auf dem ersten
    Schritt, der an sich krankhaft ist und nur zu Kranksein führen
    kann, bei der Neurose hingegen auf dem zweiten, dem Mißlingen
    der Verdrängung, während der erste Schritt gelingen kann und
    auch im Rahmen der Gesundheit ungezählte Male gelungen ist,
    wenn auch nicht ganz ohne Kosten zu machen und Anzeichen
    des erforderten psychischen Aufwandes zu hinterlassen. Diese
    Differenzen und vielleicht noch viele andere sind die Folge der
    topischen Verschiedenheit in der Ausgangssituation des pathogenen
    Konflikts, ob das Ich darin seiner Anhänglichkeit an die reale
    Welt oder seiner Abhängigkeit vom Es nachgegeben hat.

    Die Neurose begnügt sich in der Regel damit, das betreffende
    Stück der Realität zu vermeiden und sich gegen das Zusammen-
    treffen mit ihm zu schützen. Der scharfe Unterschied zwischen
    Neurose und Psychose wird aber dadurch abgeschwächt, daß es
    auch bei der Neurose an Versuchen nicht fehlt, die unerwünschte
    Realität durch eine wunschgerechtere zu ersetzen. Die Möglichkeit
    hiezu gibt die Existenz einer Phantasiewelt, eines Gebiets,
    das seinerzeit bei der Einsetzung des Realitätsprinzips von der
    realen Außenwelt abgesondert wurde, seither nach Art einer
    „Schonung“ von den Anforderungen der Lebensnotwendigkeit
    frei gehalten wird und das dem Ich nicht unzugänglich ist, aber
    ihm nur lose anhängt. Aus dieser Phantasiewelt entnimmt die
    Neurose das Material für ihre Wunschneubildungen und findet
    es dort gewöhnlich auf dem Wege der Regression in eine befriedi-
    gendere reale Vorzeit.

    Es ist kaum zweifelhaft, daß die Phantasiewelt bei der Psychose
    die nämliche Rolle spielt, daß sie auch hier die Vorratskammer

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    darstellt, aus der der Stoff oder die Muster für den Aufbau der
    neuen Realität geholt werden. Aber die neue phantastische Außen-
    welt der Psychose will sich an die Stelle der äußeren Realität setzen,
    die der Neurose hingegen lehnt sich wie das Kinderspiel gern
    an ein Stück der Realität an — ein anderes als das, wogegen sie sich
    wehren mußte, — verleiht ihm eine besondere Bedeutung und
    einen geheimen Sinn, den wir nicht immer ganz zutreffend
    einen symbolischen heißen. So kommt für beide, Neurose
    wie Psychose, nicht nur die Frage des Realitätsverlustes,
    sondern auch die eines Realitätsersatzes in Betracht.